Suche

Abo

Die Kapazitätsauslastung – Gradmesser der Konjunkturlage

Schriftgrösse
100%

Die Kapazitätsauslastung ist ein wichtiger Indikator für die Bestimmung der Konjunkturlage einer Volkswirtschaft. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) führt seit den 1950er Jahren Konjunkturumfragen bei Unternehmen in der Schweiz durch. Schon ab 1967 gehörte die Frage nach dem Auslastungsgrad der technischen Kapazitäten zum vierteljährlichen Standard-Frageprogramm der Industrieumfrage. Dieser Indikator wird seit 1994 auch im Baugewerbe erhoben. Die Fragestellung hat sich über die Jahre praktisch nicht verändert. Dies ermöglicht konjunkturzyklusübergreifende Vergleiche und hilft damit bei der Interpretation der gegenwärtigen Konjunkturlage.

Das rechtzeitige Erkennen von Boom- und Rezessionsphasen ist eine Voraussetzung für eine erfolgversprechende Wirtschaftspolitik. Die Konjunkturlage prägt das Produktions-, Investitions-, Beschäftigungs- und Ertragsniveau der Unternehmen. Gleichzeitig gehen davon Wirkungen auf Löhne und Preise aus. Einer der wichtigsten Indikatoren hinsichtlich der konjunkturellen Lage einer Volkswirtschaft ist der Auslastungsgrad der technischen Kapazitäten. Die Kapazitätsauslastung ist definiert als das Verhältnis von effektiver Produktion und potenzieller Produktion. Ein hoher und allenfalls noch steigender Auslastungsgrad signalisiert beispielsweise Angebotsengpässe und Lieferprobleme, welche preis- und lohntreibend wirken können. Der Auslastungsgrad der technischen Kapazitäten ist in der Industrie und im Baugewerbe messbar. Diese beiden Sektoren zählen zugleich zu den volatilsten einer Volkswirtschaft und geben somit ein gutes Bild auch der allgemeinen Konjunkturentwicklungen.

Konstruktion des Indikators Kapazitätsauslastung


Die KOF erhebt im Rahmen der Konjunkturumfragen KOF-Konjunkturumfragen: Durchschnittliche Anzahl von Antworten pro Quartal für die geografische Auswertungseinheit Schweiz im Jahr 2008: Industrie 882, Baugewerbe 550. werden zu Branchenergebnissen und zum Resultat von Industrie resp. Baugewerbe insgesamt aggregiert. Der Aggregationsprozess erfolgt in drei Schritten:  – Die Antworten werden mit der vollzeitäquivalenten Zahl von Beschäftigten der antwortenden Unternehmung gewichtet. – Für die Branchenergebnisse werden die gewichteten Antworten in drei Grössenklassen (klein, mittel, gross) untergliedert und für jede Grössenklasse separat ermittelt. Die Ergebnisse der Grössenklassen werden in einem zweiten Schritt mit ihrer Bedeutung in der Grundgesamtheit (Betriebszählung) gewichtet und die drei Grössenklassen zum Branchenergebnis zusammengefasst.  – Zuletzt werden die Branchenresultate mit ihrem Wertschöpfungsanteil gewichtet und zum Gesamtergebnis aggregiert.

Anwendungsmöglichkeiten der Kapazitätsauslastung


Der Indikator «Auslastung der technischen Kapazitäten» findet vor allem in drei Bereichen eine grosse Beachtung: den teilnehmenden Firmen, der öffentlichen Hand und der empirischen Wirtschaftsforschung.

Teilnehmende Firmen


Anhand des Umfrageberichts können die teilnehmenden Firmen ihre eigene Performance mit jener ihres Absatzmarktes vergleichen. Darin finden sich auch Hinweise über die Konjunkturlage in den vorgelagerten Branchen, was Informationen über die Entwicklung der Lieferfristen und der Einkaufspreise ermöglicht. Zudem kann die Kapazitätsauslastung der Abnehmerbranchen Anhaltspunkte für die eigene Verkaufspreisgestaltung liefern.

Öffentliche Hand


Die öffentliche Hand erkennt immer mehr den Nutzen der Konjunkturumfragen für ihre Zwecke. Im Vordergrund steht dabei die Ermittlung von Entscheidungsgrundlagen für die Fiskal- und die Geldpolitik. Der Auslastungsgrad der technischen Kapazitäten ist mittlerweile sowohl für die Schweizerische Nationalbank (SNB) als auch für den Bund und die Kantone/Regionen ein wichtiges konjunkturelles Signal.

Empirische Wirtschaftsforschung


In der empirischen Wirtschaftsforschung spielt die Kapazitätsauslastung eine wichtige Rolle sowohl in Partialals auch in Gesamtmodellen. Der Indikator kann als Bestimmung des ökonomischen «Regimes» dienen und so signalisieren, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Nachfrageoder ein Angebotsüberschuss besteht. Zusammen mit anderen relevanten Indikatoren dient er zudem der Schätzung der Wertschöpfungsentwicklung.

Interpretation


Bei der Theorie von Konjunkturzyklen werden drei Definitionen unterschieden: klassischer Zyklus, Wachstumszyklus und Wachstumsratenzyklus. Um die Aussagekraft des Indikators richtig zu beurteilen, ist entscheidend, auf welcher Konjunkturzyklustheorie der Indikator basiert. Der klassische Zyklus orientiert sich ausschliesslich am Vorzeichen der Wachstumsraten; der Wachstumsratenzyklus betrachtet Beschleunigungs- und Verlangsamungsphasen. Der Wachstumszyklus hingegen geht von einer trendbereinigten Niveaubetrachtung aus, was dem Konzept der Kapazitätsauslastung entspricht.  Bei der Interpretation des Auslastungsgrades sind zudem die strukturellen Unterschiede zwischen Branchen und Regionen zu beachten. In der Industrie weist die Nahrungs- und Genussmittelindustrie eine wesentlich niedrigere durchschnittliche Auslastung auf als z.B. die Maschinenindustrie (siehe Tabelle 1). Dasselbe gilt nicht nur auf Branchen-, sondern auch auf Produktgruppenoder sogar auf Firmenebene. Auch im Baugewerbe bestehen merkliche Unterschiede zwischen Bauhaupt- und Ausbaugewerbe. Die regionalen Unterschiede in der Industrie sind weniger markant als jene zwischen den Branchen (siehe Tabelle 2). Zudem stammen diese Differenzen teilweise vom unterschiedlichen Branchenmix der Regionen. Etwas anders präsentiert sich die Lage im Baugewerbe. Weil dieser Wirtschaftszweig stark von der lokalen und regionalen Nachfrage abhängig ist, bestehen erhebliche regionale Differenzen bei der durchschnittlichen Kapazitätsauslastung. Die konjunkturelle Einschätzung, ob ein Engpass vorliegt oder Überkapazitäten vorhanden sind, ist eng damit verbunden, was als Normalauslastung angesehen wird. Die Kapazitätsauslastung ist zwar konstruktionsbedingt ein trendbereinigter Indikator. Trotzdem ist es möglich, dass sich der von den Firmen als Normalauslastung empfundene Wert über die Zeit verändert. Gründe dafür können Just-in-Time-Produktion, flexibleres Produktionskapital, veränderte Kapitalausstattung und Branchenstrukturwandel sein. Untersuchungen mit Schweizer Daten haben gezeigt, dass die Normalauslastung in den letzten 25 Jahren eher rückläufig ist. Der Zusammenhang zwischen Industrieproduktion und Auslastungsgrad der technischen Kapazitäten wird nicht nur vom Produktionsvolumen, sondern auch von Investitionen respektive Schliessungen von Produktionseinheiten beeinflusst. Während Investitionen bei unveränderter Produktion den Auslastungsgrad senken, erhöht sich dieser bei Schliessungen von Produktionseinheiten. Entsprechend reagiert die Kapazitätsauslastung im Konjunkturverlauf nicht immer parallel zur Produktion. Empirische Untersuchungen zeigen einen stärkeren Zusammenhang zwischen dem Auslastungsgrad und dem Vorjahresquartalswachstum der Industrieproduktion (VJQ) als der Trendabweichung der Industrieproduktion. Über einen Beobachtungszeitraum von 1991 bis 2007 ergibt sich eine maximale Korrelation von 0,75, wobei der Auslastungsgrad gegenüber der Industrieproduktion um ein Quartal verzögert reagiert (siehe Grafik 1). Dank dem Publikationsvorsprung von einem Quartal eignet sich der Auslastungsgrad somit sehr gut als mitlaufender Indikator.

Kapazitätsauslastung als Teil eines Indikatorenbündels


Zur Erleichterung der Interpretation des Indikators wird in den KOF-Konjunkturumfragen auch nach der Beurteilung (zu gross, ausreichend, zu klein) der technischen Kapazitäten gefragt. Damit wird die Erfassung der Konjunkturlage – Engpässe oder freie technische Kapazitäten – verbessert. Zudem liefert eine Frage nach der Veränderung der technischen Kapazitäten (erhöht, nicht verändert, reduziert) Hinweise auf das Investitionsverhalten als eine weitere Determinante der Kapazitätsauslastung.  Werden Auslastungsgrad, Veränderung und Beurteilung der technischen Kapazitäten in einer Hauptkomponenten-Analyse zusammengefasst, so verbessert sich der Zusammenhang dieses Indikators mit der Industrieproduktion merklich. Die Korrelation beträgt dann beachtliche 0,80. Darüber hinaus kann der Auslastungsgrad in verschiedene Partialmodelle integriert werden oder – wie im Gesamtmodell der KOF – eine wichtige Kontrollvariable bilden.

Internationale Harmonisierung


In Zeiten einer verstärkten Globalisie-rung wird ein Vergleich mit den für die Schweiz wichtigsten Volkswirtschaften immer wichtiger. Damit dies möglich ist, hat die Europäische Union hinsichtlich der Unternehmensbefragungen ein Harmonisierungsprogramm beschlossen, dem sich die KOF angeschlossen hat. Dabei werden nicht nur die Fragen, sondern auch die Aggregationstechnik und die Branchengliederung vereinheitlicht. Vergleicht man die Kapazitätsauslastung der Schweiz mit jener der Nachbarländer, so stellt man fest, dass die Schweiz ab 2004 eine überdurchschnittliche Steigerung der Kapazitätsauslastung verzeichnen konnte (siehe Grafik 2). Bei allen Ländern zeichnet sich jedoch momentan eine massive Verschlechterung der Auslastung der technischen Kapazitäten ab.

Grafik 1 «Industrieproduktion und Kapazitätsauslastung, 1991-2008»

Grafik 2 «Kapazitätsauslastung Industrie, 1999-2008»

Tabelle 1 «Durchschnittliche Kapazitätsauslastung nach Branchen, Konjunkturzyklus 2001-2007»

Tabelle 2 «Baugewerbe insgesamt 73.3»

Kasten 1: Literatur
– Etter R., Graff M. und J. Müller (2008): Is «Normal» Capacity Utilisation Constant over Time? Analyses with Macro and Micro Data from Business Tendency Surveys, Paper presented at the Ciret-Conference, Santiago de Chile, 8.-10. Oktober.- European Commission, Economic and Financial Affairs (2007): The Joint Harmonised EU Programme of Business and Consumer Surveys, Brüssel.- Harding D. und A. Pagan (2005): A Suggested Framework for Classifying the Modes of Cycle Research, in: Journal of Applies Econometrics, 20, S. 151-159.

Zitiervorschlag: Etter, Richard (2009). Die Kapazitätsauslastung – Gradmesser der Konjunkturlage. Die Volkswirtschaft, 01. April.