Anreizwirkungen in der beruflichen Vorsorge – eine Gleichgewichtsanalyse
In der wirtschaftspolitischen Diskussion zur demografischen Alterung steht primär die künftige Finanzierung der Sozialwerke zur Debatte. Aus ökonomischer Sicht ist jedoch nicht nur der direkte finanzielle Mittelbedarf von Bedeutung, sondern insbesondere die gesamtwirtschaftlich relevanten Anreizwirkungen des Systems und seiner allfälligen Reform. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, den Auswirkungen der veränderten Demografie direkt zu begegnen: durch reduzierte Leistungen für künftige Rentner, erhöhte Beiträge der aktiven Bevölkerung oder eine Erhöhung des Rentenalters. Der gemeinsame Nenner aller drei Massnahmen aus individueller Sicht ist eine Abnahme der Leistungen im Verhältnis zu den Beiträgen. Die Wirksamkeit dieser Massnahmen hängt stark von der konkreten Ausgestaltung des Vorsorgesystems und von den davon ausgehenden Arbeitsmarktanreizen ab (siehe Kasten 1).Im Folgenden werden die Auswirkungen verschiedener Reformen in der zweiten Säule auf die Arbeitsmarktanreize diskutiert. Die Ausführungen basieren auf Berechnungen mit einem intertemporalen Simulationsmodell überlappender Generationen im allgemeinen Gleichgewicht, welches die im Kasten beschriebenen Anreizwirkungen sowie die prognostizierte demografische Entwicklung in der Schweiz detailliert abbildet.1
Zweite Säule – Handlungsfelder
In der zweiten Säule werden die Beiträge in individuellen Konten mit Zins und Zinseszins akkumuliert, sodass für die Finanzierung der Pensionen nicht nur die Beiträge, sondern auch die darauf erzielten Kapitalerträge zur Verfügung stehen. Das aggregierte Vermögen der Pensionskassen beträgt heute zwischen 120% und 130% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Die Renten werden nach versicherungstechnischen Prinzipien berechnet, wobei die Höhe der Renten bei der Umwandlung des Alterskapitals zentral von der Restlebenserwartung und damit von der erwarteten Bezugsdauer abhängt. Die Renten der beruflichen Vorsorge steuern im Durchschnitt etwa 35% zum gesamten Renteneinkommen im Alter bei. Daraus ergibt sich eine Ersatzquote von 21% bezüglich des letzten Arbeitseinkommens.Die starke Fragmentierung der zweiten Säule führt zu beträchtlichen Verwaltungskosten, was die Nettokapitalmarktrendite gegenüber der privaten Vorsorge reduziert. Eine Besonderheit des schweizerischen Systems ist die Beitragsstaffelung, die zu einer hohen Beitragsbelastung für die älteren und zu einer tiefen für die jüngeren Gruppen führt. Die Befürchtung besteht, dass dies die Beschäftigungschancen der älteren Arbeitnehmenden beeinträchtigt, für welche die Lohnkosten aus anderen Gründen schon sehr hoch sind. Dies wäre angesichts der Notwendigkeit für eine längere Lebensarbeitszeit ungünstig.In Tabelle 1 werden die volkswirtschaftlichen Auswirkungen verschiedener Reformen der zweiten Säule dargestellt. Neben der heutigen Situation («Ist») ist das demografische Basisszenario («Alter») die Referenz zur Beurteilung unterschiedlicher Reformszenarien. Letzteres basiert auf den demografischen Prognosen für die Schweiz bis 2050 mit einem markanten Wachstum der Alterslastquote. Die Politikänderungen sind kumulativ zu verstehen und kommen zum jeweils vorherigen Szenario dazu.
Einheitliche Altersgutschriften
In einem ersten Szenario («Einh») werden die heute nach Altersgruppe gestaffelten Altersgutschriften vereinheitlicht, um die Zusatzbelastung der älteren Arbeitnehmenden (mit den entsprechenden negativen Anreizwirkungen auf ihre Beschäftigung) zu beseitigen. Der altersunabhängige, einheitliche Beitragssatz wird endogen so bestimmt, dass bei unverändertem Verhalten unveränderte Renten erzielt werden. Die Nivellierung der Beitragssätze ist per Konstruktion aufkommensneutral und führt weder zu einem Ausbau noch zu einer Schrumpfung der zweiten Säule; es werden dieselben Pensionen finanziert. Auch im Staatsbudget gibt es keinen erkennbaren Anpassungsbedarf. Die einzige merkbare Änderung in diesem Szenario könnte bezüglich des Arbeitsmarktverhaltens über den Lebenszyklus auftreten. Allerdings haben die Beiträge zum kapitalgedeckten System fast keinen Steuercharakter. Gesamtwirtschaftliche Auswirkungen der Massnahme sind deshalb praktisch nicht existent und liegen im Unschärfebereich des Modells.
Reduzierte Verwaltungskosten
In der Vergangenheit wurden u.a. von der Weltbank die starke Fragmentierung und die Unübersichtlichkeit des Systems mit einer Vielzahl unabhängiger Pensionskassen – und damit die tiefen Renditen – kritisiert. Das Szenario «Admin» beschreibt die langfristigen Auswirkungen, die sich aus einer Halbierung der administrativen Kosten ergeben würden. Da der effektive Steuersatz schon sehr klein ist und deshalb das Kapitaldeckungsverfahren auf den Arbeitsmarkt im Wesentlichen neutral wirkt, kann diese Massnahme das Arbeitsmarktverhalten nur schwach beeinflussen. Verglichen mit dem Szenario «Einh» sinken die effektiven Steuersätze auf die Arbeitssuche, den Ruhestand und das Arbeitsangebot leicht, sodass insgesamt ein Beschäftigungsgewinn resultiert. Die unmittelbaren und relevantesten Auswirkungen liegen in der höheren Ersatzquote für Pensionen, die von 51% auf 54% ansteigt. Aus denselben Beitragsleistungen können mehr Beitragskapital und damit höhere Pensionen finanziert werden, wenn sich die Beitragssumme besser verzinst. Obwohl die Einsparungen in den Verwaltungskosten nur geringe Arbeitsmarktwirkungen auslösen, ergeben sich daraus beachtliche Wohlfahrtsgewinne. Diese liegen darin, dass mit demselben Konsumverzicht heute – in Form der Beitragsleistung – ein höheres Einkommen im Alter finanziert werden kann. Der private Pro-Kopf-Konsum kann daher langfristig um 1,5 Prozentpunkte höher ausfallen.
Ausbau der Kapitaldeckung
Das Szenario «Ausbau» untersucht die möglichen Vor- und Nachteile, die entstehen, wenn die kapitalgedeckte Säule ausgebaut und die umlagefinanzierte Säule – in einem Ausmass, dass die Pensionsersatzquote insgesamt ungefähr konstant bleibt – zurückgefahren wird.Der Übergang zu einem stärker kapitalgedeckten System hat eine Reihe von günstigen Arbeitsmarktwirkungen, welche die effektive Beschäftigung insgesamt um beinahe 3 Prozentpunkte steigern; der Rückgang aufgrund der Demografie beträgt nur mehr -0,5% anstatt –3,3% im Szenario «Admin». Die kapitalgedeckten Beiträge haben – wie bereits erwähnt – nur geringen Steuercharakter. Indem die Mischfinanzierung der Alterspensionen zugunsten der kapitalgedeckten Säule verschoben wird, kann die effektive Lohnsteuerlast reduziert werden. Mit der geringeren Steuer- und Beitragsbelastung sinken die effektiven Steuersätze auf geleistete Arbeitsstunden, die Erwerbsbeteiligung der aktiven Arbeitnehmenden und die Stellensuche um jeweils etwa 3 Prozentpunkte. Der effektive Teilnahmesteuersatz der älteren Arbeitnehmenden vor dem Ruhestand sinkt noch stärker um etwa 7 Punkte. Dieser niedrigere Satz − und damit die kräftigen Anreize für eine aufgeschobene Pensionierung − beruhen auf der geringeren Beitragsbelastung (insgesamt 6 Punkte), welche die Beschäftigung relativ zur Pension begünstigen. Die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 70-Jährigen steigt dadurch von 46% auf 51%; die durchschnittliche Arbeitslosenrate fällt um fast einen Prozentpunkt, nämlich von 3,2% auf 2,4%. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind somit langfristig sehr günstig, wobei die Absenkung der Arbeitslosenrate und der Anstieg des Ruhestandsalters am wichtigsten sind.Mit dem Ausbau der Kapitaldeckung sind allerdings zwei Schwierigkeiten verbunden: Erstens wird der Ausbau mit einer Doppelbelastung während der Übergangsphase erkauft, und zweitens ist die Alterssicherung in der zweiten Säule mit höheren Einkommensrisiken – durch schwankende Beiträge oder schwankende Leistungen, je nach erzielbaren Kapitalmarktrenditen – verbunden. Damit stellt sich die Frage nach einer optimalen Mischung, die mit einem Ausbau der Kapitaldeckung verbessert oder auch verschlechtert werden kann. Die unterschiedlichen Risiken der beiden Säulen können mit dem verwendeten Modell nicht bewertet werden. Die Werte in Grafik 1 geben jedoch einen Eindruck von den intergenerativen Umverteilungseffekten, die sich aus dem Übergang zu einer stärkeren Kapitaldeckung im Vergleich zum Szenario «Admin» ergeben.Die heute jungen Generationen müssen im Übergang eine Doppelbelastung tragen, weil zunächst die Beitrags- und Steuerlast ansteigt und sie zusätzlich im Alter nur mehr eine geringere AHV-Rente erwarten können, die ja mit einer höheren Pension aus der beruflichen Vorsorge ersetzt werden soll. So verzeichnet beispielsweise die Gruppe der 20- bis 30-Jährigen einen Wohlfahrtsverlust von 1,5% des vollen Konsums (der erste Balken der eingeblendeten Grafik ist identisch mit dem Anfangspunkt der Zeitreihe). Im hier vorgestellten Szenario dauert es etwa 3 Jahrzehnte, bis eine neue Generation über ihren gesamten Restlebenshorizont eine höhere Wohlfahrt erzielen kann. Die langfristigen Wohlfahrtsgewinne in Tabelle 1 – gemessen am Konsum – aus dem Übergang zu einem stärker kapitalgedeckten System sind mit Wohlfahrtsverlusten von jungen Generationen in der Übergangsperiode erkauft. Jede Politik der intergenerativen Umverteilung, sofern realistische Instrumente – z.B. eine massive Staatsverschuldung zur Lastenverschiebung in die Zukunft – dafür überhaupt zur Verfügung stehen, müsste zukünftige Generationen belasten, damit sie gegenwärtige Generationen kompensieren bzw. an den Effizienzgewinnen teilhaben lassen kann. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass die langfristigen Wohlfahrtsgewinne reduziert werden.
Verschiebung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen
Ein in Tabelle 1 nicht dargestelltes Szenario untersucht die Auswirkungen aus einer Verschiebung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur beruflichen Vorsorge. Bisweilen wird die Sorge geäussert, dass die Arbeitgeberbeiträge für die Unternehmen Lohnnebenkosten darstellen, vollen Steuercharakter haben und damit Arbeitsnachfrage und Beschäftigung beeinträchtigen. Dem ist jedoch nicht so. Wenn in diesem Szenario die Arbeitgeberbeiträge auf null gesetzt und vollständig den Arbeitnehmerbeiträgen zugeschlagen werden, bleibt dies nicht ohne Konsequenzen für die Lohnbildung. Bei der Lohnbemessung wird nämlich berücksichtigt, dass die Unternehmen nun Beiträge einsparen und die Arbeitnehmenden die ganze Beitragslast übernehmen müssen. Diese wird beinahe vollständig auf den Bruttolohn überwälzt, der entsprechend stark ansteigt. Somit bleibt die Massnahme fast vollständig neutral und hat kaum Auswirkung auf das Arbeits-Angebotsverhalten, die effektive Beschäftigung und die Einkommen. So bestätigt sich die klassische Einsicht, dass es für die Steuerinzidenz im Allgemeinen nicht darauf ankommt, wo die Steuern bzw. die Beiträge anknüpfen.
Fazit
Wo das optimale Verhältnis zwischen der umlagefinanzierten und der kapitalgedeckten Säule der Altersvorsorge genau liegt, ist schwierig zu ermitteln und kann mit dem verfügbaren Modell nicht beantwortet werden. Die vorausgegangenen Ausführungen legen jedoch die Vermutung nahe, dass das schweizerische System nicht allzu weit davon entfernt ist. Durch einen Ausbau der Kapitaldeckung dürften also nur geringe Effizienzsteigerungen möglich sein.
Christian Jaag, PhD
Managing Partner bei Swiss Economics, Lehrbeauftragter an der Universität St.Gallen
Dr. Mirela Keuschnigg
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IFF-HSG, Universität St.Gallen
Anreizwirkungen der Altersvorsorge
Die wichtigste Anreizwirkung der Altersvorsorge betrifft die Ruhestandsentscheidung: Lohnt sich eine längere Erwerbstätigkeit oder ist es gar besser, die Pensionierung vorzuziehen? Um der Tendenz zur Frühpensionierung vorzubeugen, sollte das System den späteren Pensionsantritt mit Pensionszuschlägen belohnen und bei vorgezogenem Ruhestand Pensionsabschläge vornehmen. Bei der kapitalgedeckten Vorsorge werden die Zu- und Abschläge automatisch nach versicherungstechnischen fairen Gesichtspunkten berechnet, sodass in diesem Teil die richtigen Anreize für eine längere Erwerbstätigkeit gesetzt werden. Die Altersvorsorge kann sich auch negativ auf das Arbeitsmarktverhalten der aktiven Arbeitnehmer auswirken. Wenn die Pensionsleistungen nur unvollständig an die eigenen Beiträge gekoppelt und auch nicht verzinst werden, dann haben die AHV-Beiträge teilweise Steuercharakter und belasten wie die anderen Steuern und Abgaben die Arbeitsleistungen der Erwerbstätigen. Aus den gleichen Gründen können AHV-Beiträge die Anreize der Arbeitnehmenden zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und die Anreize zur Stellensuche bei Arbeitslosigkeit negativ beeinflussen. Je höher die Steuer- und Beitragsbelastung eines Beschäftigten ist, desto schwächer sind die Anreize, eine Erwerbstätigkeit überhaupt anzustreben oder bei Arbeitslosigkeit eine Stelle zu suchen. Dagegen haben die Beiträge zur kapitalgedeckten Säule kaum einen Steuercharakter, weshalb von ihnen auch keine negativen Anreize ausgehen. Das Alterssicherungssystem setzt schliesslich auch Anreize für die individuellen Aus- und Weiterbildungsentscheidungen. Investitionen in die eigene Ausbildung sind attraktiv, wenn sie einen grossen Ertrag abwerfen und über eine lange Zeit amortisiert werden können. Wenn das Alterssicherungssystem Frühpensionierungen fördert, dann macht es Bildungsinvestitionen weniger attraktiv.
Literatur
− Jaag, C., C. Keuschnigg und M. Keuschnigg (2008), Alterung, Sozialwerke und Institutionen, Studie im Auftrag des SECO, Universität St. Gallen.
− Jaag, C., Education, Demographics, and the Economy, Journal of Pension Economics and Finance, forthcoming.
− Fisher, W. H. und C. Keuschnigg, Pension Reform and Labor Market Incentives. Journal of Population Economics, forthcoming.
− Queisser, M. und D. Vittas (2000), The Swiss Multi-Pillar Pension System: Triumph of Common Sense?, Policy Research Working Paper 2416, The World Bank.
Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, den Auswirkungen der veränderten Demografie zu begegnen: durch reduzierte Leistungen für künftige Rentner, erhöhte Beiträge der aktiven Bevölkerung oder eine Erhöhung des Rentenalters. Die Analyse zeigt, dass die Wirksamkeit der einzelnen Massnahmen stark von der konkreten Ausgestaltung des Vorsorgesystems und von den davon ausgehenden Arbeitsmarktanreizen abhängt.Bild: Keystone
Zitiervorschlag: Jaag, Christian; Keuschnigg, Mirela (2009). Anreizwirkungen in der beruflichen Vorsorge – eine Gleichgewichtsanalyse. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.