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Entwicklungs- und Schwellenländer in der globalen Krise

Entwicklungs- und Schwellenländer in der globalen Krise

Die derzeitige Krise ist jetzt ohne Zweifel die grösste seit rund 70 Jahren. Das Zentrum des wirtschaftlichen «Erdbebens» lag in den USA. Die folgende Flutwelle erfasst die ganze Welt in einer Weise, wie sie heutige Entscheidungsträger noch nie erlebt haben. Zurzeit ist das Ende der Krise nicht abzusehen. Viele Entwicklungsländer wurden erst in den letzten Monaten davon erfasst; und manche werden noch stärker davon betroffen sein. Um zu verhindern, dass sich die Krise zur grossen Depression ausweitet, muss vermieden werden, dass die politischen Entscheidungsträger die Fehler der 1930er-Jahre wiederholen.

Chronologie der Krise


Die Krise entfaltete sich im Zeitlupentempo, unterbrochen von abrupten Einbrüchen in Teilen der Wirtschaft. Schon im Jahre 2006 nahm das Konsumwachstum in den USA ab. Haushalte sparten mehr und begannen Schulden abzubauen. Das globale Wachstum war davon kaum beeinträchtigt. Selbst in den USA wurde das Wachstum durch Exporte nach Asien und Europa gestützt. Im August 2007 begannen die ersten Eruptionen auf den Finanzmärkten. Die Bankenpanik um Northern Rock in England war ein frühes Zeichen für das Drama, das sich anbahnte. Massive Interventionen der grossen Notenbanken schien die Lage zu entschärfen. Im März 2008 folgten weitere dramatische Kollapse, insbesondere jener von Bear Stearns, und erneute massive Interventionen der Notenbanken. Mitte September 2008 kam es in Reaktion auf die Insolvenz von Lehman Brothers und der Versicherungsgruppe AIG zum kompletten Zusammenbruch der Interbanken-Märkte in den USA und anderen bedeutenden OECD-Ländern. Von da an wurde es klar, dass die Krisenbekämpfung durch die Zentralbanken nicht ausreichte. Die reichen Länder ergriffen radikale Massnahmen, um die Liquidität möglichst aufrechtzuerhalten. Eingeschlossen waren weit reichende Garantien von Giro- und Spareinlagen. Zusätzlich stellte sich nun das Problem der Insolvenz von grossen Teilen des Finanzsystems. Als der Internationale Währungsfonds (IWF) im Frühjahr 2008 eine Schätzung von schlechten Krediten («bad assets») in den USA in Höhe von 900 Mrd. US-Dollar vorlegte, wurde er von Regierungen wegen Schwarzmalerei angegriffen. Bis April 2009 erhöhte der IWF diese Schätzungen auf 2700 Mrd. US-Dollar für die USA und 4000 Mrd. US-Dollar weltweit. Heute werden die IWF-Schätzungen nicht mehr angezweifelt. Vielmehr befürchten viele, dass es noch schlimmer kommen könnte und ganze Banksysteme insolvent sein könnten. Viele Länder – inklusive die USA – haben Schwierigkeiten, Banken mit neuem Kapital zu versorgen und das Problem massiver Kreditverluste abzuarbeiten. Im Herbst 2008 schwappte die Krise vollends vom Finanzsektor auf die Realwirtschaft über. Die Welt erlebte einen dramatischen, unvorhergesehenen Einbruch in der industriellen Produktion und im Welthandel, der bis heute anhält. Auch Länder, die keine Finanzsektorprobleme hatten und ausserdem vorsichtige Haushaltspolitiken betrieben hatten, wurden ergriffen. Besonders betroffen sind Exportnationen – wie z.B. Ostasien inklusive der chinesischen Ostprovinzen oder Deutschland – und Rohstoffexporteure aller Art.

Wie wird sich die Krise weiterentwickeln?


Existierende Vorhersagemodelle sind nicht in der Lage, mit derart ungewöhnlichen Ereignissen klarzukommen. So heisst es denn im Weltwirtschaftsbericht des IWF vom April 2009, dass Risiken einer weiteren Verschlechterung bedeutend bleiben. Wechselwirkungen zwischen Bankenproblemen, steigender Arbeitslosigkeit und fallender Produktion haben das Potenzial, weitere «vicious circles» zu entfalten.  Bereits ist absehbar, dass der Anstieg von Arbeitslosigkeit weltweit zu noch mehr Nachfragerückgang führen wird. Weitere Produktionsausfälle sind unvermeidlich. Kreditverluste bei Firmen und Haushalten werden steigen, was die Bilanz von Finanzinstitutionen weiter schwächen wird. Diese Welle der Krise baut sich gerade auf. Heute gehen offizielle Prognosen davon aus, dass es im Jahre 2010 wieder aufwärts gehen wird, wenn auch langsam. Es kann aber auch noch länger dauern. Möglicherweise wird die ganze Welt ein Jahrzehnt ohne nennenswertes Wachstum sehen.  Zwei Entwicklungen sind ziemlich wahrscheinlich:  – Konsumenten und Firmen weltweit werden vorsichtig und sparen. Entsprechend wird Nachfragewachstum ein Problem bleiben.  – Die Finanzsysteme der grössten Länder müssen Kredite abbauen und Eigenkapital erhöhen.   Insgesamt wird es weniger Kredit geben. Notenbanken und öffentliche Haushalte stemmen sich sinnvollerweise dagegen. Länder, die zu viel konsumiert haben, werden aber auf Dauer mehr sparen müssen. Andere haben die Chance, einen grösseren Anteil ihres Einkommens zu konsumieren. Finanzsysteme in vielen reichen Ländern können auch langfristig weniger Kredit vergeben.  Was zurzeit im Finanzsektor und in der Realwirtschaft geschieht, erinnert in gewisser Weise an die grosse Depression der 1930er-Jahre. Bisher ist die Reaktion der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger allerdings deutlich besser. Geld- und fiskalpolitisch wird mehr getan, um die Krise zu bewältigen. Richtiger Protektionismus ist noch nicht ausgebrochen. Es ist jetzt entscheidend, dass Politiker den Kurs halten und weitere unterstützende Massnahmen ergreifen.

Die Ausgangslage der Entwicklungs- und Schwellenländer


In den Jahren vor der Krise haben viele Schwellen- und Entwicklungsländer eine umsichtige Haushalts- und Geldpolitik betrieben. Relativ zu früheren Jahrzehnten sind sie besser für eine Krise positioniert. Im Jahre 2009 können reiche Länder dankbar sein: Alles, was global an Wachstum zu sehen sein wird, kommt aus Entwicklungsländern. Zwar ist die Wirtschaftsentwicklung dieser Länder – entgegen einiger überzogener Hoffnungen – nicht vollkommen von derjenigen der reichen Länder abgekoppelt. Aber sie haben insgesamt hinreichend Dynamik, um ein gewisses Wachstum zu generieren.  Allerdings gibt es gewaltige Unterschiede innerhalb der Entwicklungs- und Schwellenländer. Manche haben grosse Binnenmärkte, auf die sie zählen können (z.B. China und Indien). Einige verfügen über grosse Währungsreserven, die es ihnen ermöglichen könnten, die globale Liquiditätskrise einigermassen glimpflich zu überstehen (wiederum China, evtl. Russland). Eine grössere Zahl von Ländern ging hingegen bereits geschwächt in die Krise. Der Kredit-Boom, der zur Krise geführt hat, trieb auch die Preise in Rohstoff- und Nahrungsmittelmärkten nach oben. Es ist schon fast vergessen, dass 2007/2008 die Nahrungsmittel- und Erdölkrise stattfand, von der rund 30 der ärmsten Länder besonders betroffen waren, darunter viele in Afrika. Inflation und Haushaltsdefizite begannen wieder zu steigen; die Finanzierung von Importen wurde prekär. Der IWF schätzte im April 2008, dass 33 Länder mit niedrigem Einkommen Währungsreserven für Importe für weniger als drei Monate zur Verfügung hatten.  Ob gut oder weniger gut positioniert – von der Krise sind alle Entwicklungsländer betroffen: – Exporteure sehen den Verfall ihrer Absatzmärkte. Das betrifft industrielle Produktion ebenso wie Rohstoffe.  – Für Länder mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten – sowie Haushalte und Firmen in diesen Ländern – ist es schwieriger, Kredit aufzunehmen oder zu finanzieren. Nur die besten Kreditrisiken haben eine Chance; doch selbst diese müssen als Konsequenz der massiven Anleihen der reichsten Länder höhere Margen zahlen. Die Weltbank zahlt derzeit ca. 65 Basispunkte mehr für Kredite – relativ zu konkurrierenden Krediten reicher Länder – als noch vor einem halben Jahr.  – Die Wirtschaftskrise in reichen Ländern führt zu Arbeitslosigkeit oder Einkommensausfall von Emigranten, die wiederum weniger an Verwandte daheim schicken (sog. Remittances). Eine Reihe von Entwicklungsländern ist stark von Remittances abhängig. In Tadschikistan etwa machen diese 45% des Bruttosozialprodukts aus.  – Schliesslich besteht die Gefahr, dass reiche Länder mit Hinweis auf die Probleme im eigenen Land Entwicklungshilfegelder streichen.

Verwundbarkeit verschiedener Regionen der Welt…


Vor kurzem hat der IWF den Versuch unternommen, die Verwundbarkeit verschiedener Regionen der Welt zu charakterisieren. Dazu wurden Indikatoren wie die Exportlage, die Auslandsverschuldung, Abhängigkeit von Remittances usw. verwendet (siehe Grafik 1). Gemäss dieser Schätzung zählen die Länder Ost- und Mitteleuropas sowie Zentralasiens mit einem Anteil von 79% zu den am meisten verwundbaren. In diesen Regionen haben lokale Boom-Phänomene die Inlands- und Auslandsverschuldung deutlich verschärft. Fast alle Länder, die bislang den IWF um Nothilfe gebeten haben, befinden sich in dieser Region (Lettland, Rumänien, Serbien, Ukraine, Ungarn und Weissrussland). Die Region Lateinamerika und Karibik folgt mit einem Anteil von 75% – dies, obwohl die meisten Länder vor der Krise eine sehr vorsichtige Wirtschaftspolitik betrieben hatten. Aber der Einbruch bei Exporten macht sich in dieser rohstoffexportierenden Region stark bemerkbar, sodass kein einziges Land der Region als wenig verwundbar gilt. In Afrika sind der Einschätzung des IWF zufolge 42% der Länder stark verwundbar. Aber fast alle Länder (93%) sind zumindest als verwundbar eingestuft. Afrikanische Staaten leiden zum Teil unter Einbruch der Exportmärkte für Rohstoffe und zum Teil unter den Nachwirkungen der Nahrungsmittelkrise. Vergleichsweise weniger prekär scheint die Lage in Südasien und im Mittleren Osten sowie in Ostasien. In einer weiteren Schätzung geht die Weltbank davon aus, dass die Refinanzierung von 370-700 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden in Entwicklungsländern im Jahre 2009 sehr unsicher ist.

…und die Wachstumsprognosen


Den Einfluss der Krise auf Entwicklungsländer verdeutlichen schliesslich die derzeitigen Wachstumsprognosen für 2009. Im Vergleich zu 2007 sagt der IWF für die reichen Länder («advanced economies») eine Wachstumsverringerung von 6,5% voraus (von 5,2% auf -1,3%). Für die Gruppe der Entwicklungsländer insgesamt geht der IWF-Wachstumsabfall von 6,7% aus (von 8,3% auf 1,6%). Am stärksten betroffen sind die Länder der ehemaligen Sowjetunion mit einem Abfall von 13,7%, gefolgt von Ost- und Mitteleuropa mit 9,1%, Lateinamerika (7,2%), Asien (inklusive China und Indien) mit 5,8%, Afrika südlich der Sahara (5,2%) und dem Mittleren Osten mit 3,8%.

Politikmassnahmen zur Unterstützung von Entwicklungsländern


Sollen Entwicklungsländer speziell unterstützt werden? Und wenn ja, wie? Insgesamt ist es im Eigeninteresse aller Länder, die Weltwirtschaft aufrechtzuerhalten. Sowohl die Unterstützung der globalen Nachfrage als auch die Aufrechterhaltung des Aussenhandels helfen allen Ländern. Das bedeutet auch, dass die Kreditvergabe an Entwicklungsländer nicht zusammenbrechen sollte, insbesondere Aus- und Einfuhrkredite. Gleichzeitig muss man der haushaltspolitischen Lage in reicheren Ländern Rechnung tragen.

Finanzhilfe für Schwellenländer


Die Refinanzierungsbedürfnisse von Schwellenländern werden am besten abgesichert, indem ihre Diskriminierung auf den Finanzmärkten so weit wie möglich verhindert wird. Darüber hinaus wäre eine Aufstockung der Ressourcen von IWF und anderen internationalen Finanzinstitutionen besonders hilfreich, da diese Institutionen derzeit für Unterstützung von Entwicklungsländern eine zentrale Bedeutung haben. Die Weltbank wird in diesem Jahr die Kreditvergabe an Schwellenländer von 13,5 Mrd. US-Dollar im Vorjahr auf etwa 35 Mrd. US-Dollar erhöhen. Die International Finance Corporation (IFC) verdoppelt ihre Exportfinanzierungsprogramme für Entwicklungsländer von 1,5 auf 3 Mrd. US-Dollar. Die IFC bietet auch spezielle Fonds für Rekapitalisierung von Banken, für Infrastrukturprogramme und Mikrofinanzunternehmen, die von der Krise besonders betroffen werden. Gemessen an den ungedeckten Refinanzierungsbedürfnissen von mehreren 100 Mrd. US-Dollar sind diese Summen zwar immer noch gering; aber jeder Penny zählt.

Finanzhilfe für die Ärmsten


Die ärmsten Länder – besonders in Afrika – sind von der Krise stark betroffen. Der Rückgang im Wirtschaftswachstum hat ähnliche Ausmasse wie in reichen Ländern. Allerdings müssen sich die Menschen auf sehr viel niedrigerem Lebensstandard mit der Krise auseinandersetzen. Millionen von Menschen werden durch die Krise wieder in extreme Armut zurückgestossen. Da die ärmsten Länder in dieser Krise fast keinen Zugang zu Kapitalmärkten haben und ohnehin in stärkerem Umfang auf externe Hilfe angewiesen sind, wäre ein spezielles Hilfspaket angezeigt. Die Weltbankgruppe bietet hier Billigkredite (IDA) und spezielle Fonds von Nahrungsmittelbis Infrastrukturhilfe an. Diese können jedoch nur durch Zuwendungen von Regierungen in reichen Ländern erhöht werden.

Hilfe durch Beratungsleistungen


Schliesslich ist es gerade in der Krise besonders wichtig, wirtschaftspolitische Massnahmen wirksam zu gestalten. Eines der derzeit gefragtesten Angebote der Weltbank sind Krisenmanagement-Simulationen, die den Aufsichts- und Haushaltsbehörden helfen, möglichst gezielt und effektiv z.B. mit Bankenproblemen umzugehen.  Ein anderer Beratungsbereich für Krisenmanagement betrifft Insolvenzverfahren. Die Masse der potenziellen Kreditprobleme in Entwicklungsländern ist ein Problem von Firmen. Vernünftige Insolvenzverfahren, die es ermöglichen, so viel wie möglich an Firmen und Arbeitsplätzen zu erhalten, sind besonders wichtig. Auch hier versucht die Weltbankgruppe, ihre Beratungsangebote mit Hilfe von Geberländern zu intensivieren.  An Bedeutung gewinnen wird schliesslich die Gestaltung der Rahmenbedingungen, die es Unternehmen ermöglichen, wieder zu wachsen. In der Krise erhöhen sich Arbeitslosigkeit und Staatsschulden. Da braucht es die Schaffung produktiver Arbeitsplätze, die nicht auf Subventionen angewiesen sind, und Steuereinnahmen. Beides kann nur erreicht werden, wenn die private Wirtschaft wiederbelebt wird. Beratungsleistungen für die Gestaltung eines guten Investitionsklimas sind hier zentral.

Grafik 1 «Verwundbarkeit der Länder nach Regionen»

Zitiervorschlag: Michael Klein (2009). Entwicklungs- und Schwellenländer in der globalen Krise. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.