Schweizer Hochschulraum im Spannungsfeld zwischen politischer Koordination und Hochschulautonomie
Moderne Universitäten haben vielfältige Aufgaben: Sie schaffen Wissen durch wissenschaftliche Forschung; sie vermitteln Wissen durch Bildung; und sie nutzen Wissen durch Innovation. Zusätzlich entstehen neue Felder der inter- und transdisziplinären Forschung sowie des gegenseitigen Austausches mit der Gesellschaft – eine neue Art, Wissen zu generieren. Für die erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderungen ist es essenziell, einerseits über genügend Kontinuität zu verfügen und anderseits ausreichend flexibel reagieren zu können. Deshalb muss ein neues Gesetz den Trägerschaften genug politischen Handlungsspielraum geben, damit sie sich für «ihre» Hochschule(n) verantwortlich fühlen – finanziell und politisch.
Die gängigen Rankings von Universitäten, welche in regelmässigen Abständen in den Medien herumgeboten und zitiert werden, haben den einen Punkt gemeinsam: Sie bauen primär auf den Resultaten von Forschungsaktivitäten auf. Das mag ein sinnvoller Ausschnitt aus dem Aufgabenspektrum von Universitäten sein, und jene Schweizer Universitäten, die mit erfreulicher Regelmässigkeit Spitzenplätze belegen, haben allen Grund dazu, sich über ihre Erfolge zu freuen. Aber es ist letztlich nur ein Ausschnitt. Was im Moment fehlt, sind gute Konzepte, wie sich Universitäten profilieren können mit einem Begriff von «Exzellenz», der über das Gebiet der Grundlagenforschung hinausgeht. Noch wird keine Universität international dafür gewürdigt, wenn sie sich zum Beispiel besonders um ihre regionale Verankerung verdient macht. Noch fliesst in kein Ranking ein, wenn Studierende besonders früh in die Forschung mit einbezogen werden. Und noch haben besonders innovative Ansätze in der Lehre keine Auswirkung auf die wichtigsten Universitätsranglisten.
In der Forschung vorne mit dabei
In diesem Umfeld steht die schweizerische Hochschullandschaft jetzt auf dem Prüfstand. Im Bereich der Forschung bietet die Schweiz weltweite Spitzenleistungen. Sowohl das Science, Technology and Innovation Scoreboard der OECD von 2007 wie auch der Science, Technology and Competitiveness Key Figures Report der Europäischen Kommission von 2008/2009 zeigen, dass die Schweiz in der Zahl der wissenschaftlichen Publikationen – gemessen an der Grösse der Bevölkerung – weltweit führend ist. Diese Spitzenposition bezeugt die hohe Qualität des Schweizer Forschungssystems, das hauptsächlich von den ETH und den Universitäten getragen wird. Dass die grossen Hochschulen der Schweiz, die auf sehr publikationsintensive Forschungsgebiete – wie Life Sciences oder Physik – spezialisiert sind, dadurch in solchen Statistiken tendenziell besser abschneiden als solche, die stärker den «Humanities» – d.h. Geistes- und Sozialwissenschaften – verpflichtet sind, ist ein Aspekt des bemerkenswerten Erfolgs, der diesen aber nicht schmälert. Es gilt also, den erreichten hohen Stand wissenschaftlichen Schaffens in der Schweiz – allfälligen Widrigkeiten wirtschaftlicher, politischer oder finanzieller Art zum Trotz – zu halten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir den Vergleich mit den konkurrierenden Wissenschaftsnationen auch in Zukunft nicht zu scheuen brauchen. Die Schweiz muss sich bewähren im Wechselspiel zwischen internationaler Kooperation und Wettbewerb; da hat sie als die vielzitierte Willensnation auch einige Erfahrung. Nur über einen engen Austausch mit den weltweit führenden Personen und Institutionen kann sie ihr volles Potenzial entfalten. Und das Resultat sieht gut aus. Sie ist international hervorragend vernetzt – auf der wissenschaftlichen Ebene jedenfalls besser als auf der politischen. Auch im europäischen Verbund sind Schweizer Forschende jederzeit anerkannte und willkommene Partner in den Forschungsprojekten der EU. Auch die Kooperationen mit den USA und Asien sind stark und tragen Früchte in Form von Publikationen oder Innovationen.
Verbindlichkeit zwischen Trägerschaft und Hochschule
Ein wichtiger Aspekt zur Erhaltung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Universitäten ist deren Governance. Es gibt wohl kein Politikfeld, in dem die Widersprüche zwischen institutionellen und globalen Zielsetzungen so deutlich werden wie in der Wissenschafts- und Hochschulpolitik. Die Wissenschaft gehört zu den ersten Global Players und ist seit Beginn der Neuzeit international ausgerichtet. Die Universitäten als Institutionen sind hingegen über ihre öffentliche Trägerschaft stark mit der regionalen Politik verbunden. Regionale Verankerung und internationale Wirkung: Das war schon früh die Losung! Wie bei unseren europäischen Nachbarn ist die Governance der Hochschulen stark vom Föderalismus geprägt. Der Bund trägt den ETH-Bereich; die Universitätskantone tragen ihre Universitäten und zahlreiche Kantone allein oder gemeinsam die Fachhochschulen (FH). Die komplexen Strukturen, die durch diese Zuständigkeiten entstehen, müssen einerseits pragmatisch vereinfacht werden. Andererseits darf die Vereinfachung nicht dazu führen, dass die Bereitschaft, Hochschulen zu tragen und für deren Autonomie zu sorgen, zerstört wird. Föderalismus betont die regionale Zuständigkeit, unterstützt die Übernahme von Verantwortung und Identifikation vor Ort und führt damit zur Forderung nach eigenständiger Gestaltung sowohl der Trägerschaft als auch der Hochschulen. In der Wechselwirkung einer gewissen Nähe zwischen der Trägerschaft der Hochschule und dem Wissenschaftsbetrieb kann die institutionelle Autonomie der Hochschule verantwortungsbewusst gelebt werden. Dem Föderalismus als Governance-Prinzip der Kleinheit stehen Internationalität, internationaler Wettbewerb, teure Infrastrukturen und die Forderung nach Economies of Scale gegenüber. Es war der Bundesstaat, der das nationale Polytechnikum mit seiner schon in der Gründerzeit vergleichsweise teuren Infrastruktur geschaffen hat, nicht die Gruppe der Universitätskantone. Der Grund dafür war wohl, dass nationale Aufgaben – wie Eisenbahn- und Strassenbau sowie weitere technische Infrastrukturprojekte – diese Bereiche der nationalen Ebene zuwiesen. Hinzu kam, dass man die technikbegeisterte Jugend aus allen Landesteilen als Studierende dieser Schule im Blick hatte. Heute ist der Aspekt der internationalen Konkurrenz für die universitären Hochschulen – aber immer mehr auch für die FH – der bestimmende Faktor der Entwicklung. Globale Orientierung in der Disziplin, internationaler Austausch auf höchstem Niveau und Annahme der weltweiten Herausforderungen in allen Bereichen – von den technologischen und wirtschaftlichen Fächern bis zu den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften – gehören zum Repertoire der modernen Wissenschaft. Für die erfolgreiche Bewältigung solcher Herausforderungen ist es essenziell, einerseits über genügend Kontinuität zu verfügen und anderseits ausreichend flexibel reagieren zu können. Dies gilt sowohl für Universitäten als Institutionen wie auch für die Menschen, welche die Universitäten ausmachen. Dafür braucht die Institution viel Selbstständigkeit und die Trägerschaft viel Vertrauen in die Institution. Und last but not least braucht es die nötigen Ressourcen.
Auf dem Grat zwischen Steuerung und Profilierung
Innerhalb der grossen hochschulpolitischen Vorgaben, die mit den Leitungs- und Trägergremien vereinbart werden, muss es einer Universität freistehen, ihre Stärken zu pflegen, an ihren Schwächen zu arbeiten und ihre Ressourcen so einzusetzen, dass ihre Ziele erreicht werden. Die Bildungsverfassung, die das Schweizer Volk im Frühling 2006 mit grossem Mehr angenommen hat, sieht dazu eine Koordination in besonders kostenintensiven Bereichen vor. Es ist hochschul- und finanzpolitisch sicher sinnvoll, dass sich nicht mehrere Institutionen parallel teure Infrastrukturen leisten, die dann doch nicht ausreichend ausgelastet werden. Für die Studierenden an den Schweizer Hochschulen ist es wichtig, eine Auswahl von Studienangeboten – auch innerhalb des gleichen Fachbereichs – zu haben. Mit ihren je eigenen Profilen entsprechen die Hochschulen diesen Anforderungen. Gleichzeitig erwarten die Studierenden mehr Durchlässigkeit sowohl zwischen den Hochschultypen als auch innerhalb der Studienbereiche. Durchlässigkeit hat aber einen Preis. Denn wäre ein Wechsel vom einen in das andere System ohne Mehraufwand möglich, müsste angenommen werden, dass die verschiedenen institutionellen Profile nicht ausreichend ausdifferenziert wären und dass tatsächlich so etwas wie der befürchtete «Einheitsbrei» vorherrschte. Damit wäre weder den Studierenden noch den Institutionen gedient. Um die Orientierung zu erleichtern, hat die Schweizerische Universitätskonferenz (SUK) im vergangenen Jahr die Bologna-Richtlinien mit einem Absatz zur Durchlässigkeit im Schweizer Hochschulsystem erweitert. Er beruht auf den inhaltlichen Absprachen der Rektorenkonferenzen der universitären und der pädagogischen Hochschulen sowie der FH – ein konkreter und pragmatischer hochschulpolitischer Fortschritt.
Wissenschaftsplattformen schaffen
In Zürich wird seit über 20 Jahren mit Blick auf die internationale Herausforderung eine pragmatische Zusammenarbeit gelebt: Die Universität Zürich und die ETH haben eine Rahmenvereinbarung, die enge Zusammenarbeit ermöglicht; zudem bestehen zahlreiche separate Abkommen zur gemeinsamen Erbringung wissenschaftlicher Leistungen. Die über 20 gemeinsamen Lehrstühle und die Kooperationen im Bereich wissenschaftlicher Geräte und Räume ermöglichen das Konzept einer Wissenschaftsplattform Zürich, die über die politischen und institutionellen Grenzen hinweg engste Zusammenarbeit ermöglicht und fördert. Diese Konzeption findet vor allem im Bereich der medizinischen Forschung Anwendung, wo der Pas de deux mit den Universitätskliniken zum Dreisprung wird. Zahlreiche Entdeckungen, Erfindungen, Publikationen, Patente und Lizenzen der letzten Jahre verdanken diesem Forschungs- und Wissenschaftspooling ihren Erfolg, so z.B. bei der Entwicklung von Bewegungsrobotern für die Paraplegiologie, bei den Forschungsprojekten im Bereich der Neurologie, bei der Proteinforschung oder bei den Anstrengungen, den BSE-Erregern auf die Spur zu kommen. Die enge Verzahnung der Forschungsakteure im Bereich des Medical Engineering in Zürich hat – das zeigt die Bibliometrie deutlich – zu wissenschaftlicher Exzellenz geführt, die durch Verstetigung der Rahmenbedingungen, Optimierung der Prozesse und Motivation der Beteiligten noch gesteigert werden kann. Die enge Zusammenarbeit von ETH und Universität Zürich führt nicht selten zu Leadership in der globalen Wissenschaftsgemeinschaft. Als Beispiel sei hier die internationale Gletscherbeobachtung erwähnt. Diese wurde 1984 nach dem Vorbild des Schweizer Gletschermessnetzes gegründet. Heute ist der World Glacier Monitoring Service (WGMS) unter dem Patronat der Unesco, dem UN-Umweltprogramm Unep, der Weltmeteorologischen Organisation (WMO) sowie internationalen Wissenschaftsgesellschaften für die Sammlung und Publikation von standardisierten Gletscherdaten aus der ganzen Welt verantwortlich. Der WGMS mit Sitz am Geografischen Institut der Universität Zürich unterhält ein globales Kontaktnetz von lokalen Forschern und nationalen Korrespondenten. Das Langzeit-Monitoring von Gletschern liefert wichtige Kennzahlen für die globalen Klimabeobachtungsprogramme. Es sind solche Beispiele von lokaler Zusammenarbeit mit globaler Ausstrahlung, die uns darin bekräftigen, bei der Umsetzung des neuen Verfassungsartikels von 2006 das richtige Steuerungsmass zu finden. Ein neues Gesetz muss den Trägerschaften genug politischen Handlungsspielraum geben, damit sie sich für «ihre» Hochschule(n) verantwortlich fühlen – finanziell und politisch. Und es muss den Hochschulen das Vertrauen geben, das sie für ihre Entwicklung im internationalen Wissenschaftsbetrieb brauchen und das ihre Forschenden und Lehrenden zu Kreativität und Bestleistungen anspornt.
Zitiervorschlag: Aeppli, Regine (2009). Schweizer Hochschulraum im Spannungsfeld zwischen politischer Koordination und Hochschulautonomie. Die Volkswirtschaft, 01. September.