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Sozialwerke und Arbeitsmarkt – eine langfristige Betrachtung

Demografische Alterung und Finanzierung der Sozialwerke werden auch in den kommenden Jahrzehnten Themen der politischen Agenda bleiben. Denn eine nachhaltige Lösung dieser Probleme ist weder in der Schweiz noch im Ausland in Sicht. Während heute auf jeden Rentner knapp vier Erwerbstätige kommen, werden es bis 2050 nur noch zwei sein. Dass hier ein Ausweg in Form eines genialen Befreiungsschlags gefunden werden kann, ist nicht zu erwarten. Fortschritte lassen sich schon eher über schrittweise Anpassungen und eine Optimierung des Bestehenden erzielen. Im vorliegenden Dossier wird in zwei Artikeln eine grössere Forschungsarbeit vorgestellt, die bei der Analyse der Auswirkungen sozialpolitischer Institutionen auf die Wirtschaft eine Lücke schliesst.


Solide Grundlagearbeiten bei der Finanzierungsfrage

In der Schweiz sind die Grundlagearbeiten bei der Finanzierungsfrage weit fortgeschritten. Ausgehend von den Arbeiten der interdepartementalen Arbeitsgruppe «Finanzierung der Sozialversicherungen» in den Neunzigerjahren ist eine Szenarienkultur entstanden, welche darüber Auskunft gibt, wie der zu erwartende Finanzierungsbedarf in den kommenden Jahren sein wird und mit welchen Einnahmearten der Mehrbedarf volkswirtschaftlich am besten abgedeckt werden kann.1 Die Ergebnisse der Szenarien sind nach heutigem Wissen sehr robust und eignen sich vorzüglich als politische Entscheidungsgrundlage.


Lücken in der bestehenden Szenarienkultur

Offen lassen diese Szenarien hingegen zwei Fragen von zentraler Bedeutung – nämlich die Rückwirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den Arbeitsmarkt. Diese Lücke muss aus zwei Gründen geschlossen werden:Erstens: Die Veränderung von Abgaben für die Finanzierung der Sozialwerke kann grossen Einfluss auf die Beteiligung am Arbeitsmarkt haben. Hier gilt: Je mehr netto vom Lohn bleibt, desto stärker bemühen sich die Leute darum, einer Arbeit nachzugehen − selbst dann, wenn die Erwerbstätige nicht nur materielle, sondern auch ideelle Interessen an der Arbeit haben. Wirtschaftlich gesehen sind aber nicht alle Ausgaben schlecht. Ausgaben für die Altersvorsorge können – wie der Begriff es richtig sagt – eine Sparkomponente haben und vom Versicherten gewollt sein. Man kann sogar so weit gehen, dass auch Umverteilung – wie etwa die Absicherung des lebensnotwendigen Einkommens durch die AHV – vom Zahlenden erwünscht sein kann. In diesem Falle wirken sich solche Abgaben wenig auf das Erwerbsverhalten aus. Die Beliebtheit der AHV dürfte zu einem grossen Teil auf diese Mechanismen zurückzuführen sein. Negativ wirken sich dagegen Abgaben aus, die nicht rentenbildend sind und in eine von den Beitragszahlenden ungewollte Umverteilung einfliessen. Diese Ausgaben kommen einer Lohnsteuer nahe. Das bedeutet: Arbeit lohnt sich nicht. Zweitens: Viele europäische Länder mussten die Erfahrung machen, dass sich zu generöse Leistungen der Vorsorgeeinrichtungen negativ auf das Erwerbsverhalten auswirken können. Aus Motiven der Beschäftigungspolitik wurde ein früher Ausstieg aus dem Erwerbsleben versüsst. Die Lissabonstrategie der EU zielt darauf ab, diese Fehlentwicklung wenigstens teilweise rückgängig zu machen. Dies bedeutet nicht, dass ein wirtschaftlich sinnvolles System schlechte Renten zahlen soll, ganz im Gegenteil. Vielmehr soll mit den nötigen Korrekturen und der Aussicht auf eine gute Rente die Erwerbsbeteiligung begünstigt werden. Je höher jedoch das gewünschte Rentenniveau, desto stärker muss aus arbeitsmarktlicher Sicht auf die Anreizneutralität der Regelungen im Hinblick auf einen vorzeitigen Ruhestand geachtet werden.2


Neues Instrument zur Analyse der volkswirtschaftlichen Auswirkungen

Der Bundesrat ist verpflichtet, bei wirtschaftspolitisch relevanten Botschaften ein Kapitel über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen vorzulegen. Mit der vorliegenden Studie wurde nun ein Werkzeug geschaffen, um dies bei grundlegenden Entscheiden auf einer methodisch sauberen Basis zu bewerkstelligen. Verschiedentlich wurde sowohl von Politikern als auch Wissenschaftlern eine vertiefte und formalere Auseinandersetzung mit den arbeitsmarktlichen Aspekten institutioneller Regelungen gewünscht.


Methodenvielfalt

Die Erfahrungen mit der Finanzkrise haben uns gelehrt, dass es gefährlich ist, sich bei politischen Entscheiden auf eine einzige oder eine begrenzte Klasse von Modellen abzustützen. Aus diesem Grunde lohnt es sich in hohem Masse, die Vorsorgeeinrichtungen aus verschiedenen methodischen Ansätzen anzugehen. Während bislang die ökonomischen Aussagen aufgrund summarischer ökonomischer Überlegungen abgefasst wurden, wird mit den Arbeiten der Forschergruppe um Prof. Christian Keuschnigg ein berechenbares Gleichgewichtsmodell eingesetzt. Dies soll die Robustheit und Verlässlichkeit der Aussagen erhöhen, indem die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen Sozialversicherungen, Beschäftigung und Wachstum rigoros berücksichtigt werden.


Auf lange Frist angelegte Analyse

Ein weiterer Aspekt ist die auf sehr lange Frist ausgelegte Analyse. Dies ist von zwei Gesichtspunkten her gerechtfertigt: Änderungen in den sozialen Institutionen allgemein und der Vorsorge im Speziellen wirken sehr langfristig. Nachträgliche Korrekturen sind teuer. Dies muss bei der Analyse beachtet werden. Weiter hat die lange Frist den Vorteil, dass die Auswirkungen von Massnahmen deutlich zu Tage treten. Das erlaubt eine langfristig sinnvolle Ausrichtung der Politik.


Stärkung des ökonomischen Gesichtswinkels

Wie bereits erwähnt, steht den ausgereiften finanzpolitischen und sozialpolitischen Analysen kein entsprechend entwickelter ökonomischer Ansatz gegenüber. Die ökonomische Analyse zeigt einen wichtigen Aspekt auf, ist aber nicht allein relevant. Bildlich gesprochen entspricht die ökonomische Analyse einem Röntgenbild, welches die tragenden Strukturen, aber nicht den gesamten Menschen abbildet. Das Vorlegen der ökonomischen Analyse soll nicht heissen, dass gesellschafts- und sozialpolitische Aspekte oder Finanzierungsfragen vernachlässigt werden sollen.


Ein Blick auf die Resultate der Studie

Im Artikel von Christian Keuschnigg werden die Grundlagen der Analyse aufgezeigt. Dabei wird klar, dass die durch die Finanzierung der Sozialwerke ausgelösten Anreize eine zentrale Rolle spielen. Der demografische Schock auf die Wohlfahrt kann erheblich gemildert werden, wenn es gelingt, die Erwerbsbeteiligung hoch zu halten. Im quantitativen Teil wird aufgezeigt, welche relative Bedeutung die verschiedenen Handlungsalternativen haben. Es sei hier betont, dass es sich dabei nicht um ein politisches Programm, sondern um die Abschätzung von Grössenordnungen in der sehr langen Frist handelt. Der Artikel von Christian Jaag und Mirela Keuschnigg analysiert mögliche Reformen innerhalb der beruflichen Vorsorge. – Gemäss dem Modell würde eine Vereinheitlichung der abgestuften Altersgutschriften keinen Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben. Dies bestätigt die Stossrichtung der Beantwortung des Postulats Polla in dieser Frage.3 – Die Verschiebung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen hat gemäss dem Modell kaum Auswirkung auf das Arbeits-Angebotsverhalten, die effektive Beschäftigung und die Einkommen.– Die starke Fragmentierung und Unübersichtlichkeit der zweiten Säule führt zu erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten. Wohlfahrtsgewinne wären möglich: Mit demselben Konsumverzicht heute (in Form der Beitragsleistung) könnte ein höheres Einkommen im Alter finanziert werden.– Die Studie bejaht zwar, dass mit einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren Effizienzgewinne möglich wären. Jedoch wären einschneidende Umverteilungen während sehr langer Übergangsfristen unvermeidbar. Deren Abfederung würde die langfristigen Wohlfahrtsgewinne erheblich mindern.


Fazit

Wie bereits erwähnt, war es nicht Aufgabe der Arbeit, ein Reformprogramm auszuarbeiten, sondern vielmehr, Handlungsfelder zu diskutieren und Grössenordnungen abzuschätzen. Die gewählte lange Frist hat dabei den Vorteil, dass die Veränderungen deutlich zu Tage treten. Die in den beiden Artikeln des Forscherteams beschriebenen Arbeiten füllen eine Lücke, die es uns erlauben wird, in Zukunft die Entscheidungsgrundlagen zuhanden der Politik zu verbessern.


1 Vgl. BSV (2006/1) und BSV (2008).2 Vgl. SECO (2005).3 Vgl. BSV (2006/2).


Hinweis

Der ausführliche Bericht zur Studie kann auf www.seco.admin.ch, Rubriken «Dokumentation», «Publikationen und Formulare», «Veröffentlichungsreihen» heruntergeladen werden. Für das Frühjahr 2009 ist eine Veranstaltung geplant, an der die Ergebnisse der Studie vorgestellt und diskutiert werden.

Literatur

− BSV (2008), Zukunft der Sozialwerke, Bericht für die Bundesratsklausur vom 26.November 2008 (www.bsv.admin.ch).

− BSV (2006/1), Bericht über die Entwicklung der Sozialwerke und die Stabilisierung der Soziallastquote in Erfüllung des Postulats 00.3743. Baumann J. Alexander vom 15.Dezember 2000.

− BSV (2006/2), Massnahmen zur Förderung der Beschäftigung älterer Arbeitskräfte – insbesondere Änderung der Staffelung der Altersgutschriften in der beruflichen Vorsorge. Bericht des Bundesrates in Beantwortung der Postulate Polla (02.3208) und CVP-Fraktion (05.3651).

− SECO (2005), Partizipation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Synthesebericht. Massnahmenvorschläge: Bereich Sozialversicherungen, Gesundheit am Arbeitsplatz, Arbeitsmarktfähigkeit. Gemischte EVD/EDI-Leitungsgruppe «Partizipation älterer Arbeitnehmer».


Zitiervorschlag: Werner Aeberhardt (2009). Sozialwerke und Arbeitsmarkt – eine langfristige Betrachtung. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.