Automatische Stabilisatoren stärken und wirken lassen
Grundsätzlich sind sich Ökonomen einig, dass zur Stabilisierung der Konjunktur die Geldpolitik vor der Fiskalpolitik Vorrang haben soll. Denn die Geldpolitik kann über das Zinsinstrument wesentlich rascher und unkomplizierter auf Abschwünge und Verwerfungen an den Märkten reagieren. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat dies angesichts des drohenden Kollapses am Geldmarkt im vergangenen Herbst denn auch beherzt getan und den Zielsatz für den Dreimonats-Libor seit dem Oktober letzten Jahres um insgesamt 225 Basispunkte gesenkt. Die angepeilte Wirkung ist nicht ausgeblieben: Die Situation am Interbankenmarkt hat sich stabilisiert, und der Libor-Repo-Spread hat sich deutlich zurückentwickelt, wenn auch nicht auf das Niveau vor Ausbruch der Finanzmarktkrise. Die drastische Intervention der SNB wurde allerdings zum Preis erkauft, dass seither der Reposatz praktisch bei null liegt. Da der Nominalzins nicht negativ sein kann, ist das klassische Zinsinstrumentarium der Nationalbank ausgereizt. Faktisch befindet sich somit die schweizerische Volkswirtschaft in einer Liquiditätsfalle. Die Geldpolitik muss daher auf unkonventionellere Instrumente zurückgreifen. Ein solcher Einsatz ist aber mit Risiken verbunden und die Wirkung − vor allem zur Konjunkturstabilisierung – noch sehr ungewiss. Abgesehen von Devisenmarktinterventionen im Falle einer starken Aufwertung des Schweizer Frankens wird deshalb von der Geldpolitik zur direkten Stimulierung der Realwirtschaft kein nennenswerter Impuls mehr ausgehen können.
Vertrauen auf die automatischen Stabilisatoren
Im Gegensatz etwa zu den USA, die gegenwärtig mit einem rekordhohen Stimulierungspakt vorangehen, verfügt die Schweiz – wie auch andere Kleinstaaten in Europa – über ausgeprägte automatische Stabilisatoren, die ein antizyklisches Ausgabeverhalten ohne spezielles Dazutun der Politik bewirken. Ein erster wichtiger automatischer Stabilisator ist auf Bundesebene in der Schuldenbremse eingebaut. Aufgrund der Konstruktion der Schuldenbremse darf der Ausgabenplafond in wirtschaftlichen Abschwungphasen über die budgetierten Einnahmen hinausgehen. Vor allem die Erträge aus der Unternehmens- und der direkten Einkommenssteuer, die wegen des progressiven Steuertarifs in der Regel überproportional auf eine wirtschaftliche Verlangsamung reagieren, werden deutlich weniger ergiebig ausfallen. Es ist daher absehbar, dass 2009 und sicher auch 2010 wieder ein hoher Ausgabenüberschuss resultieren wird. Solche Ausgabenüberschüsse sind in der gegenwärtigen Lage so lange zu tolerieren, wie sie mit der Schuldenbremse konform sind. Sie sollten nicht durch Ad-hoc-Sparprogramme konterkariert werden. Dasselbe gilt für die Kantone, die sich ebenfalls mit Mindererträgen konfrontiert sehen. Ein in der Vergangenheit immer wieder begangener Fehler war, dass die Kantone in konjunkturellen Abschwungphasen in-folge abnehmender Einnahmen die Ausgaben drastisch einschränkten und so gesamtwirtschaftlich eine ausgeprägt prozyklische Fiskalpolitik resultierte.1 Um zu verhindern, dass die expansivere Ausgabenpolitik des Bundes nicht durch eine restriktive Ausgabenpolitik der Kantone wieder neutralisiert wird, muss die Fiskalpolitik des Bundes dringend mit jener der Kantone koordiniert werden. Ein zweiter wichtiger automatischer Stabilisator ist die Arbeitslosenversicherung (ALV). Überschlagsmässig gerechnet lösen im Jahresdurchschnitt 10000 Arbeitslose bei der ALV Ausgaben von 300 bis 400 Mio. Franken aus. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) geht fürs laufende Jahr von 170000 Arbeitslosen aus, was gegenüber 2008 einer Zunahme von 60000 Arbeitslosen entspricht. Dies allein wird zusätzliche Ausgaben von 1,8 bis 2,4 Mrd. Franken bewirken, die überwiegend in den Konsum fliessen. Darin nicht eingerechnet ist eine allfällige Verlängerung der Bezugsdauer für Kurzarbeit von 12 auf 18 Monate, welche die Funktion der ALV als automatischer Stabilisator stärkt und nochmals erhebliche Zusatzausgaben mit sich bringen wird. Insgesamt dürfte für 2009 von den automatischen Stabilisatoren auf Bundesebene ein Fiskalimpuls in der Grössenordnung von grob geschätzten 3 bis 4,5 Mrd. Franken ausgehen. Zählt man die Kantone und die übrigen Körperschaften mit Ausgabenkompetenzen hinzu, wird von den automatischen Stabilisatoren insgesamt ein Fiskalimpuls von vorsichtig geschätzten 1% bis 2% des Bruttoinlandproduktes (BIP) ausgehen.
Langfristperspektive auf die Verschuldungssituation im Auge behalten
Angesichts der Grössenordnung dieses Fiskalimpulses sind zusätzliche Massnahmen kaum mehr notwendig. Dies umso mehr, als frühere Stabilisierungsprogramme nicht gerade mit einem klaren Leistungsausweis glänzen können. In einem jüngst erschienenen Aufsatz weisen Reinhart und Rogoff2 darauf hin, dass eine der wohl wichtigsten Erfahrungen aus Finanzmarkt- und Bankenkrisen die immense Zunahme der Staatsverschuldung ist. In den von den Autoren untersuchten Krisen weitete sich die Staatsverschuldung im Durchschnitt in den drei Jahren nach Ausbruch um 85% aus. Dafür verantwortlich waren weniger die Kosten der Rettungsaktionen zugunsten von Finanzinstituten als vielmehr der Einbruch der Steuereinnahmen aufgrund einer lang anhaltenden Stagnationsphase. Auch wenn für die Schweiz nicht unbedingt mit einem derart massiven Anstieg der Verschuldung zu rechnen ist, muss dennoch berücksichtigt werden, dass die Politik es in den konjunkturell günstigen Jahren versäumt hat, die ALV und die Invalidenversicherung (IV) in ein finanzielles Gleichgewicht zu bringen. Die ALV startet mit mehr als 4 Mrd. Franken Schulden in den wirtschaftlichen Abschwung. Die IV, deren finanzielle Sanierung vorerst aufgeschoben worden ist, schreibt jährlich Defizite im Umfang von 1,5 Mrd. Franken, welche sich auf die bereits aufgelaufenen Schulden von heute 11 Mrd. Franken auftürmen. Während ein unmittelbarer Verzicht auf eine finanzielle Sanierung der beiden Versicherungen aus konjunkturpolitischer Sicht vernünftig scheint, sollte mit zusätzlichen, teuren und wenig wirksamen Stimulierungspaketen Zurückhaltung geübt werden. Denn auch diese Kosten werden zu einem späteren Zeitpunkt fällig. Ausserdem darf in diesem Zusammenhang der Hinweis nicht fehlen, dass nicht zuletzt eine exzessive Schuldenwirtschaft Ursache der gegenwärtigen Finanzmarktkrise war.
Allfällige Stabilisierungsmassnahmen mit strukturellen Reformen verknüpfen
Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass in einer Volkswirtschaft, in der bereits über ein Viertel der Bevölkerung in irgendeiner Form staatliche Renten bezieht, der Spielraum für eine diskretionäre und aktivistische Stabilisierungspolitik äusserst begrenzt ist. Die Soziallastquote übersteigt heute schon die Bruttoinvestitionsquote. Die Staatsquote inklusive Sozialversicherungen liegt nahe bei 35%. Nach dem Beinahekollaps der Finanzmärkte braucht es jetzt nicht noch eine völlige Zerrüttung der öffentlichen Finanzen. Sollte die Politik dennoch den Eindruck haben, weitergehende Massnahmen zur Stabilisierung der Konjunktur seien unausweichlich, müssten solche zwingend an Zugeständnisse zu strukturellen Reformen geknüpft werden. Diese könnten etwa Zusagen zu einem Freihandelsabkommen im Agrarbereich mit der EU, zur Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips oder zur Revision der Mehrwertsteuer umfassen. Solche Massnahmen werden die Kaufkraft der einheimischen Bevölkerung auch längerfristig stützen.
Dr. Boris Zürcher
Mitglied der Geschäftsleitung, Avenir Suisse
1 Siehe dazu etwa: Jordan, T. (1994): Der Stand der schweizerischen Fiskalpolitik, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 130(2), S. 193–206.
2 Reinhart, C. und K. Rogoff (2008): The Aftermath of Financial Crises. www.economics.harvard.edu/faculty/rogoff/files/Aftermath.pdf.
Zitiervorschlag: Zürcher, Boris (2009). Automatische Stabilisatoren stärken und wirken lassen. Die Volkswirtschaft, 01. März.