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Ist Erwerbsarbeit für Sozialhilfebezüger ein Privileg? Ein Gespräch

Ist Erwerbsarbeit für Sozialhilfebezüger ein Privileg? Ein Gespräch

Sozialhilfe ist in den letzten Jahren zu einem Dauerthema geworden. Vermuteter oder wirklicher Missbrauch sowie schwache oder gar gänzlich fehlende Anreize für die Aufnahme oder Ausweitung der Erwerbstätigkeit haben das Thema zu einem politischen und medialen Dauerbrenner gemacht. Dass die verschiedenen, zum Teil unabhängig fliessenden Quellen des Sozialstaates die Leistungsbezüger aus rationalen Motiven in der Sozialstaatsabhängigkeit gefangen halten, wurde besonders von Ökonomen kritisiert. Zur Steigerung der Wirksamkeit wurde in der Folge das Modell der aktivierenden Sozialhilfe entwickelt. Umso erstaunlicher, dass im sehr sachlich geführten Gespräch zwischen dem Vertreter der Arbeitergeber und der Sozialdienste über Sozialhilfe nur wenig Differenzen auszumachen sind.

Die Volkswirtschaft: Die Seco-Studie, die in dieser Ausgabe zum Thema präsentiert wird, zeigt, dass rund ein Drittel der Neubezüger von Sozialhilfe im Arbeitsmarkt dauerhaft wieder eingegliedert werden konnte und ein weiterer Drittel zwischen zeitweisen Anstellungen und erneuter Sozialhilfe («Drehtüreffekt») pendelt. Überrascht Sie dieses Resultat?

Schmid: Die Realität der Sozialdienste zeigt, dass eine Reintegration längst nicht in allen Fällen möglich ist. Die Sozialdienste wissen aus Erfahrung auch, dass der Anteil jener, die nur zeitweise eine Beschäftigung finden, recht hoch ist. So gesehen überraschen mich die Zahlen nicht. Daum: Auch mich überrascht das Resultat nicht. Erfreulich ist, dass immerhin ein Drittel wieder den Weg in den Arbeitsmarkt findet. Ein gewisser Wechsel zwischen Anstellung und Sozialhilfe ist wohl unvermeidlich. Das Ergebnis werte ich insgesamt als Aufforderung, noch besser zu werden. Dazu gibt es Hoffnung. Auch in der IV sind die Anstrengungen zur Aktivierung respektive zur Wiedereingliederung erst neueren Datums. Zu lange wurde Sozialhilfe nur als Finanzhilfe verstanden.  Die Volkswirtschaft: Kaum überraschend ist wohl auch das Resultat, dass ältere Menschen, Personen ohne Ausbildung und solche mit Sprachschwierigkeiten die grössten Probleme bei der Reintegration haben?  Schmid: Es handelt sich in der Tat genau um jene Personengruppen, die in der Sozialhilfe stark vertreten sind: Personen ohne Ausbildung und mit Sprachschwierigkeiten. Es sind jene, die besondere Schwierigkeiten haben, eine neue Stelle zu finden. Dort ist auch der Ansatzpunkt. Deshalb engagiert sich die Sozialhilfe für Bildungsmöglichkeiten und -chancen der sozial Benachteiligten sowie für bessere Integration der Personen mit Migrationshintergrund. Daum: Dieser Befund bestätigt eigentlich alles, was wir bisher wussten, nämlich dass Sprache und Ausbildung entscheidend sind. Durch die Sprache wird berufliche Qualifikation erst ermöglicht. Die Sprache hat einen grossen Einfluss auf die Integration in soziale Netzwerke und transportiert Kultur sowie Normen des Sozialverhaltens. Viele Sozialhilfebezüger – insbesondere jene mit Migrationshintergrund – weisen hier ein grösseres Defizit auf. Die Resultate zeigen somit, wo der Hebel anzusetzen ist. Sie sind auch ein Hinweis darauf, dass bei der Migrations- und Integrationspolitik der Fokus noch stärker auf diese Aspekte zu legen ist.  Die Volkswirtschaft: Welche gesellschaftlichen Faktoren haben Ihrer Meinung nach in erster Linie dazu beigetragen, dass die Sozialhilfequote gestiegen ist? Daum: Mit dem Arbeitsmarkt haben sich in den letzten zwanzig Jahren auch die Anforderungen an die Arbeitnehmenden stark verändert. Viele Menschen haben die entstandenen Lücken zu ihrer beruflichen Qualifikation nicht füllen können. Hinzu kommen gesellschaftliche Veränderungen wie der deutliche Anstieg der Scheidungsquote und die steigende Zahl allein erziehender Mütter. Diese Kombination von verschiedenen Ursachen, die untereinander in einer Wechselwirkung stehen, macht die Aufgabe der Sozialhilfe komplex. Es gibt noch einen Faktor, der Leute in die Sozialhilfe bringt: Viele Menschen haben Mühe mit der Kultur und den Anreizen des «Anything goes» und des «Subito-Konsums». Manche Jugendliche wollen möglichst schnell etwas verdienen, statt eine Ausbildung zu machen, und denken nicht daran, was die Konsequenzen ihres Handelns sind. Schmid: Dazu gehört auch die Verschuldung bzw. die Möglichkeit, sich rasch Kredite zu verschaffen. Viele Sozialhilfeempfänger kommen mit einem Schuldenberg daher. Aus unserer Sicht wäre ein griffiger Schutz vor solchen Kleinkrediten ein sinnvolles Instrument, um Leute davon abzuhalten, in eine Schuldenfalle zu tappen. Noch zur Sozialhilfequote: Sie ist eine Zahl, die für sich allein wenig aussagt, weil es in den Kantonen und Gemeinden unterschiedliche bedarfsabhängige Leistungen gibt, die vor der Sozialhilfe zum Tragen kommen. Wo Ergänzungsleistungen oder Wohnzuschüsse existieren, kommt die Sozialhilfe erst später zum Zuge. So ist denn auch die Sozialhilfequote dort, wo diese zusätzlichen Instrumente existieren, tiefer. Die Quote wird übrigens auch ganz banal durch die Möglichkeit des Umzugs typischerweise vom Land in die Stadt beeinflusst. Die Volkswirtschaft: Inwiefern hat die aktuelle Konjunkturkrise aus Ihrer Sicht die Reintegration von Sozialhilfebezügern in den Arbeitsmarkt bereits spürbar erschwert? Daum: Die Sozialhilfe wird wohl in den nächsten zwei Jahren die Arbeitsmarktentwicklung in erheblichem Ausmass zu spüren bekommen. Aber im Moment ist dies noch nicht der Fall. Schmid: Dieser Einschätzung stimme ich grundsätzlich zu. Nur eine Präzisierung: Bereits heute gehen vermehrt Leute direkt zur Sozialhilfe, ohne vorher durch die RAV gegangen zu sein. Es sind in der Regel Leute, die einen Job in prekären Arbeitsverhältnissen – wie befristete Arbeitsverträge, Arbeit auf Abruf etc. – hatten, der nicht zur Eröffnung einer neuen Rahmenfrist geführt hat.   Die Volkswirtschaft: Was sind für Sie realistische Zielsetzungen in der Sozialhilfe? Schmid: Da die Gruppe der Sozialhilfeempfänger heterogen ist, können auch nur gruppenspezifische Zielsetzungen formuliert werden. Wo Kinder allein erzogen werden müssen, genügt etwa als Zielsetzung die gute Erziehung der Kinder. Bei einem anderen Bezüger kann das Ziel lauten, dass die Person – trotz psychischem Handicap – eine Stelle findet. Bei einem Suchtkranken kann ein realistisches Ziel lauten, dass sich seine Lage nicht weiter verschlechtert. Einem Jugendlichen können Sie als Ziel setzen, dass er von der Strasse wegkommt und eine Ausbildung in Angriff nimmt. Daum: Ich sehe trotzdem für die Sozialhilfe übergeordnete Ziele: eine möglichst grosse Selbstständigkeit der Betroffenen sowie eine möglichst gute Integration in die Gesellschaft und – damit verbunden – in den Arbeitsmarkt. Meines Erachtens müssen wir aber lernen, realistische Ziele zu setzen. Die Vorstellung, die Sozialhilfe müsse jeden definitiv in den Arbeitsmarkt integrieren, ist in manchen Fällen nicht realistisch.  Schmid: Die Sozialhilfe ist subsidiär. Wer zu den Sozialdiensten kommt, hat viel-fach schon mehrere andere Stellen – u.a. die RAV – durchlaufen, und vieles hängt davon ab, wie die vorgelagerten Sicherungssysteme funktionieren. Wenn Sie die IV verschärfen, haben Sie psychisch Kranke, die keine Rente bekommen, die aber trotzdem überleben müssen und auf dem Arbeitsmarkt nicht willkommen sind. Es stellt sich ja kein Arbeitgeber hin, um diese Leute einzustel-len. In der Sozialhilfe landen Menschen, die weder ins System einer Sozialversicherung passen noch sich im Arbeitsmarkt eine Chance ausrechnen können. Daum: Man kann diesen Bogen noch weiter spannen: Es gibt tatsächlich viele unterschiedliche Gruppen, und das Zusammenspiel der Sozialhilfe mit standardisierten Sozialnetzen (ALV, IV) ist eng. Aber die Ursachen reichen bis in die Bildungspolitik hinein, zumal mangelnde Qualifikation ein grosser Risikofaktor ist. Deshalb muss in der Ausbildung alles getan werden, das individuell vorhandene Potenzial zu nutzen und die Menschen bestmöglich zu befähigen – immer mit dem Ziel, eine möglichst grosse Selbstständigkeit der Bezüger zu erreichen.  Die Volkswirtschaft: Wie beurteilen Sie den Wert von vorübergehenden Beschäftigungsverhältnissen? Haben diese überhaupt eine Sprungbrettwirkung? Daum: Auch wenn Beschäftigungsprogramme keine Sprungbrettwirkung haben: Ich bin zutiefst überzeugt, dass gute Beschäftigungsprogramme verhindern können, dass sich Menschen immer mehr von der Arbeitswelt entfernen und ihre Einordnung in Arbeitsverhältnisse vollends verlieren. Selbstverständlich gibt es keine Garantie für einen Ausweg aus der Beschäftigungslosigkeit und der Sozialhilfe. Aber hier dürfen die Bemühungen nicht nachlassen. Schmid: Es geht nicht nur um die Sprungbrettwirkung, sondern auch um die soziale Integration. Die Politik ist immer bereit gewesen, Programme mit dem Ziel der beruflichen Integration zu fördern. Selten hat sie sich leider bereit erklärt, Programme zu finanzieren, die der sozialen Integration dienen, mit der Begründung, im einen Fall rentiere es und im anderen nicht.  Die Volkswirtschaft: Die Studie zeigt sich enttäuscht über den Erfolg der Reintegrationsmassnahmen. Machen die Sozialhilfestellen aus Ihrer Sicht etwas falsch? Oder anders gefragt: Arbeiten Sozialämter Ihrer Meinung nach mit genügend klaren Zielsetzungen? Daum: Wenn ich mit Personen aus der Politik diskutiere, die nicht unmittelbar mit der Sozialhilfe vertraut sind, kommt fast reflexartig die Meinung: «Sozialhilfe gleich Geld.» Sozialhilfe ist aber weit mehr als bloss eine Geldleistung. Mindestens ebenso wichtig ist das Element der persönlichen Hilfe. Die Politik müsste die Bedeutung dieses Elements stärker gewichten, womit wir wieder bei der Differenzierung der Gruppen sind. Das heisst nicht, dass man in eine Art «Kuschelsozialhilfe» verfallen soll, sondern es geht um eine Fokussierung auf die jeweilige Fallkonstellation. Die einen brauchen in der Tat primär Geldleistungen, vielleicht ergänzt mit Coaching und Ähnlichem. Andere wiederum brauchen zur Hauptsache die nicht monetären Leistungen. Die Politik sollte sich mit dieser Mischung und dem Einsatz der verschiedenen Instrumente vertiefter auseinandersetzen. Das gäbe auch den Sozialdiensten die richtigen Zielsetzungen. Schmid: Ich bin sehr froh um diese Ausführungen. Die berühmten SKOS-Richtlinien, die einen ganzen Ordner umfassen, zeigen es ganz deutlich: Nur eine einzige Seite der umfangreichen Empfehlungen, wie Sozialhilfe zu leisten ist, enthält die Tarife mit den Grundleistungen der Personen. Ein grosser Teil befasst sich mit Fragen der Integration. Es wäre sehr hilfreich, wenn die Politik eine etwas breitere Sicht dieser Thematik bekäme. Das heisst nicht, dass die Sozialdienste alles richtig machen. Aber die Sozialhilfe gehört wegen des öffentlichen Drucks vermutlich zu den Systemen, die am schnellsten lernen. Die Bereitschaft, etwas Neues, etwas Erfolgreiches kennenzulernen und zu übernehmen, wird auch durch den intensiven Wissens- und Erfahrungsaustausch in der SKOS zwischen den Sozialdiensten stark gefördert.  Die Volkswirtschaft: Dann würden Sie also die Aussage nicht unterstützen, dass im Bereich der Sozialämter ein Ausbildungsbedarf oder ein Bedarf des Austausches von guten Praktiken bestehe? Daum: Die Betreuung ist um ein Vielfaches professioneller geworden – im Vergleich zur Situation in den Achtzigerjahren. Ich kann das beurteilen, weil ich damals auf kommunalpolitischer Ebene mit der Sozialhilfe zu tun hatte. Ungelöst scheint mir immer noch die Organisation der Sozialhilfe in den kleinen Gemeinden, die nach wie vor nicht über professionelle Mitarbeitende verfügen. Zu beachten ist aber auch die andere Seite, nämlich die Transmission in die Politik, welche die Aufsichtsoder Führungstätigkeit wahrnimmt. Ich finde es ganz wichtig, dass die oberste Führung der Sozialhilfe milizmässig organisiert ist. Von den Milizbehörden wünschte ich mir allerdings noch grössere Anstrengungen, um den Dialog zwischen den professionellen Sozialdiensten und der Öffentlichkeit zu intensivieren. Das ist wichtig, denn schliesslich geht es um den Einsatz erheblicher Steuergelder.  Schmid: Was der Sozialhilfe oft am meisten fehlt, ist ausreichendes Personal. Das Teuerste in der Sozialhilfe ist nämlich, wenn ihr das Personal verweigert wird und mit einem Unterbestand schludrige Arbeit geleistet wird, mit den entsprechenden Konsequenzen. Lange Zeit haben viele Politiker diesen Zusammenhang nicht gesehen. In der aktuellen Krise habe ich den Eindruck, dass es den Sozialvorständen weniger schwerfällt, ihren Argumenten für eine Aufstockung des Personals Gehör zu verschaffen. Der Umstand, dass die Sozialhilfe vielerorts Aufgabe der Gemeinden ist, führt zudem zu einer starken Politisierung der Sozialhilfe, und das ist ein Problem. Das zeigt sich im Vergleich mit der Westschweiz, wo sie kantonal geregelt ist. Dort wird viel weniger aufgeregt debattiert, weil das Thema nicht bis in die kleinsten Verästelungen des föderalistischen Staates hochgekocht wird. Wenn aber die Sozialhilfe gut organisiert ist, professionell geführt wird und etwa in regionalen Diensten zusammenarbeitet, spricht nichts dagegen, dass sie weiterhin in Gemeindezuständigkeit bleibt. Daum: Ich bin ein Anhänger der Sozialhilfe in Gemeindekompetenz. Auf Gemeindeebene lassen sich die Entwicklungen in der Sozialhilfe am besten nachvollziehen und mitgestalten. Bei einem Transfer auf Kantonsebene oder noch schlimmer auf Bundesebene bestünde die Gefahr, dass sie aufgrund der Entfernung lange kein Diskussionsthema wäre, dass aber nach zwei oder drei medial kritisierten Fällen plötzlich der Teufel los wäre. Selbstverständlich gibt es in den Gemeinden auch unangenehme Diskussionen und teilweise völlig unqualifizierte Angriffe. Aber sie sind Anlass, um sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Nach meiner Erfahrung macht die Bevölkerung in aller Regel mit, wenn die Diskussion gründlich geführt und richtig kommuniziert wird. Es gilt aufzuzeigen, was die Leistung der Sozialhilfe für die Gesellschaft ist, denn der richtige Umgang mit den verschiedenen Problemgruppen entlastet ja die Bevölkerung. In meinen vierzehn Jahren als Kommunalpolitiker hatte ich nie ein Problem, die nötigen Kredite zu bekommen.  Die Volkswirtschaft: Die Arbeitslosenversicherung weist bei der Integration von Arbeitslosen gute Erfolge auf. Grundprinzip ist die «gegenseitige Verpflichtung». Könnte die Sozialhilfe von der ALV etwas lernen?  Daum: Was die Sozialhilfe von der ALV lernen kann, ist der Umgang mit den Arbeitgebern. Seit der Krise 2001-2003 wird den RAV eine gute Leistung attestiert. Die Sozialhilfe ist da noch etwas im zeitlichen Verzug, aber auf dem richtigen Weg. Allerdings gibt es zwischen den beiden Systemen erhebliche Unterschiede in der Aufgabenstellung: Die ALV befasst sich primär mit dem Bruch zwischen dem Individuum und dem Arbeitsmarkt. Die Sozialhilfe hat hingegen noch viele andere Brüche zu bewältigen, die zuerst aufzuarbeiten sind, damit dann der Arbeitsmarkt wieder ins Spiel kommen kann.  Die Volkswirtschaft: Wie funktioniert Ihrer Meinung nach die Zusammenarbeit zwischen der Sozialhilfe und der ALV? Schmid: Der Kontakt zu den Arbeitgebern ist tatsächlich ein Problem. Wir von der SKOS fragen uns schon, weshalb eigentlich für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt drei verschiedene Stellen zuständig sein sollen – nämlich die ALV, die IV und die Sozialhilfe. Wir würden es gerne sehen, wenn die ganze Vermittlung zu den Arbeitgebern oder auch die Logistik der Beschäftigungsprogramme an einer einzigen Stelle wahrgenommen würden – unabhängig davon, wer eigentlich für die Sicherung des Lebensunterhalts zuständig ist.  Die Volkswirtschaft: Warum nicht den grossen «Befreiungsschlag» wagen und ALV, IV und Sozialhilfe in ein Sozialwerk integrieren? Schmid: Ich glaube nicht an den Befreiungsschlag, der mit dem Zusammenlegen von ALV, IV und Sozialhilfe erfolgen könnte. Trotzdem sollten wir uns die gedankliche Freiheit zugestehen, das heute Bestehende zu hinterfragen. Wir stellen fest, dass die ALV für die ersten zwölf Monate Arbeitslosigkeit hervorragend funktioniert. Gegen Ende der Rahmenfristen, wenn es auf die Aussteuerung zugeht, passiert nicht mehr viel, weil die Leute dann immer mehr ähnliche Probleme haben, die nachher in der Sozialhilfe auftauchen oder von der IV abgeklärt werden. Wenn es jemand im ersten Jahr nicht schafft, eine Stelle zu finden, müsste man mit anderen Methoden und anderen Instrumenten an ihn herangehen. Daum: Wir sind immer für eine angemessene Befristung der ALV-Leistungen eingetreten. Diese Diskussion wurde in den 1990er-Jahren vor allem im Hinblick auf die Systemgrenzen geführt. Aber die Argumentation von Herrn Schmid führt letzten Endes zum gleichen Punkt: Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto weniger liegt ihr ein reines Arbeitsmarktoder Arbeitsmarktfähigkeitsproblem zugrunde, und desto mehr sind andere Ursachen im Spiel, die unter Umständen zur Sozialhilfe oder in die IV führen. Es wäre sinnvoll, die Arbeitslosen vor Ende der Taggeldbezugsdauer nach bestimmten Kriterien – seien es zeitliche oder andere – für ursachengerechte Massnahmen abzuholen. Auch mit der 5. IV-Revision ist man dazu übergegangen, die potenziellen IV-Fälle möglichst frühzeitig zu erfassen.  Die Volkswirtschaft: Wo gibt es eine gemeinsame Interessenlage aller Sozialwerke? Schmid: In dem Moment, wo es nicht mehr einfach darum geht, Bewerbungen zu schreiben, um den Tritt wieder zu finden, kommen ALV, IV und Sozialhilfe in eine ähnliche Interessenlage. Die Verfassung ermöglicht für solche Situationen eine spezielle Arbeitslosenfürsorge. Davon hat der Gesetzgeber bis heute keinen Gebrauch gemacht. Daum: Der Übergang von der ALV in die anderen Systeme kann sicherlich verbessert werden. Auch Joint Ventures sind möglich. Es darf aber daraus nicht der Schluss gezogen werden, das Ende der Taggeldbezugsdauer bzw. die Aussteuerung seien noch weiter hinauszuschieben. Man könnte ebenso gut dafür plädieren, die Zuständigkeitsgrenze der ALV früher anzusetzen. Wo genau diese Grenze liegt, ist aber für die grundsätzliche Problematik nur von sekundärer Bedeutung. Offenbar bestehen Übergangsprobleme, die unabhängig davon angegangen werden müssen.  Die Volkswirtschaft: Meine Herren, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Gesprächsleitung und Redaktion: Geli Spescha, Chefredaktor «Die Volkswirtschaft» Abschrift: Simon Dällenbach, Redaktor «Die Volkswirtschaft»

Kasten 1: Aktivierende Sozialhilfe Die Volkswirtschaft: Was halten Sie von der aktivierenden Sozialhilfe? Schmid: Das Thema wurden an den Solothurner SKOS-Tagen vom 3./4. September 2009 unter dem Titel «Prävention, Aktivierung und Integration in Zeiten wirtschaftlicher Krise» ausführlich und differenziert behandelt. Rund 200 Fachleute waren dort anwesend.a Das Resultat in aller Kürze: Das Setzen von Anreizen ist nicht so einfach, wie es sich manche Ökonomen und Politiker vorstellen. Es gibt Fälle, bei denen Druck die Leute erst recht bockig macht und nichts mehr geht. Die SKOS ist mitten in der Debatte, wie sie wirksame Sozialhilfe weiter ausgestalten kann.Daum: Wie in der Erziehung geht es in der Sozialhilfe darum, den richtigen Mix von Fordern und Fördern zu finden. Je nach Person und Gruppe ist mehr oder weniger Druck angebracht. Das wird wohl auch keiner, der professionell Sozialhilfe betreibt, bestreiten. Bei Druck gilt es immer auch die familiäre Dimension zu beachten: Was passiert, vor allem mit den Kindern, wenn ein Familienverantwortlicher zu etwas gezwungen wird. Wir haben als Nicht-Profis zu oft nur Einzelfälle vor Augen und sehen zu wenig all die Implikationen, die eine gute von einer weniger guten Behandlung eines Sozialfalles unterscheiden.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2009). Ist Erwerbsarbeit für Sozialhilfebezüger ein Privileg? Ein Gespräch. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.