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Stark gestiegene Nahrungsmittelpreise und ihre Auswirkungen auf die ärmsten Länder

Zum ersten Mal seit 1973 ist die Welt mit einem starken Anstieg sowohl der Nahrungsmittelals auch der Energiepreise konfrontiert. Aufgrund der Auswirkungen dieser Preisentwicklung auf die Unternehmen, Arbeitnehmenden und Konsumenten ist die Stabilität der Weltwirtschaft in hohem Masse gefährdet. Vom Inflationsschub, der durch die Krise im Bereich der Nahrungsmittelpreise ausgelöst wird, sind wir alle betroffen. Für Millionen von Menschen ist die Situation sogar dramatisch. Welche Entwicklung ist zu verzeichnen? Und was kann dagegen unternommen werden? Mit diesen Fragen befassten sich die internationalen Finanzinstitutionen in den letzten Monaten. Mittlerweile sind sie gut positioniert, um die Ressourcen und Anstrengungen zu mobilisieren, die nötig sind, um die Auswirkungen der Krise - insbesondere in den am meisten gefährdeten Ländern - zu mildern. Dazu beitragen dürfte auch die erwartete Entwicklung der Nahrungsmittelpreise.

Vielfältige Ursachen


Über die Ursachen des starken Anstiegs der Nahrungsmittelpreise wird intensiv diskutiert. Die kritischsten Stimmen führen dazu die folgenden Gründe an: – Versagen der Agrar- und Handelspolitik in den Entwicklungsländern; – inadäquate Investitionen zur Steigerung der Produktivität und zur Förderung der Agrarforschung; – Liberalisierung der Importe von Nahrungsmitteln.  Stimmen, die sich eher auf die Gesetze des Marktes berufen, vertreten die Auffassung, dass die politischen Strategien zur Einschränkung der Importe keine Steigerung, sondern eine Abnahme der weltweiten Nahrungsmittelproduktion zur Folge hatten. Gemäss Weltbank wirkte sich auch die Produktion von Biotreibstoffen auf die Nahrungsmittelpreise aus. Sie fordert die amerikanischen und europäischen Regierungsverantwortlichen auf, ihre Politik in diesem Bereich zu überdenken. Über eine Tatsache scheinen sich alle einig zu sein: Insgesamt konnte die Nahrungsmittelproduktion mit der zunehmenden Nachfrage nicht Schritt halten. Dazu haben Faktoren wie die Kombination der hohen Preise von Energieträgern und Düngemitteln, welche die Landwirte benachteiligen, die ungünstigen klimatischen Bedingungen sowie die bereits erwähnte Zunahme der Biotreibstoffproduktion in den USA und Europa beigetragen. Die weltweiten Getreidevorräte werden Ende 2008 den tiefsten Stand seit 25 Jahren erreicht haben. Andere Stimmen sehen schliesslich auch die expansive Geldpolitik der letzten Jahre, den Wertverfall des US-Dollars und – in einem geringeren Ausmass – die Spekulation an den Rohstoffmärkten als Gründe für den Preisanstieg. Zu dieser Kombination von strukturellen Ursachen kommen protektionistische Massnahmen hinzu, die von bedeutenden Exportländern – wie Indien, China, Argentinien und Russland – beschlossen wurden. Um die Auswirkungen der Versorgungskrise auf ihre inländischen Märkte in Grenzen zu halten, schränkten diese Länder ihre Exporte ein. Dies hatte entsprechende Konsequenzen für das weltweite Angebot und bewirkte einen noch ausgeprägteren Mangel an Nahrungsmitteln. Damit beschleunigte sich die Inflationsspirale. Während sich alle darüber einig sind, dass der Preisanstieg auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist, sind die Kausalzusammenhänge zwischen diesen Faktoren sowie deren Abfolge und Bedeutung für die Entstehung und Verschärfung der Krise nach wie vor Gegenstand von heftigen Kontroversen.

Verheerende Auswirkungen


Was auch immer die Ursachen der Krise sind: Für die Menschen weltweit sind es deren Auswirkungen, die Besorgnis und Fragen auslösen. In den am wenigsten entwickelten Ländern nimmt die Lage besonders dramatische Ausmasse an. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden Dutzende von Millionen Menschen von Unterernährung betroffen sein. Hinzu kommen jene 850 Mio. Menschen, die bereits zuvor unter Nahrungsmittelknappheit litten. Diese pessimistischen Prognosen wurden von der Weltbank indirekt bestätigt: Sie geht davon aus, dass für 105 Mio. Menschen die Gefahr besteht, unter die Schwelle der extremen Armut zu fallen (weniger als 1 US-$ pro Tag). Die Gründe dieser Prognosen liegen leider auf der Hand: In Ländern, in denen mehr als die Hälfte des Budgets der armen Haushalte für Nahrungsmittel verwendet wird, kann ein direkter Zusammenhang zwischen dem Anstieg der internationalen Getreidepreise, dessen Auswirkungen auf die inländischen Preise und der Entwicklung des Armutsindexes hergestellt werden. Die Weltbank befürchtet, dass die in den letzten zehn Jahren erzielten Fortschritte bei der Reduktion der Armut in der Welt durch die gegenwärtigen inflationistischen Tendenzen in mehreren armen Ländern vollständig zunichte gemacht werden könnten. Selbst Länder mit starkem Wachstum – wie Indien – bleiben von der Krise nicht verschont. Durch den Anstieg der Nahrungsmittelpreise nehmen die Ungleichheiten überall zu. Die hohen Preise zwingen viele Haushalte mit geringem Einkommen, die Zahl der täglichen Mahlzeiten zu reduzieren oder die verfügbaren Mittel für Produkte mit einem tieferen Nährwert auszugeben. Nach Schätzungen der Unicef besteht in Indien das Risiko, dass zusätzliche 2 Mio. Kinder an Unterernährung leiden werden. Im Vergleich mit den afrikanischen Staaten südlich der Sahara (24%) sind von diesem Problem in Indien bereits jetzt doppelt so viele Kinder betroffen (47%). Für die betroffenen Regierungen wird es immer schwieriger, eine geeignete Lösung für diese Situation zu finden. Ihre Reserven und Anpassungskapazitäten sind durch die Dauer der Krise und deren Verbindung mit der Energiekrise langsam, aber sicher erschöpft. Während die Auswirkungen der Ölpreisschocks von 2003/2005 und des Anstiegs der Nahrungsmittelpreise bis letztes Jahr dank günstigeren makroökonomischen Bedingungen gemildert werden konnten, weisen die Indikatoren nun auf beunruhigende Ungleichgewichte hin. Die staatlichen Budgets werden auf eine harte Probe gestellt, um eine Senkung der Zollgebühren oder der Abgaben auf Getreideimporte zu kompensieren, eine Preiskontrolle einzurichten oder zusätzliche soziale Massnahmen für die wirtschaftlich schwächsten Menschen zu finanzieren. Als Folge verschlechtert sich die Zahlungsbilanz der meisten betroffenen Länder. Die Inflation und die Zinsen steigen, und das Wachstum der Exporte und des Bruttosozialprodukts (BSP) verlangsamt sich deutlich. Überdies leiden zahlreiche Entwicklungsländer unter einem nach wie vor sehr eingeschränkten Zugang zum Kapitalmarkt und unter oft unbeständigen ausländischen Investitionen. Vor diesem Hintergrund besteht für diese Staaten die Gefahr eines bedeutenden wirtschaftlichen und sozialen Schocks. Gefährdet sind auch die Millenium-Ziele der Entwicklungshilfe, die insbesondere darauf ausgerichtet sind, die extreme Armut bis ins Jahr 2015 zu halbieren. Angesichts der Herausforderungen, die sich kurz- und mittelfristig stellen, sind klare, energische und koordinierte Massnahmen erforderlich.

Engagement der Weltbank


Im Zusammenhang mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten wurden in diesem Jahr in über 30 Ländern gewalttätige Demonstrationen verzeichnet. Dies zeigt, dass die Nahrungsmittelkrise mit dem Risiko einer politischen Destabilisierung verbunden ist. Es deutet nichts darauf hin, dass in Bezug auf die Preisentwicklung kurzfristig eine massgebliche Änderung des gegenwärtigen Trends zu erwarten ist (siehe Tabelle 1). Gleichzeitig verfügen die Regierungen der armen Länder nur über eingeschränkte Möglichkeiten, um die Auswirkungen der Krise zu mildern.  Die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft nehmen schrittweise Gestalt an. Während die bilateralen Initiativen die Solidarität zwischen einzelnen Nationen betonen, besteht die Rolle der multilateralen Institutionen darin, zum einen die globale Dimension der Krise anzugehen und zum anderen eine Plattform für die Koordination der Leistungen anzubieten. Damit soll die Wirksamkeit der Unterstützung verbessert werden. Die Weltbank ist ihrer Rolle als Kompetenzzentrum und als Institution für die Mobilisierung von Mitteln für die Entwicklung treu geblieben. Sie engagiert sich seit mehreren Monaten an vorderster Front und befasst sich mit den kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Nahrungsmittelkrise in den Entwicklungsländern. Kurzfristig besteht die grösste Herausforderung darin, die betroffenen Länder dabei zu unterstützen, die beträchtlichen Risiken eines makroökonomischen Ungleichgewichts zu kontrollieren. Gleichzeitig muss Soforthilfe für die wirtschaftlich schwächsten Schichten der Bevölkerung geleistet werden. Ausserdem ist ein angemessenes Investitionsvolumen zu gewährleisten, um die strukturellen Faktoren der Krise zu beseitigen und die nächsten Ernten bestmöglich vorzubereiten. Gemeinsam mit der UNO geht die Weltbank von einem Finanzierungsbedarf von 14,5 Mrd. US-Dollar aus, um die folgenden Aufgaben zu erfüllen (siehe Tabelle 2): – Realisierung der Programme für Sozial- und Nahrungsmittelhilfe; – Unterstützung des Budgets der am stärksten betroffenen Staaten; – Ermöglichung des Zugangs zu Saatgut und Düngemitteln für kleine und mittlere Landwirtschaftsbetriebe; – Unterstützung einer rascheren Umsetzung von Reformen für die Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Produktivität im Agrarsektor.  Alle multilateralen Institutionen lancierten eine gemeinsame Aktion bei den Geldgebern, um die benötigten finanziellen Mittel zu beschaffen. Im letzten Mai genehmigte der Verwaltungsrat der Weltbank die Freigabe von 1,2 Mrd. US-Dollar für ein finanzielles Nothilfeprogramm. Dieses umfasst auch 200 Mio. US-Dollar für die Unterstützung der ärmsten Länder (Haiti, Djibouti, Liberia, Tadjikistan und Jemen waren die ersten begünstigten Staaten). Bis Ende 2009 wird die Weltbank ihr jährliches finanzielles Engagement im Agrarbereich um 50% auf 6 Mrd. US-Dollar pro Jahr steigern. Geprüft werden auch neue Produkte für Garantien und zur Deckung von Risiken. Damit sollen beispielsweise die Partnerländer unterstützt werden, um sich besser vor den Risiken von Trockenperioden oder ausserordentlich ungünstigen klimatischen Bedingungen zu schützen.

Langfristige Perspektive


Die schlimmsten Auswirkungen der Krise scheint man kurzfristig mit der finanziellen und humanitären Hilfe der internationalen Gemeinschaft bewältigen zu können. Bezüglich der längerfristigen Konsequenzen bestehen hingegen weiterhin grosse Bedenken. Da mit einer raschen Abnahme der Nahrungsmittel- und Energiepreise kaum zu rechnen ist, darf die Not- und Soforthilfe nicht zur Norm werden. Strukturelle und institutionelle Massnahmen sind unerlässlich, um die eigentlichen Ursachen der Krise anzugehen. Dabei wird das ehrgeizige Ziel verfolgt, in Zukunft das Nahrungsmittelangebot auf unserem Planeten mit der entsprechenden Nachfrage in Einklang zu bringen. Dieser Weg ist steinig, doch es bestehen mögliche Stossrichtungen. Dazu gehört als Erstes die Lancierung von Investitionen zur Steigerung der Produktivität und zur Förderung der Forschung im Agrarbereich. Auf diese Weise kann die Nahrungsmittelsicherheit in den armen Ländern garantiert werden. Die aktuelle Versorgungskrise hat zweifellos dazu beigetragen, dass die Diskussionen über dieses Thema wieder in Gang kommen sind. «Die Landwirtschaft ist ein […] entscheidendes Instrument für die Umsetzung der Jahrtausendziele der Entwicklungshilfe, die darauf ausgerichtet sind, den Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben und unter chronischem Hunger leiden, bis 2015 zu halbieren.» Diese Erklärung des Präsidenten Robert Zoellick im Vorwort des World Development Report 2008 der Weltbank ist eine Zusammenfassung der zu bewältigenden Herausforderung. Drei Viertel der armen Menschen leben in ländlichen Gebieten, hauptsächlich in kleinen Landwirtschaftsbetrieben. In diesem Zusammenhang müssen die Fehler der Vergangenheit eingestanden werden. Die rasche Liberalisierung der Agrarpolitik in den Entwicklungsländern ging nicht mit genügend privaten Investitionen in diesen Sektor einher. Im Gegenteil: Durch die tiefen Rohstoffpreise während der letzten 20 Jahre und das Ausbleiben von Fortschritten bei den multilateralen Verhandlungen über Handelsfragen wurde der Ausbau des Agrarsektors in den armen Ländern erheblich eingeschränkt. Die Agrarsubventionen der OECD-Länder, deren Volumen fünfmal grösser ist als die öffentliche Entwicklungshilfe dieser Staaten, bilden bei bestimmten Produkten – wie beispielsweise Baumwolle und Zucker – ein vielfach unüberwindliches Hindernis für die Exporte aus armen Ländern. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass die Investitionen in Forschung, technische Neuerungen und Agrarinfrastruktur zurückgingen. Noch enttäuschender ist der Umstand, dass sich dieser Trend durch einen Rückgang der internationalen Hilfe verstärkt hat. Von 1980 bis 2005 nahmen die Unterstützungsgelder für den Agrarbereich um beinahe 50% ab. In Afrika liegt die offizielle Hilfe für den Agrarbereich (1,2 Mrd. US-$) heute auf dem Stand von 1975.

Unerlässliche Trendumkehr


Um die Krise zu bewältigen, muss somit künftig eine Umkehr dieser Entwicklung erreicht werden. Der Wille und die Mittel dazu sind vorhanden. Die neuen Technologien und Entwicklungsstrategien sind auf eine vermehrte Dezentralisierung und Beteiligung der betroffenen Körperschaften ausgerichtet. Diese Chancen gilt es zu nutzen. Gleichzeitig wird deutlich, dass in Bezug auf die Institutionen und die Steuerung des Agrarsektors ein gewisser Reformbedarf besteht. Nur auf dieser Grundlage können die Rahmenbedingungen verbessert und private Initiativen und Investitionen gefördert werden. Die erforderlichen Anstrengungen müssen in erster Linie von den betreffenden Ländern unternommen werden. Den in diesem Zusammenhang bereits eingegangenen Verpflichtungen müssen vermehrt auch Taten folgen. So setzen trotz der ab 2003 eingegangenen Verpflichtungen gegenwärtig nur 6 von 24 afrikanischen Ländern mindestens 10% ihres Budgets für den Agrarsektor ein. Auch die weltweite Steuerung muss weiterentwickelt werden. Der Klimawandel, die Erhaltung der Umwelt, der Umgang mit den Wasserressourcen und die internationale Zusammenarbeit im Forschungsbereich sind Herausforderungen, die mit der Verbesserung der Produktivität im Agrarbereich zusammenhängen und globale, gegenseitig abgestimmte Massnahmen erfordern. Der internationale Handel muss – insbesondere mit einer Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten und dem Abbau der exorbitant hohen Agrarsubventionen in den OECD-Ländern – so reguliert werden, dass die Entwicklungsländer einen angemessenen Zugang zu neuen Märkten erhalten und ihre Agrarproduktion gefördert wird. Die Nahrungsmittelkrise ist symptomatisch für unsere heutige Welt. Durch ihre vielfältigen Dimensionen kommt zum Ausdruck, in welchem Masse die globalen Herausforderungen die Handlungskapazität einzelner Staaten übersteigen. Für die Mobilisierung des politischen Willens, der finanziellen Ressourcen und der technischen Kapazitäten ist mehr denn je ein multilaterales System erforderlich, damit globale und gemeinsame Massnahmen zur Lösung der Probleme ergriffen werden können.

Grafik 1 «Entwicklung der Rohstoffpreise, Febr. 2000-Mai 2008»

Grafik 2 «Auswirkungen des Anstiegs der Nahrungsmittel- und Energiepreise»

Tabelle 1 «Prognose für die Realpreise von Nahrungsmitteln»

Tabelle 2 «Kurz- und mittelfristiger Finanzierungsbedarf»

Zitiervorschlag: Michel Mordasini, Olivier Burki, (2008). Stark gestiegene Nahrungsmittelpreise und ihre Auswirkungen auf die ärmsten Länder. Die Volkswirtschaft, 01. September.