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Szenarien zur künftigen Entwicklung der Hochschulen in der Schweiz

Szenarien zur künftigen Entwicklung der Hochschulen in der Schweiz

Art. 42 des zur Beratung stehenden Bundesgesetzes über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich (HFKG) sieht vor, als Zuteilungskriterium für die öffentlichen Finanzmittel neu auch die zu erwartenden Studierendenzahlen zu verwenden. Seit sieben Jahren publiziert das Bundesamt für Statistik (BFS) jährlich Szenarien zur Entwicklung der schweizerischen Hochschulen. Grund genug, die Vorhersehbarkeit der Studierendenzahlen und die Qualität der bisherigen Prognosen einer Bilanz zu unterziehen. Im folgenden Artikel werden zudem die aktuellen Tendenzen und die wesentlichen Faktoren aufgezeigt, welche die Hochschullandschaft in den nächsten Jahren beeinflussen dürften.

Vor knapp zehn Jahren hat sich das Bedürfnis nach einem Instrument herausgebildet, das die Entwicklungen im gesamten Bildungssystem zuverlässig zu prognostizieren vermag. Die Ausgangslage war vielversprechend, verfügte doch das BFS über Datenmaterial von sehr guter Qualität. Im Jahr 2002 wurden dann die ersten Zehnjahresprognosen für die Universitären Hochschulen (UH) und die Fachhochschulen (FH) durchgeführt, die eine hohe Detaillierungsstufe aufweisen. Seither wurden diese Arbeiten schrittweise auf das gesamte Bildungssystem ausgeweitet und jedes Jahr aktualisiert. Im Bereich der Hochschulen verfügen wir heute über einen Rücklauf von sieben Jahren, was ermöglicht, die Qualität der Szenarien zu bilanzieren.

Zuverlässigkeit der Prognosen im Hochschulbereich


Definitionsgemäss werden Stichhaltigkeit und Qualität von Prognosen durch jede Massnahme vermindert, die das betreffende System strukturell verändert. In den letzten Jahren haben zahlreiche strukturelle Veränderungen stattgefunden – etwa mit der Bologna-Reform und dem damit verbundenen tief greifenden Umbau der Studienstruktur, der Ausweitung der Fachhochschulen auf die Bereiche Gesundheit, Soziales und Kunst (GSK) oder durch die Schaffung der Pädagogischen Hochschulen (PH). Der Kontext für die Prognosen gestaltete sich demnach schwierig. Die grundlegende Hypothese der BFS-Prognosen zu den endogenen Entwicklungen ist, dass eine sehr detaillierte Modellierung der Studierendenströme in sich schon ausreicht, um zuverlässige (kurzfristige) Studierendenprognosen zu erstellen. Die Überprüfung der Prognosen durch das BFS hat bisher die Gültigkeit dieses Ansatzes bestätigt. Dabei hat sich auch gezeigt, dass mittelfristig die gegenwärtigen Tendenzen innerhalb des Bildungssystems integriert sowie die Auswirkungen der Reformen möglichst gut modelliert werden müssen. Beide Aspekte haben sich als komplex erwiesen, was beim Ersteren deutlich mehr erstaunt als beim Letzteren. Grund dafür sind die vielen strukturellen Veränderungen, welche die Spuren für die Statistiker da und dort verwischt haben. Sind diese Schwierigkeiten einmal überwunden, erweist sich der unvorhersehbare Teil der Entwicklungen allerdings als deutlich schwächer ausgeprägt als im Vorfeld angenommen (siehe auch weiter unten im Text). In quantitativer Hinsicht liegt der durchschnittliche absolute Fehler (Mape Mean Absolute Percentage Error.) bei den UH (Gesamtheit aller Studierenden auf den Stufen Bachelor, Master und Diplom) nach einem Jahr bei 1,1% und nach 4 Jahren bei 2%. Bei den FH liegt die Unsicherheit in einem ähnlichen Bereich. Trotz dieser eng begrenzten Fehlerquoten unterschätzten die vergangenen Prognosen bei den UH mittelfristig betrachtet tendenziell die reellen Entwicklungen. Die Ursachen dafür waren vielfältig; ein wichtiger Faktor war jedoch die Bologna-Reform mit ihren schwer vorhersehbaren Auswirkungen auf die Studierendenzahlen, insbesondere jene der ausländischen Studierenden. Unter der Voraussetzung, dass keine wichtigen Strukturveränderungen mehr stattfinden werden, dürfte sich die Qualität der Prognosen in Zukunft verbessern, zumal eine Vielzahl von Tendenzen bereits berücksichtigt wurden und die Auswirkungen der Bologna-Reform mittlerweile gut bekannt sind.

Aktuelle Haupttendenzen


Bei den UH fällt insbesondere die starke Tendenz zur Internationalisierung auf. Ungeachtet des Niveaus ist eine hohe und weiter zunehmende Attraktivität der schweizerischen Hochschulen für ausländische Studierende festzustellen. Diese Entwicklung ist bisher eher auf den Stufen Professur (54% der neu eintretenden Professorinnen und Professoren kamen 2006 aus dem Ausland; das entspricht einer Zunahme von +8 Prozentpunkten in den letzten 10 Jahren), Doktorat (Anteil von 43% der Neueintretenden 2008; Zunahme von +15 Prozentpunkten) und Master (konstanter Anteil von 20% seit 4 Jahren, bei einem Wachstum der Neueintretenden um den Faktor 3) wahrgenommen worden; sie ist aber auch auf Bachelor-Stufe stark präsent (siehe Grafik 1). Auf dieser Stufe waren Entwicklungen aufgrund der sich stark verändernder Population im Zusammenhang mit der Bologna-Reform speziell schwierig festzustellen. Was gemäss gebräuchlicher statistischer Definition lediglich als schwache Tendenz mit starken Schwankungen erschien, erwies sich in Wahrheit als massive und kontinuierliche Zunahme der Eintritte mit ausländischem Zulassungsausweis von 8% bis 9% pro Jahr seit 12 Jahren (gegenüber +1,5% Eintritte mit schweizerischem Zulassungsausweis pro Jahr). Bei den FH ist die Tendenz, nach der kaufmännischen Berufsmatur ein Studium in Angriff zu nehmen, ein endogener Faktor mit bemerkenswert starker Zunahme. Das trifft insbesondere auf Frauen zu: Ihr Anteil an kaufmännischen Berufsmaturanden, welche nach erfolgreichem Abschluss an eine FH wechseln, hat sich in den letzten 10 Jahren von 20% auf 40% verdoppelt. Es liegt also eine komplette Verhaltensveränderung von Absolventinnen und Absolventen der Berufsmatur vor, die von den sich neu bietenden Möglichkeiten vermehrt Gebrauch machen.

Gegenseitige Beeinflussung von Hochschultypen und Studiengängen


In den letzten Jahren wurde das Angebot an Hochschulausbildungen in der Schweiz stark ausgeweitet. Die FH gewannen von Jahr zu Jahr an Bedeutung und scheinen auch einen beträchtlichen Teil an Absolventen der gymnasialen Matur anzuziehen. Eine der Fragen, die sich dazu stellt, ist diejenige nach der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Hochschultypen bzw. der Konkurrenz untereinander. Betrachtet man nur die Studiengänge, gelangt man zur Feststellung, dass sich die Studierendenzahlen beider Typen unabhängig voneinander entwickelt haben und der Zuwachs bei den FH nicht auf Kosten der UH ging. Schliesst man die Veränderungen auf statistischer Ebene aus, zeigt sich beispielsweise, dass der Zulauf zu den FH nach Abschluss einer gymnasialen Matur ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, vor Erlangen des ersten Diploms von einer UH in eine FH zu wechseln, in den letzten Jahren stabil geblieben ist.

Bedeutende Zunahme der Studierendenzahlen an FH bis 2012


Verschiedene Faktoren tragen zur erwarteten Zunahme der Anzahl Studierenden an den FH in den nächsten Jahren bei:  – die bis 2012 andauernde Bevölkerungszunahme; – der verstärkte Zulauf zum gymnasialen Bildungsweg auf Sekundarstufe II; – die indirekten Folgen der Bologna-Reform; – die Zunahme der ausländischen Studierenden auf allen Stufen. Wie oben ausgeführt, stellen ausländische Studierende einen bedeutenden Wachstumsfaktor auf der Bachelor-Stufe dar. Ihr Anteil an den Neueintretenden dürfte von 15% (2008) auf 25% (2018) ansteigen. Da die demografische Alterung in einigen Jahren die Anzahl der UH-Studierenden belasten wird, könnte den ausländischen Neueintretenden diesbezüglich eine wichtige Rolle zukommen. Die Anzahl Studierende auf Master-Niveau dürfte von 19000 im Jahr 2008 auf über 30000 im Jahr 2012 zunehmen. Dieser starke Anstieg ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen:  – eine hohe Übertrittsquote von Bachelor zu Master (88%); – eine erwartete Zunahme von Bachelor-Abschlüssen in den nächsten Jahren (2008: 8600; 2010: 12500); – eine weitere Steigerung der Attraktivität von Master-Studiengängen für ausländische Studierende. Insgesamt dürfte die Anzahl UH-Studierender bis mindestens 2012 stark zunehmen (durchschnittlich +3% bis +4% pro Jahr; ca. 136000 Studierende 2012). Danach ist eine deutliche Verlangsamung der Zunahme bis etwa 2018 zu erwarten (durchschnittlich +0,3% bis +0,7% pro Jahr; 139000-146000 Studierende 2018).

UH: 45% bis 50% mehr Diplome in den technischen Wissenschaften bis 2018


Über alle Fachbereiche betrachtet, dürfte die Zunahme der Master oder Diplomierten bis 2018 zwischen 12% und 15% betragen. Allerdings gibt es je nach Fachbereich grosse Unterschiede. So ist für die technischen Wissenschaften und die Wirtschaftswissenschaften mit einer massiven Zunahme zu rechnen (ca. +20% bis 2012; +45% bis +50% bis 2018). Dieser Befund mag auf den ersten Blick überraschen, da die Anzahl Neudiplomierten in den technischen Wissenschaften in den letzten Jahren eher stagnierte. Der Grund dafür ist, dass die wichtigsten Einflussgrössen der Studierendenzahlen für diesen Bereich gegenüber dem Durchschnitt beinahe systematisch erhöht sind: hoher und wachsender Anteil ausländischer Neueintretender auf Stufe Bachelor (2008: 29%) sowie Master (25%) und Übertrittsquote von Bachelor zu Master von nahezu 100%. Im Kontrast dazu steht der erwartete Rückgang der Master oder Diplomierten von 20% in den Sozial- und Geisteswissenschaften.

Zwischen 10000 und 17000 FH- und PH-Studierende auf Master-Stufe


Bei den FH ist eine Zunahme der Anzahl Studierende auf den Stufen Bachelor oder Diplom von 43000 auf 48000 im Jahr 2012 (+12%) zu erwarten. Besonders hohe Wachstumsraten dürften im erst kürzlich etablierten Bereich Gesundheit (+30%) und im Bereich Wirtschaft (+20%) zu verzeichnen sein. Bei den PH dürfte die Anzahl Studierende auf diesen Stufen in den nächsten Jahren bei rund 10000 konstant bleiben. Die bedeutende Neuerung zu Beginn des Studienjahres 2008 war die Einführung des Master-Studienganges bei den FH mit etwa 2000 Neueinsteigenden; in den PH waren es rund 950. Während die Übertrittsquote von Bachelor zum Master FH relativ bescheiden war (16%), lag der Ausländeranteil mit 650 (30%) ziemlich hoch. Dieser Anteil ist am höchsten in den Bereichen Musik und Design (je ca. 40%) sowie Wirtschaft (30%). Die Entwicklung der Anzahl an Master-Studierenden bei FH und PH ist noch unklar, da das diesbezügliche Angebot in den nächsten Jahren wohl weiter ausgebaut wird. Wenn sich die Übertrittsquote vom Bachelor im gleichen Rahmen wie heute bewegt (Szenario «Neutral»), dürfte sie in den nächsten Jahren etwa 10000 erreichen. Wenn jedoch die Übertrittsquote bei den FH auf das Niveau von Deutschland ansteigt (37% bei einer vergleichbaren Population), könnten es bis 2013 gar 17000 sein.

Die Schweiz auf internationaler Ebene


Die Anzahl Studierende in den Schweizer Hochschulen sind also in einem starken Anstieg begriffen und könnten nächstens 200000 erreichen. Betrachtet man die Quoten der Hochschuldiplome oder der Neueintritte (und lässt somit die demografischen Faktoren ausser Acht), ist das Wachstum als relativ begrenzt zu betrachten. Während die Neueintrittsquote zwischen 1998 und 2008 – bedingt durch die Schaffung und Weiterentwicklung von FH und PH) – von 25% auf 35% hochschnellte, ist bis 2018 nur noch mit einem langsamen Wachstum auf 37% bis 39% zu rechnen. Dasselbe ist auch bei der Diplomierungsquote zu erwarten, die sich zwischen 2000 und 2008 verdoppelte und nun bis 2018 bei 28% bis 29% stagnieren dürfte. Es handelt sich zum Teil um eine «künstliche» Stagnation, bedingt durch Definitionen und die Bologna-Reform. Mit einer Hochschulabschlussquote (Niveau 5A) von 30% liegt die Schweiz – auch wegen der grossen Bedeutung der nicht-universitären tertiären Ausbildung (10% beim Niveau 5B) – unterhalb des OECD-Durchschnitts von 37% für das Niveau 5A. Gemäss den Szenarien des BFS nimmt der Anteil der Diplomierten in den nächsten Jahren um 3 Prozentpunkte zu und bleibt damit bescheiden. Dieser Befund basiert indes auf den Ausbildungen, die länger als ein Jahr dauern, und widerspiegelt somit nur einen Teil der Realität. Denn gemäss Schweizerischer Arbeitskräfteerhebung erwirbt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nachträglich ein tertiäres Diplom oder absolviert eine kürzere tertiäre Ausbildung (z.B. Diploma of Advanced Studies DAS in einer Hochschule). Gemäss den Szenarien dürfte das Ausbildungsniveau der Schweizer Bevölkerung in den nächsten Jahren weiter stark ansteigen. Der Anteil der Bevölkerung mit tertiärem Bildungsabschluss – universitäre und nichtuniversitäre Abschlüsse – könnte von 30% im Jahr 2006 bis 2018 auf über 44% ansteigen (gegenüber einem OECD-Durchschnitt von 27%).

Wichtigste Unsicherheitsfaktoren


Das Erstellen von Prognosen ist immer heikel, da sie in der Regel auf einer Fortführung der in der Vergangenheit beobachteten Tendenzen beruhen. Die mit der grössten Unsicherheit behafteten Faktoren sind a priori jene, die in diesem Jahr die deutlichsten Tendenzen gezeigt haben. Das Beispiel der Berufsmatur, wo die Zahlen nach einem massiven Anstieg ohne Übergang plötzlich stagnierten, mahnt uns zur Vorsicht. Der wichtigste Unsicherheitsfaktor betrifft die Anzahl der ausländischen Neueintretenden auf Bacheloroder Master-Niveau in den UH. Wenn deren Anstieg unvermindert weitergeht, könnten sie – vor allem in der kommenden demografischen Abschwungphase – für die Entwicklung dieser Institutionen eine sehr wichtige Rolle spielen. Welchen Einfluss wird die aktuelle Wirtschaftskrise auf die Anzahl der ausländischen Studierenden ausüben? Wird deren Zustrom auch längerfristig anhalten? Für die FH stellt man zudem fest, dass sich verschiedene endogene Faktoren noch nicht stabilisiert haben. Wird beispielsweise der Übertritt zur FH nach der Berufsmatur zur Regel? Ein wichtiger Unsicherheitsfaktor betrifft schliesslich auch die Master-Stufe bei den FH. Wird die Übertrittsquote bei den aktuellen Werten stagnieren oder wird sie sich ausweiten? Verharrt die Quote der ausländischen Neueintritte auf Master-Stufe auf gleichbleibend hohem Niveau? Aufgrund all dieser Unsicherheiten werden die Szenarien jedes Jahr auf den neuesten Stand gebracht.

Grafik 1 «Studierende mit ausländischem Zulassungsausweis, die ihre Studien in der betrachteten Studienstufe an einer Schweizer UH beginnen, 1996-2018»

Grafik 2 «Studierende der Universitären Hochschulen nach Studienstufe, 1990-2018»

Grafik 3 «Studierende der Fachhochschulen und der Pädagogischen Hochschulen nach Studienstufe,1997-2018»

Kasten 1: Informationen
Informationen zum Projekt sowie zu weiteren Bildungsstufen sind erhältlich im Internet unter www.eduperspectives-stat.admin.ch.

Kasten 2: Literatur
– Jacques Babel, Pascal Strubi, Szenarien 2009-2018 für die Hochschulen, BFS, Neuenburg, 2009 (erscheint demnächst).- Jacques Babel, Künftige Entwicklung des Bildungsniveaus der Bevölkerung in der Schweiz, BFS, Neuenburg, 2009.- Pascal Strubi, Jacques Babel, Bologna-Barometer, BFS, Neuenburg, 2009.

Zitiervorschlag: Jacques Babel (2009). Szenarien zur künftigen Entwicklung der Hochschulen in der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. September.