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Rücküberweisungen von Migranten: Was sind die Folgen für die armen Länder?

Millionen von Haushalten in Entwicklungsländern werden von einem ihrer Familienmitglieder, die im Ausland arbeiten, finanziell unterstützt. Diese Rücküberweisungen – sogenannte Remittances – sind häufig überlebenswichtig für die Ernährung, den Zugang zu Bildung, die Verbesserung der Wohnsituation oder den Aufbau einer Geschäftstätigkeit. Der Umfang der Rücküberweisungen beträgt weltweit das Doppelte der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) und stellt somit für viele Länder eine wesentliche Devisenquelle dar. In den letzten Jahren war ein kontinuierliches Wachstum der Rücküberweisungen zu verzeichnen. Im Zuge der weltwirtschaftlichen Abkühlung aufgrund der Finanzkrise droht dieser Fluss – wenn auch nur leicht – abzunehmen.

Migrantinnen und Migranten sind in der aktuellen Lage nicht nur persönlich von Arbeitsplatzverlust bedroht. Hinzu kommt die Unsicherheit bezüglich ihrer Familien in den Herkunftsländern. In den ärmsten Ländern – wie Tadschikistan oder Haiti – droht ein Einbruch der Rücküberweisungen die Fortschritte bei der Armutsbekämpfung der letzten Jahre zunichte zu machen. Ebenso verheerend wäre eine massenhafte Rückkehr von Migranten in ihre Herkunftsländer: Der heimische Arbeitsmarkt könnte dies kaum verkraften. Die Folge wären grosse soziale Spannungen. Ist damit zu rechnen, dass die Krise derartige Auswirkungen haben wird? Die Analysen und Zahlen der Weltbank geben differenzierte Antworten auf diese Frage. Vgl. Revised Outlook for Remittance Flows 2009-2011, Migration and Remittances Team, Development Prospects Group, the World Bank, March 2009; Economic Implications of Remittances and Migration, Global Economic Prospects 2006, The World Bank.

Migration heute


Gegen 200 Mio. Menschen leben ausserhalb ihres Geburtslandes. Das entspricht etwa 3% der Weltbevölkerung. Es sind hauptsächlich Einkommensunterschiede und Bevölkerungsdruck, welche das Ausmass der internationalen Migrationsströme erklären; politische Faktoren spielen eine untergeordnete Rolle. Entgegen der verbreiteten Meinung lebt die Mehrzahl der Migranten nicht etwa in den reichen Ländern, sondern in Entwicklungsländern – ein Phänomen, das in Sub-Sahara-Afrika besonders ausgeprägt ist (72%). Diese Süd-Süd-Dimension der Migration wird allzu oft ignoriert. Zu betonen ist auch, dass die internationalen Migrationsströme grossmehrheitlich freiwillige Ortswechsel aus wirtschaftlichen Gründen darstellen. Flüchtlinge und Asylsuchende machen durchschnittlich nur gerade 7% der Migranten aus. Die internationale Migration schafft einen vielfältigen wirtschaftlichen Nutzen – und zwar sowohl für die Migranten und ihre Familien als auch für die Herkunfts- und die Zielländer. Aber auch die damit einhergehenden Kosten und Risiken dürfen nicht unterschätzt werden. So erleben Migranten oft einen Kulturschock, sind prekären Arbeitsbedingungen sowie Ausbeutung ausgesetzt und leiden unter der dauernden Trennung von ihren Familien. Die Herausforderungen – oder gar Ängste – für die Zielländer liegen dagegen in der Bekämpfung der illegalen Einwanderung, der sozialen Absicherung der Migranten oder der Bewältigung von Sicherheitsproblemen.

Remittances – ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung


Der wirtschaftliche Nutzen der Migration für die Entwicklungsländer ist beträchtlich. Der Umfang der Rücküberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer wird im Jahr 2008 offiziell auf 305 Mrd. US-Dollar geschätzt. Das bedeutet eine Steigerung um 9% gegenüber dem Vorjahr. Diese Zahlen berücksichtigen nicht die informellen Kanäle, auf denen zum Teil beträchtliche Summen transferiert werden. So fand eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zum Migrationskorridor Schweiz-Serbien aus dem Jahr 2007 heraus, dass 80% der Rücküberweisungen über informelle Kanäle – insbesondere die zwischen beiden Ländern zirkulierenden Buschauffeure – abgewickelt werden. Vgl. Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten am Beispiel Schweiz-Serbien, in: Die Volkswirtschaft 1/2-2007, S. 63ff. Diese Summen stellen beträchtliche Ressourcen dar (siehe Grafik 1). In Lateinamerika und der Karibik entspricht die Höhe der jährlichen Rücküberweisungen beinahe dem Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen und übersteigt den Betrag der ODA um das Achtfache. Die wichtigsten Ursprungsländer der Rücküberweisungen sind die USA, Saudi-Arabien und die Schweiz. Die Verteilung von Rücküberweisungen auf die Zielländer ist gleichmässiger als diejenige von privatem Kapital und Auslandinvestitionen, die sich tendenziell auf Schwellenländer konzentrieren. Rücküberweisungen machen durchschnittlich 3,6% des BSP von armen Ländern, von Ländern mit mittlerem Einkommen etwa das Doppelte aus. Für sehr fragile oder konfliktbelastete Länder – wie Somalia oder Haiti – haben sie den Stellenwert einer Überlebenshilfe für die ärmsten Bevölkerungsschichten. In Ländern, die von den Schwankungen der Rohstoffpreise stark betroffen sind, üben sie de facto die Funktion eines informellen Mechanismus zur Finanzstabilisierung aus.  Die von den Migranten überwiesenen Mittel verbessern direkt das Einkommen und den Lebensstandard der Haushalte. Ihr Einfluss auf die Reduktion der Armut wurde in verschiedenen Studien bestätigt. Eine Erhöhung der Rücküberweisungen um 10% bewirkt durchschnittlich eine Reduktion des Armutsniveaus in den Zielländern um 3,5%. Zusätzlich zur Stabilisierung des Konsumniveaus der Haushalte sorgen sie für eine Diversifizierung der Einkommensquellen – und damit der Risiken – und leisten so einen entscheidenden Beitrag zu Ersparnissen sowie Investitionen (z.B. Möbel). Rücküberweisungen korrelieren direkt mit den Ausgaben der Haushalte für Gesundheit und Bildung sowie mit der Entwicklung von Kleingewerbe. All dies sind Bereiche mit hoher sozialer Wertschöpfung. Zahlreiche Fallstudien bestätigen diese Tendenzen. So wurde beispielsweise für Mexiko, Guatemala, Nicaragua und Sri Lanka aufgezeigt, dass Kinder in Haushalten, welche Geld von Verwandten aus dem Ausland erhalten, ein höheres Geburtsgewicht und bessere Gesundheitswerte aufweisen als andere Kinder. Auch der Anteil der Schulabschlüsse ist höher. Rücküberweisungen aus den USA machen 20% des investierten Kapitals der Mikrounternehmen in den urbanen Regionen Mexikos aus. Zwischen Rücküberweisungen und Entwicklungshilfe werden intuitiv Parallelen gezogen, die es allerdings zu nuancieren gilt. Zwar steht bei beiden die Absicht der Armutsreduktion im Zentrum. Während aber die Entwicklungshilfe öffentliche Gelder sind und zum Beispiel für den (Wieder-)Aufbau der Infrastrukturen, die Stärkung des öffentlichen Finanzhaushalts oder die Verbesserung des Gesundheitswesens eines Landes eingesetzt werden, stammen die Rücküberweisungen aus privaten Quellen und dienen ausschliesslich privaten Zwecken. Das eine kann das andere nicht ersetzen. Es geht vielmehr darum, mittels einer geeigneten Sozial- und Wirtschaftspolitik die Komplementarität beider Quellen zu optimieren. Rücküberweisungen sind auch kein Ersatz für Handelsbeziehungen, private Kapitalflüsse oder Direktinvestitionen. Ungeachtet ihres grossen Beitrags zur Reduktion von Armut und sozialen Disparitäten ist ihr direkter Beitrag zum Wirtschaftswachstum nach wie vor schwer zu beziffern. Die Diaspora kann die Wirtschaftsentwicklung in ihren Herkunftsländern aktiv unterstützen, etwa indem sie die Wirtschaftsbeziehungen sowie den Wissens- und Technologietransfer erleichtert.

Die Kehrseite der Medaille


Die bedeutenden wirtschaftlichen Vorteile der Rücküberweisungen von Migranten für die armen Länder vermögen indes die heiklen Fragen, welche die Migration für einige dieser Länder aufwirft, nicht zu überdecken. Grafik 2 zeigt, wie gross der Anteil von Rücküberweisungen am BIP einzelner Länder ist. Dadurch kann es zu einer Aufwertung des realen Wechselkurses und in der Folge zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit kommen, wie die Beispiele von Moldawien, El Salvador und Kenia in den letzten Jahren zeigen. Abgesehen von den makroökonomischen Risiken wirft die Migration auch eine Reihe von heiklen politischen und sozialen Fragen auf. In Tadschikistan verdienen 30% der Männer im erwerbsfähigen Alter ihren Lebensunterhalt im Ausland, hauptsächlich als Bauarbeiter in Russland (über 90% der Auswanderer). Auch in Haiti ist der Anteil der Emigranten sehr hoch (1 Mio. resp. 10% der Bevölkerung). Das Hauptproblem ist jedoch der Verlust eines grossen Teils der qualifizierten Arbeitnehmerschaft, was besonders im Gesundheits- und Bildungswesen ins Gewicht fällt. Dieser massive «Brain Drain» stellt speziell für kleine, einkommensschwache Länder – wie Haiti oder Jamaika, wo acht von zehn Hochschulabsolventen im Ausland leben – ein Dilemma dar. Kurzfristig wirkt die Auswanderung regulierend auf die Arbeitslosigkeit im Inland; sie vermag gar den heimischen Arbeitsmarkt wieder zu dynamisieren. Über die Transfers sind die Auswanderer eine wichtige Devisenquelle zur Unterstützung des Konsums und der Importe der armen Länder. Längerfristig bleibt das Modell jedoch verletzlich und nicht überall lebensfähig. Denn bei jedem Ereignis, das eine Massenrückwanderung verursacht, drohen die Währungsreserven der Länder dramatisch zu schwinden und die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt aus dem Ruder zu laufen.  Den Entwicklungsländern bleibt also nichts anderes übrig, als die notwendigen Reformen weiterzuführen, um möglichst schnell auf einen wirtschaftlichen Wachstumspfad zu finden und den heimischen Arbeitsmarkt zu erweitern. Trotz all den in diesem Bereich erzielten Fortschritten bleibt noch viel zu tun. Wird die aktuelle Finanzkrise diese Anstrengungen zunichte machen und Millionen von Migranten zur Rückkehr in ihre Heimatländer bewegen? Glücklicherweise dürfte dies nicht der Fall zu sein.

Auswirkungen der Krise


Nach mehreren Jahren eines kontinuierlichen Wachstums bei den Rücküberweisungen im zweistelligen Bereich ist im zweiten Semester 2008 eine deutliche Verlangsamung eingetreten. Für 2009 ist gar ein Rückgang zu erwarten. Hauptgrund ist die Verschärfung der Wirtschaftskrise in den USA und Europa, aus denen zwei Drittel der Rücküberweisungen an Entwicklungsländer stammen. Die Süd-Süd-Transfers sind von den Auswirkungen der Krise in Russland, Südafrika, Indien und Malaysia ebenfalls betroffen (siehe Grafik 3). Der Abschwung wird sich voraussichtlich weiter verschärfen. Im Jahr 2009 ist mit einem Rückgang der Rücküberweisungen um 5%-8% zu rechnen; sie dürften noch 280-290 Mrd. US-Dollar erreichen. Dieser Betrag ist im Vergleich zu den privaten Kapitalflüssen, die wohl um die Hälfte einbrechen werden, immer noch relativ hoch. Damit bestätigt sich die langfristige Beobachtung, dass Rücküberweisungen die stabilste Devisenquelle für die Entwicklungsländer darstellen. Während die privaten Kapitalflüsse prozyklisch reagieren, verringern Rücküberweisungen tendenziell die konjunkturellen Ausschläge der Herkunftsländer. Historisch gesehen haben sie aber auch eine grosse Widerstandsfähigkeit gegenüber Rezessionsphasen in Empfängerländern gezeigt. Für dieses Phänomen gibt es eine Reihe von Erklärungen, von denen an dieser Stelle drei genannt werden sollen: – Erstens stammen die Rücküberweisungen in der Regel aus einer langfristigen Migration. Erst wenn diese über einen längeren Zeitraum unterbrochen sind, wird ein Einfluss auf die Transfers spürbar. – Zweitens machen die Transfers nur einen bescheidenen Teil des Einkommens der Migranten aus, sodass sie auch weitergeführt werden können, wenn die Ressourcen schwinden. – Drittens hat die Verstärkung der Regulierung und der Kontrollen in den Empfängerländern dazu geführt, dass die illegale oder opportunistische Migration signifikant zurückgegangen ist. Migranten bleiben über längere Zeiträume sesshaft, was die Regelmässigkeit und Stabilität der Transfers begünstigt.

Die Weltbank engagiert sich


Auch wenn lokale Gegebenheiten oder Krisen das Ausmass und den Rhythmus der Migration beeinflussen können, ist sie doch ein Ausdruck der Globalisierung und damit ein komplexes und kontrovers diskutiertes Phänomen. Im fortwährenden politischen Dialog zur internationalen Migration stellen sich folgende Fragen: Wie können die durch massenhafte Bevölkerungsbewegungen erzeugten Unruhen auf ein Minimum reduziert werden? Und wie kann gleichzeitig wirtschaftlicher Nutzen maximiert sowie die Wirkung der Mittelflüsse in den betroffenen Staaten optimiert werden? Über die ökonomischen, politischen, psychologischen und sozialen Überlegungen hinaus – sowohl in den Empfängerwie auch in den Herkunftsländern – ist auch das weite Feld der globalen Zusammenhänge in die Erwägungen mit einzubeziehen – angefangen bei der Erhebung von Daten zur Analyse der Faktoren und Herausforderungen bis hin zur Optimierung des Finanzsystems, um die Transaktionskosten und die formalen Anforderungen der Transfers zu reduzieren. All diese Fragen und Herausforderungen sprengen den Handlungsrahmen der einzelnen Länder und verlangen eine globale und koordinierte Vorgehensweise. Genau dies ist das bevorzugte Terrain einer multilateralen Institution wie der Weltbank, deren Kompetenzbereiche Forschung, Expertise, Dienstleistungen und Finanzierungen auf globaler Ebene beinhalten. Die Weltbank hat denn auch die bisher umfassendste Datenbank zur Migration von qualifizierten Arbeitskräften geschaffen. Ihr Forschungsprogramm ist darauf ausgerichtet, den Einfluss der Migration auf die Entwicklung zu erfassen und zu analysieren, um sowohl für die Herkunftswie auch für die Zielländer eine Grundlage zu schaffen, auf der die Politiken, Regulierungen und institutionellen Reformen zur Verbesserung der Resultate definiert werden können. Die Weltbank ist auch im Bereich der internationalen Partnerschaft und Koordination aktiv, etwa indem sie das Co-Präsidium einer Arbeitsgruppe zur internationalen Koordination des Zahlungssystems für Rücküberweisungen innehält und eine Datenbank über die Rücküberweisungskosten geschaffen hat. Zusammen mit anderen multilateralen Organisationen ist sie Mitglied der Global Migration Group (GMG). Zudem ist sie aktiv an den Diskussionen und an Untersuchungen der G-20 zur Mobilität der Arbeitskräfte und zur Demografie beteiligt. Dieser breite Aktionsradius zeigt den Vorteil einer multilateralen Organisation wie der Weltbank. Sie kann als solche die Rolle einer Plattform zur Koordination, Forschung, Analyse und Beratung im Bereich der globalen Güter übernehmen. Auch wenn keine einfachen Lösungen existieren, geben die grossen unternommenen Anstrengungen und die bereits erzielten Fortschritte doch Anlass zur Hoffnung, dass sich die Welt eines Tages kollektiv organisieren, gemeinsame Regeln akzeptieren und an Erfolgsmodellen orientieren wird. Denn nur so können die Herausforderungen der Migration sowie der Mobilität von Arbeit zum Wohle aller bewältigt werden.

Grafik 1 «Die zehn Empfängerländer mit den höchsten Rücküberweisungen (in absoluten Zahlen), 2008»

Grafik 2 «Die zehn Empfängerländer mit dem höchsten BSP-Anteil von Rücküberweisungen, 2007»

Grafik 3 «Wachstum der Rücküberweisungen an Entwicklungsländer, 2006-2010»

Zitiervorschlag: Olivier Burki, Michel Mordasini, (2009). Rücküberweisungen von Migranten: Was sind die Folgen für die armen Länder. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.