Suche

Abo

Die Medizin ist in erster Linie zum Heilen da

Schriftgrösse
100%

In der Medizin geht es nicht nur um Pillen, Fiebermesser und Zäpfchen, obwohl man dies in Bundesbern manchmal zu denken scheint. In erster Linie geht es vielmehr um Menschen und Menschlichkeit. Für Ärztinnen und Ärzte hat eine gute, richtige Medizin einen höheren Stellenwert als wirtschaftliche Überlegungen – das ist einer der Grundsätze des Selbstverständnisses. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Ärzteschaft das Geld zum Fenster hinauswerfen will oder dass für sie die Kostenproblematik völlig unerheblich ist. Sondern es geht hier um eine Frage der Prioritäten. Um es lapidar auszudrücken: Die Medizin ist nicht in erster Linie dazu da, um zu sparen, sondern um zu heilen.

Wirtschaftliche Überlegungen sind im Gesundheitswesen in Wirklichkeit nicht medizinischer, sondern ethischer Natur. Sie müssen in die Überlegungen – als ein Element unter vielen anderen – integriert werden, mit denen der Behandlungsprozess gesteuert wird. Sie sind wichtig, haben aber nicht oberste Priorität. Und sie können uns keinesfalls veranlassen, die Qualität unserer Arbeit abzubauen.  Diese Qualität, die wir erhalten wollen, bezieht sich sowohl auf die erzielten Resultate (Outcome) als auch auf die Prozesse, die zu diesen Resultaten führen. Dabei geht es insbesondere um die Beziehung zwischen Arzt und Patient, die – zusammen mit der Betreuung des Patienten – seit jeher in der Medizin von grundlegender Bedeutung ist. Wirtschaftliche Überlegungen müssen daher von Fall zu Fall berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass jede Situation einzeln entsprechend dem jeweiligen Patienten oder den betroffenen Personen beurteilt werden muss, und dass es weder allgemeingültige Antworten noch rezeptmässige Lösungen gibt.

Von der Theorie zur Praxis


In der Praxis müssen dem Gesundheitssystem zweifellos wirtschaftliche Grenzen gesetzt werden, wie dies bei jedem Tätigkeitsbereich der Gesellschaft und des Staates der Fall ist. Dies bestreitet auch die Ärzteschaft nicht. Sie setzt sich jedoch gegen unsinnige wirtschaftliche Grenzen zur Wehr, wenn diese etwa dazu führen, dass für die Bevölkerung nicht mehr die benötigten medizinischen Leistungen erbracht werden können. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass wirtschaftliche Einschränkungen bei der Erbringung von medizinischen Leistungen politischer Natur sind. Die Politik hat den Auftrag der Gesellschaft, von der sie gewählt und legitimiert wird, in Bezug auf die Finanzierung des Gesundheitssystems die notwendigen Grenzen festzulegen. Angesichts der Sprunghaftigkeit der öffentlichen Meinung zu diesem Thema ist das ein schwieriges Unterfangen. Dies ist jedoch kein Grund, dass sich unsere gewählten Entscheidungsträger dieser Verantwortung entziehen. So haben weder die Versicherer noch die Personen, welche im Gesundheitswesen tätig sind, die Grenzen des Systems selbst festzulegen. Sie haben aber die Aufgabe, für einen optimalen Betrieb zu sorgen und die verfügbaren Mittel intelligent und mit Gemeinschaftssinn zu nutzen. Nicht zu ihrer Rolle gehört indes das Treffen von Entscheiden, die letztlich im Wesentlichen politischer Natur sind.  Selbstverständlich soll man die so genannten «betroffenen Kreise» an der Festlegung der Grenzen des Systems beteiligen. Da sie über die erforderlichen fachlichen Kompetenzen verfügen, müssen sie angehört und einbezogen werden, und es wäre völlig kontraproduktiv, darauf zu verzichten. Doch die Verantwortungsbereiche müssen weiterhin klar aufgeteilt sein, damit das politische System richtig funktioniert.

Ein neuer Stil der Zusammenarbeit


Die Schweizer Ärzteschaft misst der Ethik einen hohen Stellenwert bei. Sie fühlt sich für die bestmögliche Nutzung des Budgets des Gesundheitssystems mitverantwortlich und engagiert sich in ihrer täglichen beruflichen Tätigkeit entsprechend. Es gehört zwar nicht zu ihren Aufgaben, die Grenzen des Systems festzulegen, doch sie muss unbedingt in die Überlegungen zu dieser Frage einbezogen werden. Was wir bis vor kurzem in der Gesundheitspolitik am meisten vermisst haben, ist ein Minimum an Übereinstimmung über die Grundsätze und die prinzipiellen Optionen. Es ist zweifellos auf diesen Umstand zurückzuführen, dass konkrete Entscheide über die Umsetzung der Ausrichtungen des Gesundheitssystems blockiert wurden. Offenbar entwickelt sich nun ein neuer Stil der Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren des Gesundheitssystems, dank dem bisherige Blockaden überwunden werden können. Wir setzen unsere Hoffnungen darauf und freuen uns darüber.

Zitiervorschlag: de Haller, Jacques (2009). Die Medizin ist in erster Linie zum Heilen da. Die Volkswirtschaft, 01. November.