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Personenfreizügigkeit: Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum

Der folgende Artikel zeigt, dass die Unternehmen im jüngsten Konjunkturaufschwung dank der Personenfreizügigkeit in relativ geringem Mass mit Personalengpässen konfrontiert waren. Dadurch wurde das Wirtschaftswachstum gefördert und die Teuerung gedämpft. Anderseits bildete sich die Arbeitslosigkeit weniger stark zurück und das Reallohnwachstum fiel tiefer aus, als dies ohne Personenfreizügigkeit der Fall gewesen wäre. Weitere denkbare Auswirkungen der Arbeitsmarktöffnung - z.B. hinsichtlich des Potenzialwachstums oder des Verhaltens des Arbeitsangebots in rezessiven Phasen - lassen sich derzeit aufgrund des kurzen Erfahrungshorizonts noch nicht abschätzen. Dieser Beitrag liegt in der Verantwortung des Autors. Die vetretenen Auffassungen sind nicht der Schweizerischen Nationalbank zuzuschreiben.

Personenfreizügigkeit: Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum

 

Fragestellung und Untersuchungsansatz


Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich das Abkommen mit der EU über die Personenfreizügigkeit auf die Schweizer Volkswirtschaft auswirkt. Dabei stehen die folgenden Punkte im Zentrum des Interesses: – In konjunktureller Hinsicht ist abzuklären, ob die Wirtschaft in Aufschwungsphasen dank dem freien Personenverkehr weniger rasch an Kapazitätsgrenzen stösst und deshalb länger inflationsfrei wachsen kann. Weiter stellt sich die Frage nach der Reaktion des Arbeitsangebots in rezessiven Phasen. – Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist insbesondere die Wirkung auf die Arbeitslosigkeit von Interesse. Ausschlaggebend dafür ist, ob die Einwanderung primär in jene Segmente des Arbeitsmarktes geht, wo offene Stellen sonst nicht besetzt werden können, oder ob die Neuzuzüger die Anstellungschancen von Arbeitssuchenden in der Schweiz schmälern. – Hinsichtlich des langfristigen Wachstumspotenzials stellt sich die Frage, ob der freie Personenverkehr bloss zu einem verstärkten Breitenwachstum führt, oder ob die Einwanderung qualifizierter Personen über Wissensdiffusion auch Produktivitätsgewinne generiert.  Nach Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens im Juni 2002 unterlag die Einwanderung noch verschiedenen Einschränkungen. Erst nach Aufhebung des Inländervorrangs bei Neuanstellungen im Juni 2004 konnte das Abkommen seine volle Wirkung entfalten. Die Erfahrungen mit der neuen Ausländerpolitik beschränken sich somit auf einen kurzen und von einem günstigen konjunkturellen Klima geprägten Zeitabschnitt. Von den vorstehend erwähnten drei Punkten lassen sich deshalb nur die ersten beiden ansatzweise untersuchen. Für eine Analyse langfristiger Produktivitätswirkungen wäre das verwendete Modell ohnehin kaum geeignet, weil es Veränderungen in der qualifikatorischen Zusammensetzung der Zuwanderung nicht explizit berücksichtigt. Wirkungsanalysen wirtschaftspolitischer Änderungen sind zudem methodisch heikel, ist doch stets nur die Entwicklung unter dem tatsächlich herrschenden Regime bekannt, während die kontrafaktische Alternative konstruiert werden muss.  Im vorliegenden Kontext ist zu überlegen, wie die Entwicklung ohne freien Personenverkehr verlaufen wäre. Dies wiederum setzt ein gesamtwirtschaftliches Modell voraus, denn die Effekte der Personenfreizügigkeit bleiben nicht auf den Arbeitsmarkt beschränkt. Das für die folgenden Simulationen verwendete Modell vermag zwar die Entwicklung der Schweizer Wirtschaft gut nachzuzeichnen; es stellt aber – wie jedes andere Modell – ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit dar. Die Untersuchungsergebnisse sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren.

Szenario Status quo ante


In der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre wurden die Effekte der Personenfreizügigkeit von wechselnden Konjunktureinflüssen überlagert. Um diese Vermischung auszuschalten, soll der Übergang zur Personenfreizügigkeit zunächst in Relation zu einer konjunkturellen Normalsituation simuliert werden. Die wichtigsten Kennzahlen dieser Basissimulation sind in Tabelle 1 ausgewiesen. Mit der Bezeichnung «Status quo ante» wird zum Ausdruck gebracht, dass das mit historischen Daten geschätzte Modell die Verhältnisse vor Einführung des freien Personenverkehrs repräsentiert. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) wächst mit einer Rate von 1,93%, die Konsumteuerung beträgt 1,41%. Die Arbeitslosenquote liegt bei 2,50%. Ihr steht eine Quote der offenen Stellen von 0,89% gegenüber. Die Quote der offenen Stellen ist modellbestimmt. Die offizielle Statistik zeigt bei parallelem Verlauf tiefere Werte. In Grafik 1 ist diese Gleichgewichtsposition als Punkt auf der blauen Beveridge-Kurve (vgl. Kasten 2 Modellansatz und Beveridge-Kurve: Diese Studie basiert auf einem ökonometrischen Modell mit 32 Verhaltensgleichungen, die sich einem Nachfrageblock, einem Angebotsblock und einem monetären Block zuordnen lassen. Hilfreich für die Analyse der Personenfreizügigkeit ist die Vorstellung, dass sich der Arbeitsmarkt aus einer Vielzahl von Mikromärkten mit variierenden Nachfrage- und Angebotsverhältnissen zusammensetzt. Je grösser die Streuung dieser Verhältnisse im Querschnitt der Mikromärkte, desto schlechter passen die Strukturen von Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot aufeinander (Mismatch). In jeder Periode gibt es somit Mikromärkte mit Nachfrage- und solche mit Angebotsüberschuss. Im ersten Fall bestimmt das Angebot die tatsächliche Beschäftigung; die Nachfrage ist rationiert und offene Stellen lassen sich nicht besetzen. Im zweiten Fall bestimmt die Nachfrage die tatsächliche Beschäftigung; das Angebot ist rationiert und es herrscht Arbeitslosigkeit. Die Anteile angebots- und nachfragerestringierter Märkte sind konjunkturabhängig. Daraus resultiert im Konjunkturzyklus eine gegenläufige Bewegung von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen, wie sie in der Literatur als Beveridge-Kurve bekannt ist. Grafik 1 zeigt den aus der Modellschätzung abgeleiteten Kurvenverlauf (blau). Vermindert sich der strukturelle Mismatch, so verschiebt sich die Kurve zum Ursprung (rot).) eingetragen. In Relation zu dieser Basissimulation (BASE) lässt sich der Übergang zur Personenfreizügigkeit in Form von zwei Szenarien (ALT1, ALT2) darstellen.

Szenario ALT1: Selektive Einwanderung


In diesem Szenario greifen Unternehmen, die ihre Arbeitsnachfrage nicht voll befriedigen können, auf Ausländer zurück. Die Arbeitslosigkeit ist davon nicht direkt betroffen, denn sie ist definitionsgemäss auf das Segment der nachfragelimitierten Teilmärkte beschränkt. Die neu zuziehenden Ausländer konkurrenzieren also nicht Arbeit suchende Inländer, sondern beseitigen Personalengpässe. In einer ersten Phase der Simulation vermindert sich folglich die Zahl der offenen Stellen bei praktisch unveränderter Arbeitslosigkeit. In Grafik 1 kommt dies in einer Bewegung entlang dem schwarzen Pfeil nach unten zum Ausdruck. Zeitlich verzögert stellen sich dann stimulierende Sekundäreffekte ein. Die zuvor durch Personalmangel restringierten Unternehmen können ihre Produktion ausweiten. Dadurch erhöht sich die Auslastung der technischen Kapazitäten, was die Investitionstätigkeit antreibt. Zudem erzielen die neu zugezogenen Ausländer ein Einkommen, das sie für Konsumzwecke und Nachfrage nach Wohnraum verwenden. Schliesslich lässt die Teuerung dank verminderter Personalknappheit nach, was sich über eine verbesserte Wettbewerbsposition positiv auf die Exporte auswirkt. Aufgrund dieser Sekundäreffekte kommt es in einer zweiten Phase zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit und einem leichten Wiederanstieg der offenen Stellen. Der schwarze Pfeil folgt der zum Ursprung hin verschobenen roten Beveridge-Kurve nach links oben. Im neuen Gleichgewicht beträgt die Arbeitslosigkeit noch 1,82% (Status quo ante: 2,50%) und die Quote der offenen Stellen 0,59% (0,89%). Die gleichzeitige Abnahme von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen ist Ausdruck des verminderten strukturellen Mismatch. Weitere Kennzahlen des Szenarios ALT1 sind in Tabelle 1 ausgewiesen. An der langfristigen Wachstumsrate der Wirtschaft ändert sich nichts. Vorübergehend expandieren BIP und Beschäftigung jedoch stärker als in BASE, sodass die beiden Variablen im Niveau um 3,7% bzw. 3,6% angehoben werden. Temporär tiefere Inflationsraten lassen die Konsumentenpreise leicht zurückfallen. Die Nominallöhne reagieren kurzfristig stärker und langfristig schwächer als die Konsumentenpreise. Entsprechend resultiert kurzfristig im Vergleich zu BASE ein Reallohnrückgang, langfristig aber ein kleiner Reallohngewinn. Bemerkenswert an diesem Idealszenario ist der Umstand, dass der Beschäftigungszuwachs viel grösser ist als die zusätzliche Ausländerbeschäftigung. Etwas plakativ gesagt entstehen mit der Einstellung eines dringend benötigten ausländischen «Spezialisten» vier weitere Arbeitsplätze, die dann von arbeitslosen Einheimischen besetzt werden.

Szenario ALT2: Generelle Ausweitung des Arbeitsangebots


Die dem Szenario ALT1 zugrunde liegende Annahme, Personen aus dem Ausland würden nur Stellen besetzen, für die keine Arbeitskräfte im Inland zu finden sind, ist vermutlich zu restriktiv. Im Szenario ALT2 wird deshalb zugelassen, dass Immigranten auf nachfragerestingierten Märkten als Konkurrenten zu den inländischen Stellensuchenden hinzutreten. Modelltechnisch wird dieses Szenario implementiert, indem der «selektive» Ausländerzustrom des Szenarios ALT1 auf das gesamte Arbeitsangebot umgelegt wird. Dadurch kommt es zu einer Angebotszunahme auch in Bereichen, die durch Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. Entsprechend stehen für die Beseitigung produktionshemmender Personalengpässe weniger Personen zur Verfügung. In diesem Szenario konvergiert die Wirtschaft zwar ebenfalls zu einem höheren Aktivitätsniveau; BIP und Beschäftigung werden aber nur um 0,6% angehoben. Zudem fällt der Reallohn auch langfristig zurück. Im Gegensatz zum Szenario ALT1 ändert sich am strukturellen Mismatch nichts: Die Arbeitslosigkeit und Quote der offenen Stellen stimmen langfristig mit den Status-quo-ante-Werten überein. Vorübergehend lässt die verstärke Einwanderung die Arbeitslosigkeit ansteigen. Dieser Effekt ist gemäss Modell aber temporär, denn langfristig lohnt es sich für die Unternehmen aufgrund des Reallohnrückgangs und der steigenden Nachfrage am Gütermarkt, in zusätzliche Arbeitsplätze zu investieren. In Grafik 1 generiert dieses Szenario eine Bewegung entlang der blauen Beveridge-Kurve nach rechts unten und dann wieder zurück zum alten Gleichgewichtspunkt.

Für welches Szenario sprechen die Daten?


Im KOF-Industrietest werden die Firmen seit dem 2. Quartal 1999 gefragt, ob sie in ihrer Produktionstätigkeit durch die Verfügbarkeit von Arbeitskräften behindert waren. Der entsprechende Antwortanteil stieg in den letzten Jahren deutlich weniger stark an als 1999-2000, obwohl der jüngste Aufschwung gemessen am Produktionszuwachs stärker war. Das Bundesamt für Statistik (BFS) führt eine ähnliche Erhebung für die Gesamtwirtschaft durch. Leider wurde die Umfrage 2004 leicht verändert, indem in einer feineren Gliederung nach Qualifikationen neu nach Rekrutierungsschwierigkeiten und nicht mehr nach Personalmangel gefragt wird. Vorsichtig interpretiert deutet aber auch die BFS-Erhebung darauf hin, dass der jüngste Aufschwung wegen des erleichterten Zugriffs auf ausländische Arbeitskräfte in relativ geringem Mass durch Personalengpässe behindert wurde. Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass die Arbeitslosenquote in den letzten zwei Jahren trotz sehr starkem Beschäftigungszuwachs nur um je rund 0,5 Prozentpunkte zurückging. Von 1998 bis 2000 fiel die Arbeitslosigkeit wesentlich stärker, obwohl der Beschäftigungszuwachs schwächer war. Der Hauptgrund für den nun vergleichsweise bescheidenen Rückgang der Arbeitslosigkeit liegt im verstärkten Ausländerzustrom. Im früheren Aufschwung begann die Ausländerbeschäftigung erst 2002 anzuziehen, als der Arbeitslosen-Pool mit einer Quote von unter 2% praktisch ausgetrocknet war. Demgegenüber wuchs die Ausländerbeschäftigung im jüngsten Aufschwung bereits ab Ende 2005 mit Raten von nahezu 10%, obwohl die Arbeitslosenquote noch über 3,5% lag. Dieses Datenbild stellt Evidenz zugunsten von Szenario ALT2 dar. Typischerweise äussert sich ein Konjunkturaufschwung in einer Zunahme der offenen Stellen und einer Abnahme der Arbeitslosigkeit, d.h. einer Bewegung auf der Beveridge-Kurve nach links oben. Im jüngsten Aufschwung war diese Bewegung nur schwach. Die Personenfreizügigkeit hat dem Entstehen von Personalengpässen entgegengewirkt, gleichzeitig aber auch den Rückgang der Arbeitslosigkeit gebremst. Auf eine Verschiebung der Beveridge-Kurve zum Ursprung gemäss Idealszenario ALT1 deuten die Daten nicht hin.

Wirkungen der Personenfreizügigkeit im jüngsten Konjunkturaufschwung


Abschliessend soll mit einer weiteren Modellsimulation demonstriert werden, wie sich die Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahren ohne das Freizügigkeitsabkommen entwickelt hätte. Die Simulation startet Mitte 2004. Zu diesem Zeitpunkt setzte der jüngste Konjunkturaufschwung ein und gleichzeitig wurde der Inländervorrang aufgehoben. Überjährige Bewilligungen für EU-Ausländer waren bis Mitte 2007 weiterhin kontingentiert. Die Kontingentierung konnte aber in der Praxis umschifft werden, indem Neuanstellungen vorerst über Kurzarbeitsbewilligungen vorgenommen wurden. Ausgangspunkt des Simulationsexperiments ist die Feststellung, dass die ständige Wohnbevölkerung seit Mitte 2004 stärker gewachsen ist, als dies aufgrund der historisch geschätzten Abhängigkeit der Immigration von der Arbeitsmarktlage zu erwarten war. Weiter hat auch das gesamte Arbeitsangebot, das die nichtständigen Erwerbspersonen (Kurzaufenthalter, Grenzgänger) einschliesst, über Erwarten stark zugenommen. Dies ist teilweise einem im Modell nicht erklärten Anstieg der Erwerbsquote und teilweise der Personenfreizügigkeit zuzuschreiben. Insgesamt standen der Wirtschaft dank dem freien Personenverkehr Ende 2007 schätzungsweise 2,7% mehr Arbeitskräfte zur Verfügung. Eine Simulation, die diese Ausweitung des Arbeitsangebots unterdrückt, zeigt folglich, wie sich die Wirtschaft unter Status-quo-ante-Bedingungen vermutlich entwickelt hätte. Im Vergleich mit der tatsächlichen Entwicklung widerspiegeln sich die Effekte der Personenfreizügigkeit. Die Simulationsergebnisse sind in Grafik 2 und Tabelle 2 dargestellt. Ohne freien Personenverkehr hätte sich die Anspannung auf dem Arbeitsmarkt in letzter Zeit deutlich verschärft. Die Arbeitslosenquote wäre auf 1,7% (anstatt 2,6%) gefallen und die Quote der offenen Stellen auf 1,4% (anstatt 0,9%) gestiegen. Die Inflation hätte von durchschnittlich 1,2% auf 1,4% zugenommen. Das BIP-Wachstum, das im betrachteten Zeitraum annualisiert 3,2% betrug, hätte sich wegen der Personalknappheit auf 2,9% beschränkt, was im Niveau bis Ende 2007 einen Verlust von 0,9% ergibt. Praktisch gleich stark wäre das Beschäftigungswachstum gehemmt worden, sodass sich die Entwicklung der Arbeitsproduktivität nahezu unverändert präsentiert. Die Verwendungskomponenten des BIP hätten sich mit Ausnahme des privaten Konsums weniger dynamisch entwickelt. Gegenüber der Situation mit Personenfreizügigkeit wären insbesondere die Ausrüstungs- und Bauinvestitionen zurückgeblieben, weil Personalengpässe die Investitionstätigkeit hemmen und bei den Bauinvestitionen der nachfrageseitige Effekt des geringeren Bevölkerungswachstums hinzukommt. Der private Konsum hätte – trotz vermindertem Bevölkerungswachstum – etwas kräftiger expandiert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Arbeitslosigkeit stärker zurückgegangen wäre und die Reallöhne stärker gestiegen wären. Der Reallohn hätte am Ende der Simulationsperiode das effektive Niveau um 0,8% übertroffen. Umgekehrt formuliert lässt sich festhalten, dass die Personenfreizügigkeit dem Entstehen von Personalengpässen entgegengewirkt und so das Wirtschaftswachstum gefördert hat. Die Milderung des Personalmangels ging indessen mit einem vergleichsweise schwachen Rückgang der Arbeitslosigkeit und einem gedämpften Reallohnwachs-tum einher. Diese aus Sicht der inländischen Arbeitnehmenden negativen Folgen der Personenfreizügigkeit sind vermutlich temporärer Natur. Dafür spricht jedenfalls das vorstehend präsentierte Szenario ALT2, gemäss dem eine Ausweitung des Arbeitsangebots ein verstärktes Breitenwachstum in Gang setzt und somit langfristig keine Zunahme der Arbeitslosigkeit zur Folge hat. Grafik 2 und Tabelle 2 zeigen weiter die Ergebnisse einer Simulation, in der die Ausweitung des Arbeitsangebots selektiv in jene Arbeitsmarktsegmente geht, wo Personalengpässe die Produktion behindern. Unter dieser idealen Annahme generiert das Modell eine sehr schwache Zunahme der offenen Stellen und zugleich einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, der noch stärker ist als in der Simulation ohne Freizügigkeit. Dies entspricht einer Verschiebung der Beveridge-Kurve zum Ursprung im Sinne eines verminderten strukturellen Mismatch. Die Wachs-tumsraten von BIP und Beschäftigung kommen leicht über die tatsächlichen Werte zu liegen, und der Reallohn wächst praktisch gleich stark wie in der Simulation ohne Freizügigkeit. Die effektive Entwicklung von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen falsifiziert jedoch dieses Idealszenario. Die effektive Entwicklung folgt aber auch nicht genau dem Verlauf der Beveridge-Kurve, wie er aus der Simulation ohne Freizügigkeit hervorgeht, sondern tendiert gegen das Idealszenario mit selektiver Einwanderung. Dies ist so zu interpretieren, dass der freie Personenverkehr im jüngsten Aufschwung zwar den Abbau der Arbeitslosigkeit hemmte, in noch stärkerem Masse aber dem Entstehen von Personalengpässen entgegenwirkte.

Fazit


Dank der Personalfreizügigkeit waren die Unternehmen im Konjunkturaufschwung der letzten Jahre in vergleichsweise geringem Mass mit Personalengpässen konfrontiert. Ende 2007 lag das BIP um 0,9% höher, als dies unter den Bedingungen des Status quo ante der Fall gewesen wäre. Anderseits hat sich die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu früheren Aufschwungsphasen nur wenig zurückgebildet, und das Reallohnwachstum wurde gedämpft. Idealerweise würde die Personenfreizügigkeit zu einer Angebotsausweitung ausschliesslich in jenen Arbeitsmarktbereichen führen, wo sich offene Stellen sonst nicht besetzen lassen. Diese Vorstellung lässt sich empirisch nicht stützen. Die Daten deuten vielmehr darauf hin, dass der freie Personenverkehr neben der Beseitigung von Personalengpässen auch eine Konkurrenzierung einheimischer Arbeitssuchender in anderen Arbeitsmarktbereichen zur Folge hat. Dem mag unter Effizienzgesichtspunkten der Vorteil gegenüberstehen, dass die freien Stellen so mit besser qualifizierten Leuten besetzt werden können. Bei einfachen Tätigkeiten fällt dieser Vorteil vermutlich weniger ins Gewicht. Hier wäre zu überlegen, wie man nach Aufhebung des Inländervorrangs die Anstellungschancen einheimischer Arbeitssuchender intakt halten kann. In methodischer Hinsicht ist nochmals zu betonen, dass sich die Ergebnisse dieser Studie, soweit sie empirisch gestützt sind, auf eine Aufschwungsphase beziehen. Über die langfristigen Folgen der Arbeitsmarktöffnung, die auch das Verhalten in konjunkturellen Schwächephasen sowie mögliche Produktivitätseffekte einer veränderten qualifikatorischen Zusammensetzung der Zuwanderung einschliessen, kann derzeit nur spekuliert werden.

Grafik 1 «Effektive und simulierte Entwicklung der Arbeitslosenquote und der Quote der offenen Stellen, 3. Quartal 2004 – 4. Quartal 2007»

Grafik 2 «Beveridge-Kurve und Gleichgewichts-Arbeitslosigkeit im «Status quo ante» (BASE) und bei Personenfreizügigkeit (ALT1, ALT2)»

Tabelle 1 «Gleichgewichtssituation im «Status quo ante» und bei Personenfreizügigkeit»

Tabelle 2 «Effektive und simulierte Wirtschaftsentwicklung, 3. Quartal 2004 – 4. Quartal 2007 Wachstum annualisiert (1) und Niveaudifferenz vs. Effektiv (2), in %»

Kasten 1: Prospektive Studien zu den Wirkungen eines EU- oder EWR-Beitritts Mit Blick auf den Integrationsbericht 1999 hatte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) 1998 prospektive Studien zu den Auswirkungen dreier Integrationsszenarien veranlasst: «Status quo», «EWR-Beitritt», «EU-Beitritt». Der Autor des nachstehenden Artikels war Co-Autor einer dieser Studien.a Er untersuchte damals die Anpassung an den neuen Rechtsrahmen, insbesondere die Personenfreizügigkeit, in prospektiver Weise. Mit einem vergleichbaren Modell zieht er nachstehend ein erstes Zwischenergebnis zur tatsächlich eingetretenen Entwicklung nach Einführung der Personenfreizügigkeit.

a Jürg Bärlocher, Bernd Schips, Peter Stalder, KOF/ETH Zürich: Makroökonomische Auswirkungen eines EU-Beitritts der Schweiz, Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit, Bern, 1999.

Kasten 2: Modellansatz und Beveridge-Kurve Diese Studie basiert auf einem ökonometrischen Modell mit 32 Verhaltensgleichungen, die sich einem Nachfrageblock, einem Angebotsblock und einem monetären Block zuordnen lassen. Hilfreich für die Analyse der Personenfreizügigkeit ist die Vorstellung, dass sich der Arbeitsmarkt aus einer Vielzahl von Mikromärkten mit variierenden Nachfrage- und Angebotsverhältnissen zusammensetzt. Je grösser die Streuung dieser Verhältnisse im Querschnitt der Mikromärkte, desto schlechter passen die Strukturen von Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot aufeinander (Mismatch). In jeder Periode gibt es somit Mikromärkte mit Nachfrage- und solche mit Angebotsüberschuss. Im ersten Fall bestimmt das Angebot die tatsächliche Beschäftigung; die Nachfrage ist rationiert und offene Stellen lassen sich nicht besetzen. Im zweiten Fall bestimmt die Nachfrage die tatsächliche Beschäftigung; das Angebot ist rationiert und es herrscht Arbeitslosigkeit. Die Anteile angebots- und nachfragerestringierter Märkte sind konjunkturabhängig. Daraus resultiert im Konjunkturzyklus eine gegenläufige Bewegung von Arbeitslosigkeit und offenen Stellen, wie sie in der Literatur als Beveridge-Kurve bekannt ist. Grafik 1 zeigt den aus der Modellschätzung abgeleiteten Kurvenverlauf (blau). Vermindert sich der strukturelle Mismatch, so verschiebt sich die Kurve zum Ursprung (rot).

Zitiervorschlag: Peter Stalder (2008). Personenfreizügigkeit: Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum. Die Volkswirtschaft, 01. November.