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Vermittlung ökonomischen Wissens im Zeitalter des Internets

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Für den Praktiker und Nutzer ökonomischen Wissens hat das Internet fast alles revolutioniert. Als Praktiker sprechen wir Journalisten, Unternehmer, öffentliche Verwaltungen, Verbände und den interessierten Laien an. Die Umwälzung war gleich vierfach: Sie betraf den Zugang, das Tempo, das Volumen und sicher auch die Qualität wirtschaftlichen Wissens. Denn nicht nur der Kanal der Vermittlung – also das Internet im engeren Sinne – bietet sich nun an. Hinzugetreten sind die Digitalisierung aller Informationen, die Buchführungstransparenz der Wirtschaft und schliesslich der gesetzlich garantierte Zugang zu staatlichen Quellen.

Wie war das noch damals?


Die Zeiten der Informationsbeschaffung in Sachen Wirtschaft waren vor noch weniger als 20 Jahren gemächlicher und beschwerlicher zugleich. Brachte die «Herald Tribune» drei Zeilen über ein neues Umweltgesetz Kaliforniens, dann suchte man in der internationalen Telefonzentrale auf der Hauptpost Bern oder Zürich das Telefonbuch von Sacramento nach der Adresse des Umweltamts durch, ging nach Hause und schrieb einen Brief. Sechs Wochen später kam vielleicht das Gesetz per Post, vielleicht ein Communiqué darüber, vielleicht nichts. Auch dies schadete nicht sonderlich, denn in der Schweiz hatte niemand anderer dieses Gesetz in den Händen – kein Journalist, kein Verband, keine Amtsstelle. Das gleiche Vorgehen drängte sich auf bei Studien der Weltbank oder von Universitäten, bei Geschäftsberichten in- und ausländischer Firmen sowie bei Dokumenten von Amtsstellen. Will hingegen heute eine Amtsstelle, eine Firma oder ein Journalist den geplatzten Klimagipfel von Kopenhagen 2009 beurteilen, dann klinkt man sich auf die Webseiten der wichtigsten Länder ein; auch die chinesische Haltung ist unter http://www.gov.cn sofort und in Englisch zugänglich. Nach einer knappen Stunde hat man ein Panorama der Positionen beisammen, für welches man vor 20 Jahren mehrere Wochen gebraucht hätte. Russland, China wären schon aus sprachlichen Gründen aussen vor geblieben.

Irrgarten Internet? Auf das Sichten kommt es an


Das Internet platzt also vor lauter Informationen, und wir subsumieren hier darunter auch «Wissen», ohne lange zu streiten, welches die Unterschiede sind. Viele klagen, dass gerade deswegen das Internet zu einem Irrgarten geworden sei, dass zu viel Information das Wissen abtöte. Doch dieser Schluss läuft selbst in die Irre. Es ist nämlich etwas Erstaunliches geschehen: Die klassische Hierarchie von Informations- und Wissensquellen hält sich. Niemand zitiert im Ernst irgendeinen Blog, einen Meinungsfetzen ohne Quelle, eine wissenschaftliche Sektenseite. Wie im altschriftlichen Zeitalter sehen wir nur die anerkannten Universitäten, Wissenschaftler, Amtsstellen oder internationalen Organisationen als massgeblich an. Wir sichten die Quellen sodann nach dem Parallelogramm der wirklichen Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft. Wir sehen jene Parteizentrale im Web an, die eine Initiative startet, eine Firmenmitteilung zu einer Fusion, einen Wissenschafter zu einem brennenden Problem. Im Internet mag Redundanz herrschen und viel Schrott zirkulieren. Doch der wirtschaftlich Interessierte ordnet dies alles nach dem Schema gesellschaftlicher Interaktion und Bedeutung, das er selbst im Kopfe hat. Das Vorwissen um Wirtschaft und Gesellschaft steuert seine Internetnutzung. Auf diese Weise kann man Information und Wissen auseinanderhalten – es braucht wirtschaftliches Wissen, um die Informationsfülle des Internets produktiv zu sichten. Dies ist auch eine beruhigende Botschaft an Sekundarschulen und Hochschulen. Es wäre – wie manche immer noch meinen – falsch, die Schüler und Studenten zuallererst als Web-Nutzer kundig zu machen und «Informatik» in dieser Form zu fördern. Das machen die Youngsters von selbst und zu Hause. Sondern es kommt weiterhin darauf an, dass sie lernen, wie Gesellschaft und Wirtschaft funktionieren, wo Interessen liegen, wie die Prozesse verlaufen, welches die Akteure sind. Das bläut man ihnen sogar besser an der schwarzen Tafel als irgendwo im Internet ein. Und sie sollen es von Hand abschreiben. Sonst geht vergessen, dass Lernen vom Ohr und Auge nur ins Gehirn geht und dort bleibt, wenn auch das eigene ausdrückliche Formulieren – der «Ausdruck» eben – es mitliefert und stützt.

Digitalisierung aller Wissensinhalte


Das Internet ist aber nur der Kanal – eine Form, ein Medium, welche Wissen und Informationen transportieren. Das Internet hätte praktisch nichts gebracht, wäre es nur über die Buch- und Papierwelt der 1960er- und 1970er-Jahre gestülpt worden. Denn die Revolution lief auf einer zweiten Welle: Alle Inhalte sind jetzt digital verfügbar. Man kann es sich heute schon fast nicht mehr vorstellen, wie wenig Studien, Bücher da waren, wie streng sie in Bibliotheken gehütet wurden, wie peinlich genau sie bezahlt werden mussten. Die statistischen Ämter von Kantonen und Bund zählten vor allem das, was Subventionen bekam oder Steuerbasis war. Heute haben sie dazu ein eigenes Erhebungsprogramm, das soziologischen und wirtschaftlichen Leitlinien folgt. Die Studien von Weltbank, OECD und andern Organisationen waren früher noch überschaubar und mussten gekauft werden. Wissenschafter schrieben nur Bücher; interne «Working Papers» der Universitäten zirkulierten kaum auswärts. Konjunkturelle Erhebungen gingen kaum über veraltete Preisindizes, Arbeits- und Exportstatistiken hinaus. Heute flimmern stündlich mehrere Einkaufsmanager-Indizes, Konjunkturbarometer, Zins- und Rohstoffmeldungen durchs Netz. Früher erkundigte man sich telefonisch bei der Börsenabteilung seiner Bank über die Tendenz am Markt, oder man beschied sich mit den Radio-Börsenkursen um 13.50 Uhr. Heute kann man nicht nur online alle Kurse weltweit sehen, sondern auch kaufen und verkaufen.Die kleinliche Verkäufermentalität ist verschwunden. Studien, Indizes, Statistiken und ganze Bücher sind gratis abrufbar. Das Geschäftsmodell hat sich dahin gewandelt, dass eine Firma, eine Universität, ein Amt, ein Autor gerne vorzeigen, was man kann und weiss. Das bringt Aufträge, Bekanntheit, Status; es nützt indirekt, aber nachhaltig. Man schliesst wieder an Albrecht von Haller an, der in 17 000 Briefkorrespondenzen mit Kollegen, Konkurrenten und wissenschaftlichen Gesellschaften preisgab, was er wusste – und bekam, was er wissen wollte. Diese gesamteuropäische «république des lettres» des 18. Jh. ist wieder erstanden, diesmal weltweit, schwerelos, voluminös.

Recht auf Information – Pflicht zur Information


Damit verbunden aber ist die dritte Welle der Revolution – das Recht auf wirtschaftliche Informationen. Gegenüber dem Staat haben Bürger, Firmen oder Verbände heute das Recht, alle Studien, Entscheide, Abläufe zu kennen. Der «Freedom of Information Act» von 1966 in den USA hat sich in allen demokratischen Ländern verbreitet.Doch auch die Firmen sind auskunftspflichtig geworden. Das Aktienrecht schreibt die minimale Gliederung von Jahresrechnung und Bilanz vor. Private Normenvereinigungen gehen noch weiter, und jede Firma, die etwas auf sich hält (vor allem aber, wenn sie an der Börse gehandelt wird), muss diese Ansprüche auf Information erfüllen. Es waren heroische Kämpfe Ende der 1980er-Jahre in verschiedenen eidgenössischen Kommissionen nötig, um den hiesigen Wirtschaftsvertretern die grundlegende angelsächsische, kapitalistische Informationshaltung nahezulegen. Der damalige Chef des «Vororts» (heute Economiesuisse) pflegte zu sagen: «Die Schweizer Wirtschaft kann ohne stille Reserven nicht leben.» Die Weltfirma Hoffmann-La Roche gab im Jahresbericht die Einnahmen und Aufwendungen in je zwei bis drei Zeilen bekannt. Doch die Auskunftspflichten hier wie in der übrigen Welt hoben die Information, dann das Wissen um wirtschaftliche Fakten und Abläufe auf diese Weise ums Millionenfache an. Wie kam man vor dem Internet an die Jahresberichte der schweizerischen Firmen aus den Vorjahren? Entweder schrieb man die Firmen an und hoffte auf baldige Antwort. Oder man ging physisch in die Nationalbibliothek, ins Wirtschaftsarchiv der Universität Basel oder, als Privileg, in die interne Sammlung der UBS in Zürich. Vor den Preis hatten die Bibliotheken aber den Schweiss gesetzt – es waren Zettelkästen zu durchblättern, Bestellzettel auszufüllen, Verteilzeiten abzuwarten. Um die Zahlen und Fakten mitzunehmen, musste man sie entweder abschreiben oder hoffen, man finde ein Kopiergerät in der Nähe, man habe das Kleingeld dabei und man dürfe die Dokumente überhaupt aus dem Saal nehmen. Dann zurück an den heimischen Schreibtisch, und wehe, es ging einem auf, dass ein wichtiges Detail via Fussnote auf eine andere, nicht kopierte Seite verwiesen war: «The same procedure again.»

Die Folgen: Grosse Gewinne …


Die verhundertfachte Daten- und Textproduktion von Firmen, Organisationen, Universitäten und Amtsstellen schafft die Ausgangslage für «Synthetisierer». Neue Studien entstehen daraus, Statistiken, Übersichten, Artikel. Unsere Gesellschaft ist dadurch ausserordentlich reich an Wissen und an Synthesen geworden. Dieser Reichtum schlägt sich auch materiell nieder. Zum einen haben sich die Berufe der Synthetisierer massiv vervielfacht in Wissenschaft, Medien, Beratung. Zum anderen sind die Akteure in der Wirtschaft viel informierter geworden und treffen – hoffentlich – informiertere Entscheide. Die Synthesen sind kompetitiver erarbeitet, kontrastierter, pluralistischer – also besser. Der materielle und hedonische Wohlstand unserer Gesellschaft hebt sich deutlich.
Unter hedonischem Wohlstand versteht man nicht direkt messbare Verbesserungen, hier eben den wirklich besseren Informationsstand, die Freude am Durchblick, die Passion an pluralistischen Quellen, an laufenden Debatten quer durch die Welt. Über meinen PC laufen täglich die «New York Times», die «Financial Times» ein und BBC, CNN-Money, Finance.Yahoo, Al-Jazeera, China Daily sind – wie vieles andere auch – in den Lesezeichenlisten. Wir sind «One World» geworden, das Wort ist nicht zu gross.

…und tragbare Opfer


Leicht deprimierend für alle, die vor dem Internet gelebt, gedacht und geschrieben haben, bleibt die «damnatio memoriae». Wie bei abgesetzten Kaisern Roms gedenkt man ihrer kaum mehr – diesmal nicht aus Wut, sondern weil man sie nur über den komplizierten Weg der Bibliotheken ausfindig machen und in Debatten einspeisen könnte. In der redundanten Welt des Internet ist aber alles schon mehrfach drin, was an Konzepten, Ideen, Fakten gilt. Es lohnt sich für den Praktiker selten, den Aufwand des Ausgrabens zu treiben.
Für Historiker sieht es anders aus; mögen sie weiterhin für uns wertvolle Synthetisierer sein.Der «grosse Text» schliesslich wird zu einem weiteren Opfer. Man merkt, dass anstelle vieler Fachbüchern eine kluge Systematik im Wikipedia-Format genügt. Der Hauptgedanke vieler Schriften und Texte ist schnell mal umschrieben. Die Nobelpreis-gekrönten Schriften des Ökonomen Ronald Coase sind leicht auf gut einem Dutzend Seiten hingeworfen; Albert Einsteins drei umwerfende Thesen des Jahres 1905 machen noch weniger aus. Gute, weltbekannte Ökonomen setzen ihre Ideen, Papiere, Tagesmeinungen in Kurzform auf ihre Homepage. Wir brauchen das ganze Gedöns grosser, dicker Wälzer nicht. Vielleicht braucht es sogar keine Bücher mehr im herkömmlichen Sinn. Denn die digitale Informationswelt nimmt neue Wege – mit dem «Kindle», dem elektronischen Buch über G3, und dem Mobilphone, das sich als kommendes Universalgerät zeigt und alle Geräte, alle Informationswege konvergieren lässt. Bequemer ist die Welt nicht unbedingt geworden. Anstatt in den Bibliotheken Zettelkästen zu sortieren, muss der Informationsbeflissene heute im Internet surfen, und zwar bei allen denkbaren Quellen, stundenlang. Es gibt keine Entschuldigung mehr, man habe etwas nicht gefunden oder eine Quelle sei per Post nicht eingetroffen. Ubiquitär, Instant, weltweit – das ist die Wirklichkeit.

Kasten 1: Wie man sich 1988 über die EU informierteIm Frühsommer 1988 signalisierte ich dem Redaktor der «Gewerkschaftlichen Rundschau», dass meiner Ansicht nach Europa ein Thema auch in der Schweiz und für den Gewerkschaftsbund SGB werden dürfte und dass ich ein Sonderheft dazu machen werde. Meine Informationen kamen aus täglicher Lektüre der «Financial Times», der «Herald Tribune» und der NZZ. Doch die ausgeschnittenen Artikel waren oft vage und allgemein. Deshalb begab ich mich in den Keller des Volkswirtschaftlichen Instituts der Universität Bern, wo einige Schriften verstaubten. Über den Europäischen Gewerkschaftsbund erhielt das SGB-Sekretariat sehr selektiv Unterlagen zu Arbeits- und Sozialpolitik. Sodann abonnierte ich einen Pressedienst aus Brüssel, der auf blauem Papier zwei Mal wöchentlich Interna und Inhaltsangaben geplanter oder beschlossener Richtlinien aufführte. Fachbücher zur EG waren schon zwei, drei Jahre alt und brachten Fakten, die beim Verfassen auch schon drei, vier Jahre alt gewesen waren. Kam man irgendwo an Volltexte der EG-Richtlinien heran, dann musste man erfolgte Ergänzungen mit einer unmöglichen Nomenklatur auf Jahre hinaus suchen und einkleben. Das Integrationsbüro des Bundes seinerseits lieferte sporadisch ebenfalls gewisse Unterlagen, damals noch meist kleine Handelsprobleme betreffend. Die Nummer der «Rundschau» erschien dann im Spätsommer, ohne grosses Echo zu erzeugen. Im Januar 1989 warf Kommissionspräsident Jacques Delors den Vorschlag zu einem Europäischen Wirtschaftsraum in die Debatte. Erst das Internet brachte ab 1995 Originaltexte und viel mehr.

Kasten 2: Internetrecherche am Beispiel dieses ArtikelsNur schon für diese Passage hat das Internet seine Wunder gewirkt. Ich hatte von der Ausstellung im Berner Historischen Museum 2009 her noch die Zahl von 17 000 Briefen im Kopf, also schnell googeln «Albrecht von Haller 17 000» – und die Bestätigung kam. Der «Freedom of Information Act» (Wird er so geschrieben? Wann war das?) gab sich innert Sekunden preis. Und ohne die vielen roten Bände der systematischen Sammlung des Bundesrechts zu besitzen, findet man auch die helvetische Variante im Web-Auftritt des Bundes sofort: BGö, SR 152.3.Diese drei Auskünfte hätten vor dem Internet sicher einen halben Tag verschlungen. Eher hätte man den gebräuchlichen Ausweg gewählt und viel allgemeiner formuliert. Deshalb lasen sich Fachbücher, vor allem aber Zeitungsartikel damals recht allgemein, vage.

Kasten 3: Die Volkswirtschaft – eine ständige BegleiterinDas Magazin Die Volkswirtschaft begleitet mich seit dem Studium Ende der 1960er-Jahre. Damals in diskretem Graugrün gehalten, kostete sie im Jahr 5 Franken. Sie enthielt keine wohlwollenden Begrüssungstexte von Bundesräten und Honoratioren, sondern die paar nüchternen Statistiken, welche die Nationalbank, das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit, das Amt für Landwirtschaft, die Oberzolldirektion und einige andere führten. Die periodischen Erhebungen lieferten etwas Abwechslung, etwa die Volkszählung und Wohnungs-, Miet- und Preiserhebungen. Weil solche Erhebungen oft für Subventionen oder Besteuerung dienten, nahmen Bienenvölker und Schweine im Industriestaat Schweiz einen prominenten Platz ein.

Zitiervorschlag: Kappeler, Beat (2010). Vermittlung ökonomischen Wissens im Zeitalter des Internets. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.