«Cassis de Dijon» ist gut – eine umfassende Harmonisierung wäre besser
Die schweizerische Nahrungsmittelindustrie hatte sich schon bei der EWR-Abstimmung für eine uneingeschränkte Übernahme des harmonisierten EU-Lebensmittelrechts, d.h. des Acquis communautaire, ausgesprochen. Dazu gehört auch die Praxis des Europäischen Gerichtshofs und somit das Cassis-de-Dijon-Prinzip. Sie opponiert deshalb dem Vorschlag einer vorgezogenen – und damit einseitigen – Einführung nicht, obschon es ein Mangel ist, dass Schweizer Exporteure bei Lieferungen in die EU nicht die gleichen Rechte haben. Die wichtigsten horizontalen Bereiche des Lebensmittelrechts – wie die Kennzeichnung, die Zusatzstoffe etc. – sind heute in der EU harmonisiert. Raum für nationale Regelungen bleibt damit weitgehend nur noch für Vorgaben über die Zusammensetzung einzelner Produkte. Entscheidend ist, dass schweizerische Hersteller nicht durch Importe von Produkten auf tieferem Qualitätsniveau im Wettbewerb benachteiligt werden.
Verbesserungen gegenüber dem Vorentwurf
Auf Grund der Vernehmlassung zum Vorentwurf weist die Botschaft in zwei Bereichen begrüssenswerte Verbesserungen auf: – Der Bundesrat will die Harmonisierung des Produktrechts noch konsequenter umsetzen und spricht von einer «Praxisänderung»: Ausnahmen sind nur beizubehalten, wenn sonst wesentliche öffentliche Interessen erheblich gefährdet werden. Durch die Beschlüsse vom 31.Oktober 2007 hat der Bundesrat die Liste der beizubehaltenden Ausnahmen stark gekürzt. – Die Gefahr, dass Hersteller in der Schweiz bei Anwendung des Cassis-de-Dijon-Prinzips gegenüber Mitbewerbern aus dem Ausland benachteiligt werden, wurde erkannt. Es wird nun eine Sonderregelung für Lebensmittel vorgeschlagen.
Vermeidung der Inlanddiskriminierung
Der Vorentwurf sah eine Lösung vor, die vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) der Nahrungsmittelindustrie unbefriedigend war, da sie ausschliesslich die Bedürfnisse der Exportindustrie berücksichtigte. Nun wird vorgeschlagen, dass Lebensmittel, die den schweizerischen Vorschriften nicht entsprechen, einer vorgängigen Bewilligung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) bedürfen, welche in Form einer Allgemeinverfügung erteilt wird. Schweizer Hersteller sind dann berechtigt, gleichartige Lebensmittel nach den gleichen Anforderungen im Inland anzubieten. Dieser Lösung ist im Grundsatz zuzustimmen, wenn auch abgewartet werden muss, wie sie sich in der Praxis bewährt.
Einseitige Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips
Der Bundesrat hält an der Auffassung fest, dass eine einseitige Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips angezeigt ist. Für die exportierende Nahrungsmittelindustrie ist dies unbefriedigend. Es führt dazu, dass ein Hersteller für den Inlandmarkt und den Export nach unterschiedlichen Rezepturen produzieren muss. Noch gravierender ist, dass bei Fehlen der Gegenseitigkeit ein Hersteller sein Produkt nicht in ein EU-Land exportieren kann, das aus einem anderen EU-Land dort akzeptiert werden muss. Die einseitige Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips kann deshalb nur ein Zwischenschritt sein. Mit einer Revision des Lebensmittelgesetzes (LMG) und dem Abschluss eines Gesundheitsabkommens mit der EU sind die Voraussetzungen für eine gegenseitige Anwendung des Cassis-de-Dijon-Prinzips zu schaffen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Entwurf zur Revision des THG für die Nahrungsmittelindustrie zwar nicht gänzlich befriedigende, aber doch insgesamt akzeptable Lösungen bringt. Die Auswirkungen des Cassis-de-Dijon-Prinzips im Sinne einer Belebung des Wettbewerbs werden sich allerdings darauf beschränken, dass Importprodukte mit tieferen qualitativen Anforderungen auf den Markt kommen. Vorteile für die Nahrungsmittelindustrie ergeben sich erst, wenn die Gegenseitigkeit mit der EU erreicht und die Übernahme des harmonisierten Rechts mit aller Konsequenz umgesetzt wird.
Zitiervorschlag: Hodler, Beat (2008). «Cassis de Dijon» ist gut – eine umfassende Harmonisierung wäre besser. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.