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Bilaterale ja – aber zu Schweizer Löhnen

Die Schweiz als kleines und wirtschaftlich hoch entwickeltes Land mitten in Europa ist auf gute und geregelte Verhältnisse mit der Europäischen Union (EU) angewiesen. Die Gewerkschaften haben deshalb die bilateralen Verträge grundsätzlich immer befürwortet. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit, die wirtschaftlich und gesellschaftlich Vorteile bringt. Die Zustimmung der Gewerkschaften zu den bilateralen Verträgen erfolgte allerdings nicht bedingungslos. Bereits 1998 verlangte der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit der Parole «Nein, wenn nicht» die Einführung nicht-diskriminierender flankierender Massnahmen zum Schutz der Schweizer Löhne als Bedingung für das Ja zu den bilateralen Verträgen.

 

Flankierende Massnahmen für den Erfolg entscheidend


Diese flankierenden Massnahmen sollten das bisherige System fremdenpolizeilicher Steuerung des Zugangs zum schweizerischen Arbeitsmarkt ablösen. Sie wurden in der Folge, wenn auch nicht ohne grössere Widerstände, als Konzession an die Arbeitnehmenden – und an die Gewerkschaften – beschlossen. Bei der Erweiterung der EU und dem schrittweisen Einbezug dieser Länder in die Personenfreizügigkeit wurden die flankierenden Massnahmen verstärkt. Rückblickend muss festgehalten werden, dass die Volksabstimmungen zur Personenfreizügigkeit ohne das mit den flankierenden Massnahmen verbundene Versprechen des Schutzes der Löhne wohl kaum erfolgreich verlaufen wären. Die flankierenden Massnahmen waren ein entscheidender Unterschied zum Abstimmungsfiasko über den EWR von 1992.  Die Arbeitnehmenden haben kein primäres Interesse an der erweiterten Konkurrenz in einem offenen europäischen Arbeitsmarkt. Für die Öffnung sprechen handfeste Vorteile der wirtschaftlichen Entwicklung in einer international – und vor allem europäisch – eng verflochtenen Volkswirtschaft. Die Risiken eines offenen Arbeitsmarkts lassen sich mit Regulierungen zum Schutz der Arbeits-bedingungen bekämpfen, vorausgesetzt diese werden entschieden und glaubwürdig umgesetzt. Die Öffnung des Arbeitsmarkts ist somit politisch, volkswirtschaftlich und sozial eng mit glaubwürdigen flankierenden Massnahmen zur Absicherung der Löhne verknüpft. Die Öffnung des Arbeitsmarkts darf nicht auf Kosten der Arbeits- und Lebensbedingungen der hier ansässigen Bevölkerung erfolgen.

Kontrollen von Arbeitsbedingungen und Löhnen unabdingbar…


Ein erster Tatbeweis für die Ernsthaftigkeit der flankierenden Massnahmen liegt in der Umsetzung der Kontrolle der Arbeits-bedingungen in den Kantonen und über die paritätischen Kommissionen. Die Zahl der Kontrollen wurde nach entsprechenden gewerkschaftlichen Forderungen erheblich ausgebaut. Auch wenn substanzielle Fortschritte erreicht wurden, besteht in verschiedenen Kantonen und Branchen noch Handlungsbedarf. Schwerpunktmässig braucht es mehr Lohnkontrollen in Schweizer Betrieben, die von dem sich öffnenden europäischen Arbeitsmarkt profitieren. Die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne stehen und fallen mit effizienten Kontrollen.

… aber nicht ausreichend


Handlungsbedarf besteht sodann bei der Umsetzung der materiellen Instrumente, die zum Schutz gegen Lohndumping beschlossen wurden. Zum einen geht es um die Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen (GAV), zum andern um den neuen zwingenden Normalarbeitsvertrag, mit dem erstmals in der Schweiz verbindliche Minimallöhne für bestimmte Branchen von Gesetzes wegen vorgeschrieben werden können. Die Gewerkschaften ziehen grundsätzlich das Instrument des GAV vor. Wo es aber in prekären Branchen keinen Arbeitgeberverband gibt oder wo sich die Arbeitgeber weigern, GAV abzuschliessen, muss der Normalarbeitsvertrag die Lücke schliessen. Nach ersten erfolgreichen Schritten in den Kantonen Tessin und Genf sind die tripartiten Kommissionen jetzt auf nationaler Ebene gefordert. Das neue gesetzliche Instrumentarium darf keine Leerformel bleiben, sondern muss seine Tauglichkeit in der Praxis beweisen.  Eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung prekärer Arbeitsverhältnisse in dem sich öffnenden europäischen Arbeitsmarkt kommt der Vollzugsoffensive im Bereich der Temporärarbeit zu. Den wirksamsten Beitrag dazu leistet der neu verhandelte GAV für die Temporärbranche, der bei allen verbleibenden Problemen klare Verbesserungen brächte. Der Angelpunkt auch dieses GAV ist die Allgemeinverbindlicherklärung. Völlig neue und mutwillig selbst geschaffene Probleme bringt der Entwurf des Bundesrats für ein neues öffentliches Beschaffungsrecht (BöB). Dieser würde mit dem Verzicht auf das Niveau der GAV und der Arbeitsbedingungen des Leistungsortes exakt das preisgeben, was die Eckwerte der flankierenden Massnahmen überhaupt sind. Diese Prinzipien des bisherigen Beschaffungsrechts des Bundes sind für die Gewerkschaften deshalb unverhandelbar.

Zitiervorschlag: Paul Rechsteiner (2008). Bilaterale ja – aber zu Schweizer Löhnen. Die Volkswirtschaft, 01. November.