Die Bilateralen I aus wirtschaftlicher Sicht
Die EU ist die wichtigste Partnerin der Schweiz. Das gilt auch für die Wirtschaft. Entsprechend sind die Beziehungen zur EU – nebst dem Engagement in der WTO und den bilateralen Freihandelsabkommen mit Drittstaaten – ein zentraler Pfeiler der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik. Für die Schweizer Unternehmen und Einwohner, die sich – mindestens geografisch – inmitten eines riesigen Binnenmarktes befinden, müssen bestmögliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Schweizer Politik tut dies bekanntlich auf dem bilateralen Weg. Dieser Weg hat es der Schweiz ermöglicht, gleichzeitig eurokompatible und -kompetitive Strategien zu verfolgen. Konkrete Anliegen beider Seiten werden durch bilaterale Abkommen in klar umgrenzten Bereichen geregelt. Andere Bereiche bleiben bewusst ausgeklammert.
Der Weg zu den bilateralen Abkommen
Die Entwicklung dieses mittlerweile in Bevölkerung und Wirtschaft breit akzeptierten Weges wurde wesentlich durch die Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 geprägt. Danach wurden gezielt Wege gesucht und entwickelt, die für beide Verhandlungspartner Vorteile versprechen. Sie ermöglichen der Schweiz in wichtigen Wirtschaftssektoren einen diskriminierungsfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt: Aufbauend auf dem Freihandelsabkommen von 1972 wurde der gegenseitige Marktzugang zunächst durch sieben sektorielle Verträge ausgebaut – die so genannten Bilateralen I. Diese Abkommen wurden am 21.Juni 1999 unterzeichnet, am 21.Mai 2000 vom Schweizer Stimmvolk mit 67,2% Ja-Stimmen gutgeheissen und am 1.Juni 2002 für eine anfängliche Dauer von sieben Jahren in Kraft gesetzt. Im Vorfeld des Entscheids über die Weiterführung dieser Abkommen nach der ursprünglichen Geltungsdauer ist es Zeit, erneut Bilanz zu ziehen. In den nachfolgenden Artikeln des Monatsthemas werden die wirtschaftlichen Auswirkungen zusammengefasst, soweit sie durch Zahlen oder qualitative Argumente belegt werden können. Die Aufgabe, mit der die Autorinnen und Autoren betraut wurden, ist anspruchsvoll. Denn oft ist das Zahlenmaterial knapp und die Frage nach dem so genannten «counterfactual», also der hypothetischen heutigen Lage ohne Abkommen, schwierig zu beantworten.
Volkswirtschaftliche Effekte
Insgesamt lassen sich folgende wirtschaftlichen Effekte der bilateralen Öffnung bestätigen: – Für Schweizer Unternehmen eröffnen sich neue Geschäftsmöglichkeiten in vormals geschlossenen Märkten, namentlich bei gewissen Agrarprodukten, im Luftverkehr, im Landverkehr sowie bei öffentlichen Beschaffungen. – Umgekehrt haben ausländische Anbieter freien Zutritt zum Schweizer Markt. Der Wettbewerbsdruck im Inland wird dadurch in den betreffenden Sektoren erhöht, was den unmittelbar nachfragenden Unternehmen und Konsumentinnen zugute kommt. Längerfristig ist dieser Wettbewerbsdruck der entscheidende Treiber für Produktivitätsgewinne und damit auch Reallohnsteigerungen in den betroffenen Sektoren. – Als zentraler Wachstumsmotor für die Schweizer Wirtschaft hat sich die Liberalisierung des Personenverkehrs erwiesen: Sie erleichtert Schweizerinnen und Schweizern die Arbeitsaufnahme in den EU-Staaten und – quantitativ bedeutender – ermöglicht den Schweizer Unternehmen die Rekrutierung der nötigen Arbeitskräfte aus der EU. Der zweitgenannte Effekt verhindert Engpässe bei der Rekrutierung spezialisierter Arbeitskräfte und wirkt Lohn-Preis-Spiralen während einer Hochkonjunktur entgegen. Ein Aufschwung stösst so weniger rasch an Grenzen. Obwohl das Personenfreizügigkeitsabkommen bedeutet, dass die Behörden die Zuwanderung in beruflicher Hinsicht nicht mehr steuern können, hat sich die qualifikatorische Zusammensetzung der Zuwanderung in den letzten Jahren günstig entwickelt. Die Personenfreizügigkeit ermöglichte in den letzten Jahren ein kräftiges Beschäftigungswachstum. Seit Mitte 2005 stieg die Beschäftigung um knapp 240000 Personen oder um durchschnittlich 2,1% pro Jahr. Ein Teil des so erreichten Zuwachses beim Bruttoinlandprodukt ist konjunkturell. Wir gehen heute aber davon aus, dass das Bruttoinlandprodukt dank der Personenfreizügigkeit dauerhaft um mindestens 1% angehoben wurde. Im Übergang könnte die Personenfreizügigkeit im Aufschwung zu einem leicht tieferen Rückgang der Arbeitslosigkeit und zu einem leicht tieferen Wachstum der Löhne geführt haben. Allerdings wird die gleichgewichtige Arbeitslosenquote nicht steigen und die erwarteten Produktivitätssteigerungen aus dem Abkommen werden die Reallöhne mittelfristig positiv beeinflussen. Zudem kommen die Produktivitätszuwächse über kurz oder lang auch den Nachfragern bzw. den Konsumenten zugute und stärken indirekt – über die Zulieferbeziehungen unter Firmen – die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen auf ausländischen Märkten. – Unmittelbare Einsparungen sind im bisher schon liberalisierten Warenverkehr durch die Vereinfachung der Anforderungen an das Inverkehrbringen von Produkten (Abbau technischer Handelshemmnisse) möglich. Gleiches gilt auch im Luft- und Landverkehr, in denen Regeln harmonisiert wurden und werden. – Und schliesslich fördert die volle Integration der Schweiz in den europäischen Forschungsraum die Entstehung und den freien Austausch von spezialisiertem Know-how (Technologie, Innovationen), was als eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Stärkung des zukünftigen Wachstumspotenzials angesehen wird.
Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet
Unter dem Strich fällt die Bilanz der Bilateralen I damit klar positiv aus: Die von den Gegnern geäusserten Befürchtungen einer unkontrollierten Einwanderung oder einer «Lastwagen-Lawine» haben sich nicht bewahrheitet. Erleichterter Handel und verstärkter Wettbewerb bewirkten vielmehr Wachstumseffekte, welche wiederum Wohlstand und Arbeitsplätze sichern bzw. schaffen. Durch die Ausdehnung der EU auf die osteuropäischen Wachstumsmärkte haben die bilateralen Abkommen zudem weiter an Bedeutung gewonnen. Die Analyse der bilateralen Verträge zeigt auch, wo noch Optimierungspotenzial im Vertragswerk besteht: So sind im Bereich der Landwirtschaftsgüter oder der Forschungskredite Hürden zu beseitigen, um den Zugang zu Märkten beziehungsweise zu Forschungsmitteln aus der EU weiter zu verbessern. Auf der administrativen Ebene müssen Möglichkeiten gefunden werden, um die Chancen der Öffnung im öffentlichen Beschaffungswesen besser zu nutzen. Bei der Produktzertifizierung sollen weitere Produktgruppen integriert werden, damit die bisherige Doppelzertifizierung für die EU beseitigt werden kann. Die vorliegenden Ergebnisse der Wirkungsanalyse sind erst als eine Zwischenbilanz anzusehen. Denn die Zeiträume seit Inkrafttreten der Abkommen sind noch kurz – auch aufgrund verschiedener Übergangsfristen. So sind der Freihandel mit Käse wie auch die Personenfreizügigkeit mit den 15 «alten» EU-Mitgliedstaaten erst seit 1.Juni 2007 vollständig umgesetzt.
Positive Wirkungen sind unbestritten
Deshalb kann man davon ausgehen, dass bei Fortbestehen des bilateralen Weges in einigen Jahren die selben Analysen erneut durchgeführt werden. Auch dann wird die exakte Messung der Wirkungen eine schwierige Aufgabe bleiben, da unabhängig von der vertraglichen Öffnung viele weitere Faktoren auf die wirtschaftliche Entwicklung in den von den Abkommen abgedeckten Sektoren einwirken. Unbestritten bleibt aber die erwartete Richtung der wirtschaftlichen Effekte: Die Wirkung des Abbaus von Grenzen und des Austauschs von Wissen ist positiv und kraftvoll. Mit den bilateralen Abkommen werden Rahmenbedingungen geschaffen, welche den Standort Schweiz stärken und für die Schweizer Firmen in wichtigen Bereichen bessere Wettbewerbsbedingungen schaffen. Diese stabilen und bewährten Rahmenbedingungen sind heute in Zeiten einer unsicheren Wirtschaftsentwicklung wichtiger denn je.
Tabelle 1 «Wirkungsanalyse der Bilateralen I: Eine Zwischenbilanz»
Kasten 1: Die EU – wichtigste Partnerin der Schweizer Wirtschaft
Mit dem EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien ist der EU-Binnenmarkt auf 490 Mio. Personen angewachsen. Jeden dritten Franken verdient die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU. Der wirtschaftliche Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen der Schweiz und der EU beläuft sich auf über 1 Mrd. Franken pro Tag.Fast zwei Drittel der Schweizer Exporte (2007: rund 128 Mrd. Fr.) gehen in den EU-Raum. Umgekehrt stammen vier Fünftel der Schweizer Importe (2007: rund 153 Mrd. Fr.) aus der EU. Damit ist die Schweiz zweitgrösster Absatzmarkt für EU-Produkte (2007), noch vor China und Russland. In den letzten zehn Jahren ist der Handel Schweiz-EU jährlich um 6% gewachsen. Besonderes Potenzial liegt dabei in den osteuropäischen Wachstumsmärkten: Mit den zehn 2004 beigetretenen EU-Staaten wuchs der Handel in den letzten zehn Jahren mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 13% äusserst rasant, mit den beiden 2007 beigetretenen Ländern Rumänien und Bulgarien sogar um über 15% (2001-2007). Auch bei den Arbeitskräften ist die Verflechtung mit der EU ausgeprägt : Ende 2007 wohnten und arbeiteten mehr als 400 000 Schweizerinnen und Schweizer in der EU. Umgekehrt lebten 960 000 EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in der Schweiz; dazu kommen mehr als 200 000 Grenzgänger aus der EU. Weiterer Indikator für den engen Austausch zwischen den Partnern sind die 700 000 Personen, 300 000 Autos und 23 000 Lastwagen, die jeden Tag die Schweizer Grenze in beiden Richtungen überqueren.
Zitiervorschlag: Brunetti, Aymo; Bucher, Urs (2008). Die Bilateralen I aus wirtschaftlicher Sicht. Die Volkswirtschaft, 01. November.