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Arbeitsbedingungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates – geschätzte Fallzahlen und Kosten für die Schweiz

In der Schweiz leiden 18% der Erwerbstätigen an arbeits-(mit)-bedingten Rückenschmerzen. 26% aller krankheitsbedingten Arbeitsabsenzen sind durch Erkrankungen des Bewegungsapparates verursacht. Vgl. Graf M., Pekruhl U., Korn K., Krieger R., Mücke A., Zölch M.: 4. Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen 2005: Ausgewählte Ergebnisse aus Schweizer Perspektive. Seco, 19. April 2007. Das Arbeitsgesetz verpflichtet den Arbeitgeber jedoch zu einer wirksamen Prävention. Vgl. Arbeitsgesetz Art. 6,2. «Der Arbeitgeber hat insbesondere die betrieblichen Einrichtungen und den Arbeitsablauf so zu gestalten, dass Gesundheitsgefährdungen und Überbeanspruchungen der Arbeitnehmer nach Möglichkeit vermieden werden.» Die vorliegende Studie hat deshalb zum Ziel darzustellen, wie gross die Auswirkungen belastender Arbeitsbedingungen auf die Häufigkeit von Erkrankungen des Bewegungsapparates sind, und die dadurch bedingten volkswirtschaftlichen Kosten für die Schweiz abzuschätzen. Die Resultate: 560000 Fälle mit Erkrankungen des Bewegungsapparates und 1,6 Mio. Tage mit Arbeitsabsenzen wurden auf berufliche Belastungsfaktoren zurückgeführt. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf rund 9,8 Mrd. Franken. Die Autoren danken Thomas Ragni (Direktion für Wirtschaftspolitik, Seco) für sein Interesse an der Studie und die wertvollen Hinweise aus volkswirtschaftlicher Sicht.

2008 erschien eine systematische Übersicht der Literatur zu den Kosten von Kreuzschmerzen. Vgl. Dagneais S., Caro J., Haldeman S.: A Systematic Review of Low Back Cost of Illness Studies in the United States and Internationally. The Spine Journal 8, S. 8-20, 2008. Es zeigte sich, dass grosse Unsicherheiten bestehen bezüglich der Methode, wie die Kosten am besten geschätzt werden können, und der Höhe dieser Kosten. Läubli (2007) Vgl. Läubli Th.: Muskuloskelettale Beschwerden: Ein Indikator für kostspielige Mängel bei Betriebsabläufen. EKAS Mitteilungsblatt, Nr. 64, November 2007. hat auf der Grundlage der Zusammenstellungen von Lahiri et al. Vgl. Lahiri S., Gold J., Levenstein Ch.: Net-Cost Model for Workplace Interventions. Journal of Safety Research ECON Proceedings 36, S. 241-55, 2005. ein Kostenmodell aus betrieblicher Sicht publiziert. Dabei sind die folgenden Auswirkungen auf die Kosten von Bedeutung: – Verminderte Produktivität bei Arbeitstätigkeiten unter Schmerzen. – Produktionsausfälle wegen Krankheitsabwesenheit. – Verminderte Produktivität bei Arbeitssituationen mit hohen Belastungen, die zu Überbeanspruchungen führen und dadurch die Leistungsfähigkeit herabsetzen. Indikator dazu sind Tätigkeiten mit einem erhöhten Gesundheitsrisiko. – Ersatz- und Organisationskosten bei Krankheitsabwesenheiten.  Aus volkswirtschaftlicher Sicht ergeben sich zusätzliche Gesichtspunkte: Hier sind namentlich die Behandlungskosten, bezahlt durch die betroffene Personen selbst, die Krankenkassen oder den Staat, sowie Rentenkosten (Invalidenversicherung [IV], Suva) von grosser Bedeutung. Als weiteres Element ist auf die sogenannt intangiblen Kosten zu verweisen, die durch krankheitsbedingte Schmerzen, Funktionseinbussen und andere Beeinträchtigungen der Lebensqualität entstehen. Sie sind wichtig, doch wird darauf verzichtet, Beeinträchtigungen der Lebensqualität durch Erkrankungen und Schmerzen in Geldwerte umzurechnen. In dieser Studie wird mittels eines Risikomodells geschätzt, welcher Anteil an Erkrankungen des Bewegungsapparates auf ungünstige Arbeitsbelastungen zurückgeführt wer-den kann und welche wirtschaftlichen Kosten daraus entstehen. Die Analyse bezieht sich auf Gesundheitsstörungen im Bereich des Bewegungsapparates, die von den Betroffenen auf ihre Arbeitssituation zurückgeführt werden.

Datengrundlage und statistische Analyse


Als Grundlage für die Analyse dienten die Schweizer Daten des European Working Conditions Survey aus dem Jahre 2005. Vgl. European Working Conditions Survey, 2005. Data Processing and Editing Report, CH (05-3030-85), Gallup Europe. Die Personenauswahl für die Interviews erfolgte durch eine nach Regionen geschichtete Zufallsstichprobe.In der Schweiz wurden 1040 persönliche Interviews geführt, um die Arbeitsbedingungen aus Sicht der Befragten zu erfassen. Die vorliegende Auswertung beschränkt sich auf unselbständig Erwerbstätige (n=847). Die Angaben im Interview zu Gesundheitsproblemen im Bewegungsapparat wurden zu einer dichotomen Variablen zusammengefasst. Falls die Probanden bejahten, dass ihre Arbeit ihre Gesundheit beinträchtige, wurden sie anhand einer vorgegebenen Liste gefragt, wie die Arbeit die Gesundheit beeinträchtige. Falls die Probanden Rückenschmerzen (n=151) und/oder Muskelschmerzen (in den Schultern und/oder den oberen/unteren Gliedmassen; n=111) angaben, wurden diese Gesundheitsbeeinträchtigungen als arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates (n=176) bezeichnet. Keine diesbezüglichen Erkrankungen hatten 671 der befragten unselbständig Erwerbstätigen. Die Analyse bezieht sich auf Fragen zu arbeitsbezogenen Risikofaktoren für Erkrankungen des Bewegungsapparates. Die detaillierteren Antworten wurden dazu mit «ja» (Risikofaktor öfters präsent) oder «nein» (Risikofaktor nicht oder gelegentlich präsent) bewertet. Zuerst wurde überprüft, welche einzelnen der wissenschaftlich bekannten Vgl. Bernard B.P. (Hrsg.): Musculoskeletal Disorders (MSDs) and Workplace Factors/TOC. National Institute for Occupational Safety and Health, Cincinnati, OH. July 1997; Ariëns G.A.M., Van Mechelen W., Bongers P.M., et al. Physical Risk Factors for Neck Pain. Scand J Work Environ Health; 26, S. 7-19, 2000; Bongers P.M., Ijmker S., van den Heuvel S., Blatter B.M.: Epidemiology of Work Related Neck and Upper Limb Problems: Psychosocial and Personal Risk Factors (Part I) and Effective Interventions from a Bio Behavioural Perspective (Part II). J Occup Rehabil. 16, S. 279-302, 2006. 67 Risikofaktoren, die im Survey erhoben wurden, einen hohen Bezug zu Erkrankungen aufwiesen. Die 29 Risikofaktoren, welche im univariaten Test signifikant mit Erkrankungen des Bewegungsapparates korrelierten, wurden in eine logistische Regressionsanalyse aufgenommen. Die im multivariaten, logistischen Modell (nach schrittweisem Variablenausschluss) verbliebenen signifikanten Variablen wurden als wichtige Prädiktoren für die ökonomische Analyse betrachtet. Es wurde überprüft, ob ein vereinfachtes Risikomodell, das Doppelzählungen vermeidet, zur Beschreibung der risikorelevanten Exposition am Arbeitsplatz verwendet werden kann. Um den Einfluss der Arbeitssituation auf die Arbeitsabsenzen zu bestimmen, wurde ebenfalls das entwickelte vereinfachte Risikomodell verwendet. In die Analyse wurden nur diejenigen Abwesenheitstage einbezogen, die von den Interviewten als krankheits- und arbeitsbedingt angegeben wurden, und nur diejenigen, welche bei Personen mit arbeits-(mit-)bedingten Erkrankungen des Bewegungsapparates auftraten.

Ökonomische Analyse

Berücksichtigte Kostenarten


Zur ökonomischen Analyse wurde das entwickelte vereinfachte Risikomodell verwendet. Da Daten der Krankenkassen, Taggeldversicherungen von Pensionskassen oder der IV in der Schweiz nicht vorliegen, wurden Behandlungsoder Rentenkosten nicht berechnet, sondern die Schätzungen auf betriebswirtschaftlich relevante Kosten beschränkt. Drei Kostenarten wurden berücksichtigt: – verminderte Produktivität bei Arbeitstätigkeit unter Schmerzen; – Produktionsausfälle wegen Krankheitsabwesenheit; – verminderte Produktivität bei Arbeitssituationen mit hohen Belastungen, die zu Überbeanspruchungen führen und dadurch die Leistungsfähigkeit herabsetzen und das Erkrankungsrisiko erhöhen.

Annahmen für die ökonomische Analyse


Personen mit muskuloskelettalen Gesundheitsbeschwerden haben eine um 3% verringerte Produktivität. Dies ist eine nur teilweise gesicherte Annahme, auch wenn in den letzten Jahren einige Studien zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Lötters et al. (2005) Vgl. Lötters F., Meerding W.-J., Burdorf A.: Reduced Productivity After Sickness Absence due to Musculoskeletal Disorders and its Relation to Health Outcomes. Scandinavian Journal of Work, Environment & Health, 31, S. 367-74, 2005. berichteten, dass ein Jahr nach Arbeitsabwesenheit wegen muskuloskelettalen Erkrankungen noch 40% der Arbeitnehmenden eine reduzierte Produktivität hatten, die durchschnittlich um 20% reduziert war. Damit ergibt sich pro Person, die trotz einer muskuloskelettalen Erkrankung am Arbeitsplatz anwesend ist, eine um 8% reduzierte Produktivität. Hagberg et al. (2002) Vgl. Hagberg M., Tornqvist E.W., Toomingas A.: Self-Reported Reduced Productivity due to Musculoskeletal Symptoms: Association with Worplace and Individual Factors Among White-Collar Computer Users. Journal of Occupational Rehabilitation, 12, S. 151-62, 2002. berichteten, dass bei Angestellten mit Computerarbeit 8% über eine im Mittel um 15% reduzierte Produktivität berichteten. Bei einer üblichen Beschwerdeprävalenz von 40% errechnet sich, dass jede fünfte Person mit Beschwerden auch eine dadurch eingeschränkte Produktivität erleidet. Damit ergibt sich für eine Person, welche trotz muskuloskelettalen Schmerzen am Arbeitsplatz anwesend ist, eine durchschnittlich um 3% reduzierte Produktivität. Ein gesundheitlich bedingter Tag Abwesenheit verursacht Kosten von 600 Franken pro Tag. Die Suva Vgl. Suvapro: Absenzenmanagement: Der Werkzeugkasten aus der Praxis för die Praxis. Bestellnummer 2790.d, www.suva.ch, Suva Luzern, 2009.

rechnet für Krankheitsabsenzen mit direkten und indirekten Kosten von je 300 Franken.  Arbeitssituationen, die ein Gesundheitsrisiko für muskuloskelettale Erkrankungen darstellen, führen auch bei beschwerdefreien Personen zu einer um 5% reduzierten Produktivität. Erfahrungsgemäss führen nicht optimal gestaltete Arbeitsplätze auch bei beschwerdefreien Personen zu Belastungen, die ermüden und die Produktivität reduzieren. Lahiri et al. (2005) berichteten anhand dreier Fallbeispiele, dass ergonomische Massnahmen, die in Abteilungen mit vermehrten muskuloskelettalen Erkrankungen für alle Mitarbeitenden (mit und ohne Beschwerden) umgesetzt wurden, zu einem Anstieg der Produktivität von 5% bis 40% führten.

Erkrankungen des Bewegungsapparates und Belastungen am Arbeitsplatz

Arbeitsbelastungen mit stark gehäuften Erkrankungen


Durchschnittlich berichteten 24% der Männer und 16% der Frauen der Schweizer Erwerbsbevölkerung über arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates. Von den 66 geprüften Variablen zeigten 29 einen möglichen signifikanten Zusammenhang mit diesen Erkrankungen des Bewegungsapparates (Signifikanzniveau von p=0,05). Für das nach Bonferroni angepasste Signifikanzniveau (p </=0,007) waren es 18 Variablen. Der Prozentsatz ist besonders hoch und beträgt mehr als 40% bei den folgenden Arbeitsbelastungen:  – Beruf, der schmerzhafte oder ermüdende Körperhaltungen verlangt;  – Tragen oder Bewegen schwerer Lasten oder Personen; – schlechte Vereinbarkeit der Arbeitszeiten mit familiären oder sozialen Pflichten ausserhalb des Berufs;  – Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen;  – Mobbing.  Am deutlichsten korreliert mit arbeits-(mit-)bedingten Erkrankungen des Bewegungsapparates waren schmerzhafte oder ermüdende Körperhaltungen. Hier wird die Frage nach Ursache oder Wirkung akut, da beim Vorliegen schmerzhafter Erkrankungen jede Haltung sehr schnell ermüdend und schmerzhaft wird. Gleichzeitig ist erwiesen, dass Zwangshaltungen muskuloskelettale Erkrankungen verursachen. Diese Variable wurde deshalb für die multivariate Modellierung nicht berücksichtigt.

Multivariates Modell


Im multivariaten Modell wurden für die untersuchte Stichprobe acht Variablen als signifikante Risikofaktoren für arbeits-(mit-)-bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates identifiziert (siehe Kasten 1 Acht Variablen, die sich in der logistischen Regression als signifikant erwiesen haben:- Wie gut lassen sich Ihre Arbeitszeiten im Allgemeinen mit Ihren familiären oder sozialen Verpflichtungen ausserhalb des Berufs vereinbaren? (Risiko = nicht sehr gut/überhaupt nicht gut, Kontrolle = gut/sehr gut).- Tragen oder Bewegen von schweren Lasten oder Personen (Risiko = die Hälfte der Zeit oder mehr, Kontrolle = weniger als die Hälfte der Zeit).- Sind Sie bei Ihrer Arbeit Vibrationen von Werkzeugen, Maschinen usw. ausgesetzt? (Risiko = die Hälfte der Zeit oder mehr, Kontrolle = weniger als die Hälfte der Zeit).- Wie oft sind störende Unterbrechungen Ihrer Arbeit wegen anderer unvorhergesehener Aufgaben? (Risiko = unvorhergesehene Aufgaben, die stören, Kontrolle = nie/gelegentlich/ziemlich häufig/sehr häufig Unterbrechungen ohne Auswirkungen).- Wie zufrieden sind Sie mit den Arbeitsbedingungen in Ihrem Hauptberuf? (Risiko = nicht sehr/überhaupt nicht zufrieden, Kontrolle zufrieden/sehr zufrieden).- Auf Anfrage werde ich von meinen Vorgesetzten/meinem Chef unterstützt. (Risiko = selten/fast nie, Kontrolle = manchmal/häufig/fast immer).- Ist Ihr Arbeitstempo abhängig von vorgegebenen Produktionsoder Leistungszielen? (Risiko = ja, Kontrolle = nein).- Ich kann frei entscheiden, wann ich Urlaub oder Tage frei nehme. (Risiko = selten/fast nie, Kontrolle =manchmal/häufig/fast immer).).

Anzahl Belastungsfaktoren und Erkrankungshäufigkeit


Oftmals kommen mehrere Risikofaktoren gleichzeitig vor und verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Basis der logistischen Regression ist ein multiplikatives Modell. Wir überprüften deshalb, ob für die ökonomische Analyse ein vereinfachtes Modell verwendet werden kann. Dazu wurde ein Risikoindikator gebildet, welcher zählt, zu wie vielen der acht gefunden Risikofaktoren eine Person exponiert ist. Die Korrelation zwischen diesem Risikoindikator und der Prävalenz arbeits-(mit-)-bedingter Erkrankungen erwies sich als ein gutes Modell (R2=0,93, siehe Grafik 1).

Erkrankungen, Arbeitsabsenzen und Belastungsindex


Von den 112 Erwerbstätigen ohne Exposition zu den acht wichtigsten Risikofaktoren gaben nur 4 Personen (3%) eine arbeits-(mit-)bedingte Erkrankung des Bewegungsapparates an. Die 112 Erwerbstätigen repräsentieren die Situation bei den etwa 10% der Schweizer Arbeitsplätze, die praktisch frei von solchen Risikofaktoren sind. Arbeitsabsenzen wegen arbeits-(mit-)bedingten Erkrankungen des Bewegungsapparates traten bei 16 Personen auf. Von Erwerbstätigen ohne Exposition wurden keine diesbezüglichen Absenzen erwähnt. Die Gegebenheit bei Arbeitssituationen ohne Exposition kann als repräsentativ für die Erkrankungsrate bei optimalen Arbeitsbedingungen angesehen werden. In diesem Fall entsprechen die arbeits-(mit-)bedingten Fälle (bzw. Absenzen) der gesamten Anzahl beobachteter Fälle abzüglich der Anzahl Fälle bei optimalen Arbeitssituationen. Unter dieser Annahme sind 147 der insgesamt 176 Fälle arbeits-(mit-)bedingt.

Schätzung der volkswirtschaftlichen Kosten


Hochgerechnet auf die Schweizer Erwerbsbevölkerung ergibt sich, dass von 670000 Fällen mit arbeits-(mit-)bedingten Erkrankungen 560000 Fälle auf einen oder mehrere der acht Risikofaktoren zurückzuführen sind und zu 1,6 Mio. Tagen mit gesundheitsbedingten Arbeitsabsenzen führten. Aufgrund dieser Zahlen lassen sich die folgenden volkswirtschaftlichen Kosten für die Schweiz ableiten: – 3,3 Mrd. Franken wegen einer verminderten Produktionsleistung durch eine reduzierte Arbeitsproduktivität bei unselbständig Erwerbstätigen; – 0,97 Mrd. Franken wegen Arbeitsabsenzen; – 5,5 Mrd. Franken wegen verminderter Produktivität bei Arbeitssituationen, die ein erhöhtes Risiko für arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates aufweisen.

Diskussion


Arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates sind einer der wichtigsten Gründe für gesundheitsbedingte Arbeitsabsenzen. Die diesbezüglichen in der vorliegenden Studie geschätzten betrieblichen und volkswirtschaftlichen Kosten berücksichtigen die Kosten für Therapie, Krankenkasse, IV oder Spitalbehandlungen nicht, da die nötigen Daten in der Schweiz nicht verfügbar sind. Erhebungen anderer Länder zeigen jedoch, dass diese Kosten beträchtlich sind. Betrachtet man die dadurch verursachten Absenzen, so stellt man fest, dass diese mit 11% einer der häufigsten Gründe für gesundheitsbedingte Arbeitsabsenzen sind. Im Januar 2008 bezogen 51271 Personen eine IV-Rente wegen muskuloskelettaler Erkrankungen. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil dieser IV-Fälle durch die berufliche Belastung ausgelöst wurde und Präventionsmassnahmen zu einer erheblichen Reduktion der IV-Kosten beitragen könnten. Damit wird klar, dass die verursachten Kosten zum Teil durch die Gesamtgesellschaft übernommen werden und die Gefahr besteht, dass die Betriebe diese Gesundheitskosten nur zum Teil in ihre Kosten-Nutzen-Überlegungen mit einbeziehen. Solche Fehlanreize können aus volkswirtschaftlicher Sicht zu unerwünschten erhöhten Therapie- und Rentenkosten führen, weil Präventionsanstrengungen am Arbeitsplatz zu gering ausfallen. In der Studie ebenfalls nicht berücksichtigt ist der Aufwand, der nötig wäre, um die Risiken wirksam zu reduzieren. Damit stellt sich aus ökonomischer Sicht die Frage, ob – und wenn ja, in welchem Ausmass – die hochgerechneten Kosten vermeidbar sind. Anderseits zeigen veröffentlichte Praxisbeispiele, dass sich bei verbesserten Arbeitssituationen Erkrankungen reduzieren lassen und oftmals durch eine Erleichterung der Arbeitsaufgabe (z.B. Förderbänder anstatt Tragen) die betriebliche Effizienz gesteigert werden kann.

Fazit


Aus Kosten-Nutzen-Überlegungen haben vermehrte Präventionsanstrengungen auf betrieblicher und staatlicher Ebene ein grosses Potenzial. Anzusetzen ist beim gleichzeitigen Vorliegen mehrerer Risikofaktoren, insbesondere Manipulation schwerer Lasten, fehlender Erholungsmöglichkeiten, vibrierender Werkzeuge und allgemeiner Arbeitsunzufriedenheit. Es ist wohlbegründet, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Zusammenarbeit mit den kantonalen Arbeitsinspektoraten und der Suva beschlossen hat, Risikofaktoren, welche den Bewegungsapparat beeinträchtigen können, zu einem Vollzugsschwerpunkt in den Jahren 2010 und 2011 zu bestimmen. Betriebliche Präventionsanstrengungen und ein effektiverer Vollzug des Arbeitsgesetzes könnten erheblich dazu beitragen, die durch arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates verursachten Kosten im Gesundheitswesen zu senken.

Grafik 1 «Erkrankungen des Bewegungsapparates und Risikofaktoren am Arbeitsplatz»

Kasten 1: Risikofaktoren für arbeits-(mit-)bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates Acht Variablen, die sich in der logistischen Regression als signifikant erwiesen haben:- Wie gut lassen sich Ihre Arbeitszeiten im Allgemeinen mit Ihren familiären oder sozialen Verpflichtungen ausserhalb des Berufs vereinbaren? (Risiko = nicht sehr gut/überhaupt nicht gut, Kontrolle = gut/sehr gut).- Tragen oder Bewegen von schweren Lasten oder Personen (Risiko = die Hälfte der Zeit oder mehr, Kontrolle = weniger als die Hälfte der Zeit).- Sind Sie bei Ihrer Arbeit Vibrationen von Werkzeugen, Maschinen usw. ausgesetzt? (Risiko = die Hälfte der Zeit oder mehr, Kontrolle = weniger als die Hälfte der Zeit).- Wie oft sind störende Unterbrechungen Ihrer Arbeit wegen anderer unvorhergesehener Aufgaben? (Risiko = unvorhergesehene Aufgaben, die stören, Kontrolle = nie/gelegentlich/ziemlich häufig/sehr häufig Unterbrechungen ohne Auswirkungen).- Wie zufrieden sind Sie mit den Arbeitsbedingungen in Ihrem Hauptberuf? (Risiko = nicht sehr/überhaupt nicht zufrieden, Kontrolle zufrieden/sehr zufrieden).- Auf Anfrage werde ich von meinen Vorgesetzten/meinem Chef unterstützt. (Risiko = selten/fast nie, Kontrolle = manchmal/häufig/fast immer).- Ist Ihr Arbeitstempo abhängig von vorgegebenen Produktionsoder Leistungszielen? (Risiko = ja, Kontrolle = nein).- Ich kann frei entscheiden, wann ich Urlaub oder Tage frei nehme. (Risiko = selten/fast nie, Kontrolle =manchmal/häufig/fast immer).

Zitiervorschlag: Thomas Laeubli, Christian Müller, (2009). Arbeitsbedingungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates – geschätzte Fallzahlen und Kosten für die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. November.