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Die Schweiz als Drehscheibe des Rohstoffhandels

Die Schweiz hat sich zu einer der weltweit wichtigsten Handelsplattformen für Rohstoffe entwickelt. Fast die Hälfte des globalen Handels mit Getreide und Ölsaaten sowie ein erheblicher Teil des Rohölgeschäftes werden über Genf abgewickelt, während Zug ein Zentrum des Handels mit Bergbauprodukten ist. Der Rohstoffhandel hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Steigende Rohstoffpreise und eine stetige Zunahme des weltweiten Handelsvolumens haben die Branche in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.



Obschon die Schweiz weder über einen direkten Meerzugang noch über eigene Rohstoffe verfügt, ist das Land im Handel mit mehreren der wichtigsten Rohstoffe weltweit führend. Genf ist neben London der wichtigste Handelsplatz für Erdöl und Erdölprodukte. Namentlich werden rund drei Viertel des russischen Öls in der Rhonestadt abgewickelt. Genf ist auch im Agrarhandel bedeutend, findet dort doch knapp ein Drittel des Welthandels und rund drei Viertel des europäischen Handels mit Getreide und Ölsaaten statt. Auch Zucker ist ein wichtiges Handelsgut, von dem – ex aequo mit London – etwa ein Drittel des Welthandels abgewickelt wird. Im Handel mit Baumwolle beträgt der Anteil der Schweiz rund ein Achtel des Welthandels. Der Handel mit Bergbauprodukten hat seinen Schwerpunkt in Zug, wo natürlich keine Minen, dafür aber Giganten von Bergbauindustrie und Handel ihren Sitz haben. Die beiden in Zug anwesenden Grossfirmen Xstrata und Glencore vollziehen eine Art Arbeitsteilung, wobei sich Erstere auf die Produktion und Letztere auf den Handel konzentriert. Die Handelsfirma ist zu 35% am Kapital der Produktionsfirma beteiligt. Ebenfalls in Zug ansässig ist die Gesellschaft Nord Stream, die Planerin der geplanten Ostsee-Gaspipeline.

Erstaunlich wenig Publizität trotz hoher Handelsvolumina


Angesichts der beeindruckenden Ballung von Rohstofffirmen mit weltwirtschaftlicher Bedeutung mag erstaunen, dass der Rohstoffhandel in der Öffentlichkeit derart wenig wahrgenommen wird. Das unscheinbare Bild der Branche steht im Kontrast zu den gewaltigen Volumina, die sie umsetzt. Auf der durch die «Handelszeitung» jährlich erstellten Rangliste der 1000 grössten Schweizer Unternehmen figurieren vier Rohstofffirmen unter den ersten zehn: Glencore auf Platz 1 und Xstrata auf Platz 5 sowie Mercuria Energy Trading und Cargill International – beide mit Sitz in Genf – auf den Plätzen acht und zehn.  Dass die Wahrnehmung der Branche trotz ihrer wirtschaftlichen Bedeutung tief ist, kommt daher, dass die Aktivitäten der Rohstoffbranche von der offiziellen Statistik unvollständig erfasst werden:  – Erstens teilt die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung die Erlöse aus den Transithandelsgeschäften nur grob in die einzelnen Rohstoffkategorien auf. Auch die Zollstatistik gibt wenig Aufschluss, weil die in der Schweiz gehandelten Rohwaren direkt vom Ursprungsland ins Abnehmerland geleitet werden und somit die Schweiz physisch gar nie erreichen. Beispielsweise wurde Zucker gemäss Importstatistik 2007 nur in einer sehr kleinen Menge von 313000 Tonnen importiert. Tatsächlich wurden aber gemäss der Geneva Trading and Shipping Association rund 15 Mio. Tonnen alleine in Genf gehandelt.  – Zweitens sind die meisten Handelsfirmen nicht börsenkotiert und veröffentlichen daher praktisch keine Zahlen.  – Drittens beruht der Handel stark auf Beziehungen und Vertrauen und somit auf Werten, welche mit Publizität schwer vereinbar sind.

Volkswirtschaftliche Bedeutung der Branche


Trotz des begrenzten Zahlenmaterials in offiziellen Statistiken lässt sich die Bedeutung des Rohstoffhandels abschätzen. Laut einer Studie der Geneva Trading and Shipping Association (GTSA) beläuft sich der jährliche Gewinn der Branche allein in Genf auf 2,1 Mrd. Franken. Damit generiert sie ein direktes Steueraufkommen von fast 200 Mio. Franken und sichert 2700 Arbeitsplätze. Zusammen mit den funktionell verwandten Bereichen Warenprüfung, Warenspedition sowie Handelsfinanzierung sind es allein in Genf 4600 Arbeitsplätze. Daraus ergeben sich dem Kanton weitere Steuereinnahmen von rund 152 Mio. Franken.  Von Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft sind aber auch die zahlreichen im Umfeld des Rohstoffhandels angesiedelten Dienstleistungen wie Versicherungsschutz, Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen, Treuhänder, Speditions- und Sicherheitsfirmen sowie ein breiter Fächer an Finanzdienstleistungen. Diese Branchen haben ihrerseits einige Firmengiganten hervorgebracht: Die Mediterranean Shipping Company (MSC) ist die zweitgrösste Reederei der Welt und bewirtschaftet ihre über 300 Cargo-Schiffe von Genf aus. Auch die Trockencargo-Reederei Swissmarine ist in Genf beheimatet. In der Warenprüfung ist die schon seit 1919 in Genf registrierte SGS Surveillance führend. Im Finanzbereich haben sich – neben den Schweizer Grossbanken – diverse Auslandsbanken auf die Handelsfinanzierung spezialisiert. Sie finanzieren den Rohwareneinkauf, garantieren die reibungslose Abwicklung der Transaktion und bieten Schutz gegen operationelle sowie Kreditrisiken. Zentrales Instrument für die Abwicklung einer Transaktion ist das sogenannte Dokumenten-Akkreditiv. Es bezeichnet eine Zahlungsgarantie der Bank des Käufers gegenüber der Verkäuferseite. Nach Vorlegung der geprüften Transport- und Warenprüfdokumente durch den Verkäufer erfolgt die Auszahlung der vereinbarten Kaufsumme. Üblicherweise werden die Dokumente auf den Namen der Bank ausgestellt, die vorübergehend zur Eigentümerin der Ware wird und damit ein Collateral für den dem Käufer gewährten Warenfinanzierungskredit erhält. Der Finanzplatz Genf vermochte sich als Kompetenzzentrum für solche Trade-Finance-Produkte zu positionieren.

Wie kam es zur Cluster-Bildung in Genf?


Wie aber kam es in Genf zur Bildung eines starken Clusters rund um den Rohstoffhandel? Der Erfolg der Rhonestadt fusst erstens auf einer langen Tradition. Der Nahrungsmittelhersteller Nestlé lockte Anfang des letzten Jahrhunderts zahlreiche Getreidehändler in die Region. Ab den Fünfzigerjahren verlegte der Agrarriese Cargill seine Handelsaktivitäten sukzessive nach Genf. Überhaupt erwies sich die Neutralität zwischen den Blöcken des kalten Krieges als exzellenter Nährboden für Handelsbeziehungen. Im Gegensatz etwa zu Winterthur, das sich mit seinen Baumwoll- und Kaffeehandelsfirmen ebenfalls auf eine lange Tradition berufen konnte, verfügte Genf über den Trumpf, dank der Präsenz zahlreicher multinationaler Institutionen wie dem Internationalen Roten Kreuz, der UNO oder der Welthandelsorganisation Gatt/WTO eine schon früh global vernetzte Stadt zu sein. Traditionelle Standortvorteile der Schweiz – wie die politische und finanzpolitische Stabilität, eine vergleichsweise geringe Steuerlast – sowie die allmählichen Vorteile der Cluster-Bildung (Agglomerationseffekte) überzeugten immer mehr Unternehmen, sich in Genf niederzulassen. Die sich beschleunigende Globalisierung nach dem Mauerfall hat die Handelsvolumen ansteigen lassen. Die damit einhergehende Entwicklung der Schwellenländer hat die Nachfrage nach Primärressourcen vergrössert. Die resultierende Verknappung mit starkem Preisanstieg der Rohwaren hat das Geschäft für alle Teilhaber am Rohwaren-Cluster lukrativer gemacht. Im Vergleich zur Wettbewerbssituation zur Zeit des kalten Krieges hat sich die Zahl der Mitbewerber vergrössert. Insbesondere aber hat sich der globale Standortwettbewerb zwischen den Handelsplätzen verschärft.

Diversifizierung der Portfolios


Seit den Neunzigerjahren haben die Handelsgesellschaften ihre Portfolios sukzessive diversifiziert. Neben traditionellen Rohstoffen – wie Rohöl, Getreide, Ölsaaten, Zucker und Baumwolle – werden die zusehends boomenden Produkte Ethanol, Strom und CO2-Emissionsrechte gehandelt. Ethanol hat sich zu einem Substitut für erdölbasierte Treibstoffe entwickelt. Der Stromhandel ist durch steigenden Bedarf sowie neue Kohle-, Gaskombi- und Kernkraftwerke in Europa beflügelt worden. Der europäische Handel mit Verschmutzungszertifikaten hat 2005 begonnen. Unter den von Beginn weg involvierten Branchen waren Kraftwerke, Erdölraffinerien, Kokereien, Eisen- und Stahlwerke, Hersteller von Baustoffen oder die Zellstoff- und Papierindustrie. Der Handel wird schrittweise auf andere Branchen ausgeweitet. Ab 2013 soll etwa die Luftfahrt hinzukommen.

Herausforderungen für die Rohstoffhandelsbranche Schweiz


Der Rohstoffboom, so willkommen er der Branche grundsätzlich ist, schuf auch Probleme: – Arbeitskräfte mit den notwendigen Qualifikationen sind in der Schweiz notorisch knapp geworden; – die höhere Volatilität der Rohstoffpreise hat die Absicherung gegen unerwünschte Preisbewegungen komplexer gemacht; – aufgrund der Unsicherheiten hat sich die durchschnittliche Kontraktdauer verkürzt; – der Übergang zum elektronischen Handel, wie er z.B. im Baumwollhandel im März 2008 vollzogen wurde, verringert die Bedeutung des Beziehungsgeflechts, was den Konkurrenzdruck auf etablierte Handelsgesellschaften erhöht.  Die Rohstoffhandelsdrehscheibe Schweiz muss sich auf einen härteren Wettbewerb einstellen. Im 20. Jahrhundert lebten die Schweizer Rohstoffhändler von ihrem internationalen Beziehungsnetz und profitierten überdies von zahlreichen Sonderfaktoren. Heute stehen sie im Standortwettbewerb mit London, Houston, Dubai oder Singapur. Diese Städte haben in letzter Zeit ungleich mehr in ihre Infrastruktur investiert und sind direkter an die handelsrelevanten Destinationen des internationalen Flugverkehrs angebunden als etwa Genf. Zudem verfügen sie über offenere Arbeitsmärkte und damit bessere Karten, hoch qualifizierte Arbeitskräfte anzuziehen. Deshalb kann sich die Schweizer Rohstoffbranche auf den Lorbeeren ihrer jüngsten Erfolge nicht ausruhen. Natürliche Vorteile – wie die Lage in einer Zeitzone zwischen Asien und Amerika – reichen als Standortvorteil nicht mehr aus. Gefragt sind namentlich tiefe Steuern, attraktiver Wohnraum für ausländische Spezialisten und optimierte Verkehrsanbindungen.

Zitiervorschlag: Christian Etzensperger, Claude Maurer, (2008). Die Schweiz als Drehscheibe des Rohstoffhandels. Die Volkswirtschaft, 01. September.