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Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen: Ein Streitgespräch

Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen: Ein Streitgespräch

Die Personenfreizügigkeit zählt seit einigen Jahren zu den wichtigsten Standortvorteilen der Schweiz. Sie erlaubt der Wirtschaft, ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften zu decken. Das Abkommen zeigt sich einseitigen Zugangsregeln zum schweizerischen Arbeitsmarkt klar überlegen. Die Personenfreizügigkeit hat sich in der Krise insgesamt bewährt. Zankapfel des Streitgesprächs zwischen Thomas Daum, Direktor Schweizerischer Arbeitgeberverband und Daniel Lampart, Chefökonom Schweizerischer Gewerkschaftsbund, ist denn auch weniger die Personenfreizügigkeit als die flankierenden Massnahmen, die zu treffen sind, um negative Wirkungen der Personenfreizügigkeit auf Schweizer Arbeitnehmende zu verhindern.

Die Volkswirtschaft:Wie beurteilen Sie die Wirkungen der Personenfreizügigkeit auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in der Schweiz?Daum: Mit den Observatoire-Berichten der letzten Jahre verfügen wir über ein sehr präzises Bild des schweizerischen Arbeitsmarktes. Die darin enthaltenen Daten lassen eindeutig den Schluss zu, dass die Wirkungen der Personenfreizügigkeit unter dem Strich für die Volkswirtschaft gut bis sehr gut wa-ren − und zwar sowohl in Bezug auf Beschäftigung und Wachstum als auch in Bezug auf die Arbeitslosigkeit.Lampart: Die Personenfreizügigkeit muss im Gesamtzusammenhang der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union (EU) betrachtet werden. Wenn man auf eine Europakarte schaut, ist sofort klar, dass ein kleines Land wie die Schweiz auf gute Beziehungen mit Europa angewiesen ist. Die Personenfreizügigkeit ist Teil der Bilateralen. Sie hat aber auch negative Seiten, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Es gibt ein Versprechen an die Bevölkerung, die Öffnung des Arbeitsmarktes ohne negative Auswirkungen zu vollziehen. Die nach wie vor bestehenden Probleme müssen jetzt angegangen werden.Die Volkswirtschaft: Können Sie die Bedeutung der Personenfreizügigkeit noch präzisieren?Daum: Zu Beginn der ganzen Diskussion um die bilateralen Verträge wurde die Personenfreizügigkeit als Konzession an einzelne EU-Staaten betrachtet. Inzwischen steht sie bei den Unternehmen auf Platz 1 der Vorteile der bilateralen Verträge. Es zeigt sich, dass es für die Schweiz sehr wichtig war, den Arbeitsmarkt Richtung EU zu öffnen.Lampart: Wegen der Personenfreizügigkeit haben Arbeitskräfte aus der EU weniger prekäre Aufenthaltsbedingungen in der Schweiz. Gerade gut Qualifizierte sind nun eher bereit, in die Schweiz arbeiten zu kommen. Das hilft, Stellen zu besetzen, die sonst vakant geblieben wären. Doch die Personenfreizügigkeit führt auch zu Problemen auf dem Arbeitsmarkt – das kann man nicht leugnen.Die Volkswirtschaft: Sehen Sie allenfalls einen Verdrängungswettbewerb als Folge der Personenfreizügigkeit auf dem Schweizer Arbeitsmarkt?Lampart: Wenn die Firmen Ausländer zu den gleichen Bedingungen anstellen müssen wie die Inländer, entscheiden sich die Arbeitgeber in der Regel für Inländer, da sie mit den hiesigen Gegebenheiten vertraut sind. Wenn die Arbeitgeber aber Ausländer zu für sie vorteilhafteren Bedingungen einstellen können, dann ist Verdrängung möglich. Wir haben diesbezüglich Problembranchen, die in den Berichten auch genannt werden. Unsere eigenen Analysen haben gezeigt, dass bei Neueinstelllungen auch in Industriebranchen 2008 tiefere Löhne bezahlt wurden als 2006. In Branchen ohne Mindestlöhne können die Löhne nicht gesichert werden.Daum: Laut neuestem ObservatoireBericht sind bei Neueinstellungen keine Lohnsenkungseffekte festzustellen. Ich kenne die Untersuchung des SGB. Sie bezieht sich auf Daten der Lohnstrukturerhebung 2008. Wenn man nun die insgesamt positive Lohnentwicklung in den angesprochenen Industriebranchen dagegenhält, gibt es keine relevanten Indizien für eine systematische Unterbietung bei den Neueinstellungen. Die Branchendaten sind verlässlicher als die hoch aggregierten Daten der Lohnerhebungen. Das heisst aber nicht, dass Problembranchen nicht weiter analysiert werden sollen.Lampart: Die Wirtschaftszweige mit den grössten Problemen sind Hauswirtschaft, Reinigung und Temporärbranche. Diese Branchen werden jetzt von den tripartiten Kommissionen vertieft beobachtet. Im Bereich Hauswirtschaft steht der Erlass eines Normalarbeitsvertrags (NAV) mit Mindestlöhnen kurz bevor. Für die Temporären braucht es unbedingt einen GAV; sonst muss man den Arbeitsmarkt für Temporäre aus dem Ausland schliessen. Im Observatoire-Bericht gibt es Hinweise dafür, dass man in der Industrie Schwierigkeiten hat, das Lohnniveau zu halten. Dies gilt es in der nationalen tripartiten Kommission genau anzuschauen, damit, sofern sich die Hinweise bestätigen, Schutzmassnahmen ergriffen werden können.Die Volkswirtschaft: Herr Lampart, Sie betonen die auszumachenden Negativwirkungen der Personenfreizügigkeit? Warum?Lampart: Die Personenfreizügigkeit ist für uns nur deshalb tragbar, weil gleichzeitig mit der Öffnung des Arbeitsmarktes das System der flankierenden Massnahmen (Flam) eingeführt wurde. Dort, wo Mindestlöhne bestehen, die auch durchsetzbar sind, haben wir ein griffiges Instrumentarium, um Race-to-the-bottom-Effekte zu verhindern. Probleme gibt es dort, wo keine Mindestlöhne vorhanden sind, oder wo man Mühe hat, die Mindestlöhne durchzusetzen. Die Baubranche leidet unter den vielen Temporärbeschäftigten und der hohen Zahl von Scheinselbstständigen − also Angestellten, die sich als Selbstständige deklarieren, um die Arbeitsbedingungen nicht einhalten zu müssen. Darüber hinaus sind Probleme auszumachen, wo es viele ausländische Subunternehmen hat, die von Schweizer Firmen zu Dumpingkonditionen Aufträge übernehmen und nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.Die Volkswirtschaft: Herr Daum, wie beurteilen Sie die skizzierten Negativwirkungen? Daum: Ich sehe kein Race to the bottom. Das zeigen sowohl die Daten der Observatoire-Berichte als auch die Branchenstatistiken. Die angesprochenen Verhältnisse in der Bauwirtschaft sind just ein Beispiel, wie stark die Einschätzung der Gewerkschaften mit derjenigen der Branche selbst kontrastiert. Die Statistiken der Bauwirtschaft zeigen klare Lohnzuwächse und ein Lohnniveau deutlich über den Mindestlöhnen. Dieses Bild passt überhaupt nicht zu den Feststellungen der paritätischen Kommissionen – wobei ich nicht behaupten will, dass diese nicht stimmen. Was die übrigen Flam anbelangt, bin ich der Überzeugung, dass sie alles in allem gut funktionieren. Wir haben in der tripartiten Kommission des Bundes «Fokusbranchen» definiert, die genauer beobachtet werden. Wir teilen die Sorgen im Bereich der Scheinselbstständigen. Das Problem der Subunternehmen stellt sich meines Erachtens nicht so dar, wie es die Gewerkschaftsseite behauptet. Die Subunternehmen unterstehen den genau gleichen Regeln wie die Erstunternehmen. Zusätzliche Regulierungen in diesem Bereich halte ich für gefährlich.Lampart: Die Probleme sind vor allem im Baunebengewerbe akut, also den Ausbaubranchen wie z.B. Maler, Gipser, Spengler oder Plattenleger. Dort haben wir viele Informationen bezüglich Scheinselbstständigkeit. Scheinbar wird die Lücke in der Krise ausgenützt, um zu tieferen Preisen als die Schweizer Unternehmen auf dem Markt anbieten zu können. Diese Lücke muss unbedingt geschlossen werden. Sonst können wir unser eingangs erwähntes Versprechen nicht einlösen.Daum: Hier fehlt mir in der Analyse die Verhältnismässigkeit. Die Kurzaufenthalter leisten gemäss den Berichten des Bundes auf Vollzeitäquivalente umgerechnet einen Anteil des Arbeitsvolumens von ungefähr 0,5%. Einzelne Punkte mögen vielleicht nicht so sein, wie sich das die Gewerkschaften vorstellen, aber das stellt die positive Gesamtbeurteilung nicht in Frage.Die Volkswirtschaft: Gibt es für Sie Fortschritte bei der Implementierung des Flam-Systems?Daum: Wir haben mit der Implementierung des Flam-Systems vor rund 5 Jahren angefangen und hatten damit auch gewisse Anfangsschwierigkeiten. Für die Entsendebetriebe ist es relativ schwierig, sich in unserem sehr vielgestaltigen GAV-System zurechtzufinden. Diesbezüglich hat man das Instrumentarium verbessert. Zudem wurden im Hinblick auf die volle Personenfreizügigkeit der EU8-Staaten ab Mai 2011 die Kontrollen erhöht. Die Lernphase ist noch nicht abgeschlossen. Mit den Flam ist eine wichtige Präventivfunktion verbunden. Einzelne Schwachpunkte sind vorhanden, wie eben bei der Scheinselbstständigkeit. Im sogenannt kleinen Reinigungsgewerbe herrscht noch Aufklärungs- bzw. Ermittlungsbedarf, wie die Dinge sich in der Realität wirklich verhalten. Auf dem Tisch liegt jetzt der NAV in der Hauswirtschaft, wo die Meinungen auseinandergehen. Wir sind der Meinung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen hierzu nicht erfüllt sind. Da wird der Bundesrat entscheiden müssen.Lampart: In der Hauswirtschaft gibt es grosse Probleme mit den Arbeitsbedingungen. Und die Probleme werden grösser, weil mehr Hausangestellte sowie Hauspflegerinnen und -pfleger aus den neuen EU-Staaten in die Schweiz kommen. Es braucht Minimallöhne und Sanktionen, damit die kantonalen Behörden die üblichen Arbeitsbedingungen durchsetzen können.Daum: Die Arbeitsverträge in der Hauswirtschaft sind mit zivilrechtlichen Mitteln durchsetzbar. Alle Gesetze jetzt mit Strafnormen zu versehen, ist zwar seit einigen Jahren Mode, führt aber rechtspolitisch in die falsche Richtung.Die Volkswirtschaft: Wie beurteilen Sie insgesamt die vom Bund betriebene Arbeitsmarktpolitik in der Konjunkturkrise?Daum: Sowohl Bundesrat wie Schweizerische Nationalbank (SNB) haben gute Arbeit geleistet. Bei der SNB gilt dies anerkanntermassen sowohl für die Bewältigung der Finanzkrise wie für die Begleitung des Konjunktureinbruchs. Ich gehe davon aus, dass die SNB alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um die Aufwertung des Frankens in den Griff zu bekommen bzw. die Schwäche des Euro zu kompensieren. Wie gross die Möglichkeiten der SNB hier sind, kann Herr Lampart, der im Bankrat sitzt, besser beurteilen.Lampart: Wir haben die Krise noch nicht bewältigt. Mein Zwischenfazit: Konjunkturpolitik ist mächtig, wenn man sie machen will. Die Ziele können durchaus erreicht werden. Im historischen Vergleich ist die Bilanz in der jetzigen Krise positiver als auch schon, auch wenn man in der Schweiz konjunkturpolitisch restriktiver ist als anderswo. Die Prüfungen stehen bevor. Die Kurzarbeit muss beibehalten werden. Es ist zu befürchten, dass auch wegen der Frankenaufwertung weiter Kurzarbeit gebraucht wird. Die Stärke des Frankens gegenüber dem Euro muss bekämpft werden. Es gilt klar zu kommunizieren, dass es sich um eine Übertreibung des Marktes handelt und der Kurs näher bei 1.50 liegt, was wir aus verschiedenen Statistiken wissen. Wichtig ist auch, die Schwächung der Kaufkraft zu antizipieren und Massnahmen zu ergreifen gegen den bevorstehenden Prämienschock und weitere Abschöpfungen. Im kommenden Jahr werden zudem rund 500 Mio. Franken weniger Einnahmen aus der CO2-Abgabe zurückerstattet.Die Volkswirtschaft: Wie beurteilen Sie die Chancen, aber auch die Gefahren der verlängerten Kurzarbeitstage?Daum: Mit der Kurzarbeit soll keine Strukturerhaltung betrieben werden. Das ist klar. Das Risiko der Strukturerhaltung und Marktverzerrung ist aber im laufenden Konjunktureinbruch sehr gering. Denn der grösste Teil der Kurzarbeit betrifft den Teil der Wirtschaft, der ohnehin seit Jahren in massiver internationaler Konkurrenz steht. Hier zu glauben, es würden mit Kurzarbeit obsolete Strukturen weitergeführt, weil nicht genug auf der Kostenseite agiert würde, ist falsch. Zudem ist die Kurzarbeit für Arbeitgeber nicht gratis. Dadurch ist ein bremsender Anreiz gesetzt. Ein gutes Beispiel ist die stark betroffene Maschinen-Elektro-Metallindustrie (MEM). Sie hat in den 1990er-Jahren und nochmals zu Beginn der 2000er-Jahre massive Strukturanpassungen vornehmen müssen. Danach war sie auf den internationalen Märkten wieder sehr gut aufgestellt und konnte entsprechende Erfolge erzielen. Seit Herbst 2008 kämpft sie mit einem extremen Nachfrage-Einbruch, den sie mit Kurzarbeit zu überbrücken versucht. Wenn die Konjunktur noch lange schwach bleibt, müsste es allerdings wieder zu Strukturbereinigungen kommen. Eine nochmalige Verlängerung der Kurzarbeit über die 24 Monate hinaus, die der Bundesrat vor einigen Monaten beschlossen hat, wäre nicht mehr zielführend.Lampart: Kurzarbeit ist ein Erfolgsmodell in dieser Krise. Es gibt nichts Schlimmeres als Entlassungen. Wenn die Leute einmal arbeitslos sind, haben sie viel mehr Mühe, eine Stelle zu finden. Einfacher ist es, mit einem laufenden Arbeitsvertrag eine Stelle zu finden. Selbst wenn eine Firma strukturelle Probleme hat, müssten wir schauen, dass die Leute ihren Arbeitsvertrag möglichst lange aufrechterhalten können. In letzter Zeit müssen wir leider feststellen, dass die Arbeitslosigkeit unter den älteren Arbeitnehmenden im Ansteigen begriffen ist und ältere Arbeitnehmende immer mehr Schwierigkeiten haben, wieder in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Gerade hier ist die Gefahr gross, dass es zu Aussteuerungen kommt. Alles in allem sehe ich keine Gefahr, dass über Kurzarbeit mittelfristig teure Strukturerhaltung gemacht wird. Im Gegenteil, man kann mit Kurzarbeit Strukturwandel abfedern und das Personal halten, bis die Betroffenen eine andere Stelle gefunden haben.Daum: Wir sind uns grundsätzlich einig, was die Verlängerung der Kurzarbeit anbelangt, auch wenn ab und zu skeptische Stimmen zu hören sind. Den Ökonomen der reinen Lehre halten wir die reale Praxis entgegen. In der jetzigen ausserordentlichen Lage greifen vorwiegend diejenigen Unternehmen zu Kurzarbeit, die sie bezüglich der strategischen Weiterentwicklung ihres Unternehmens als adäquates Mittel betrachten. Zu beachten ist dennoch das Argument, dass qualifizierte Arbeitskräfte mit Kurzarbeit an ein Unternehmen gebunden werden könnten und dann dem Markt nicht zur Verfügung stehen. Dieses Risiko der Fehlallokation besteht jedoch nur, wenn die Kurzarbeit zu lange dauert. Sehr lange Kurzarbeit dürfte übrigens schon deshalb nicht allzu häufig vorkommen, weil es sehr schwierig ist, ein Unternehmen über eine lange Frist im Kurzarbeitmodus zu führen.Die Volkswirtschaft: Was muss in der Schweiz auf der politischen Agenda stehen, damit sie auch in Zukunft ihre gute Lage sichern kann?Lampart: Es müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Arbeitslosigkeit möglichst gesenkt werden kann. Dass heisst, dass wir eine konjunkturelle Erholung anstreben und diese Erholung geldpolitisch unterstützen müssen, damit die Exportwirtschaft nicht von der Aufwertung des Frankens stranguliert wird. Zweitens sind die Schutzmechanismen im Bereich Arbeitslosenversicherung (ALV) wie Kurzarbeit, längere Taggelder usw. aufrechtzuerhalten, um Aussteuerungen zu verhindern und die Leute in der ALV zu halten. So sind die Betroffenen einfacher vermittelbar und können ihren Lebensstandard sichern. Sobald sich der Aufschwung festigt, ist alles daran zu setzen, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt und die unschöne Tendenz der letzten Jahre mit dem Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit gebrochen werden kann, sonst droht der Abstieg ins europäische Mittelfeld. Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit durch eine gute Beschäftigungssituation ausgezeichnet; dort müssen wir wieder hin. Im Bezug auf die Personenfreizügigkeit heisst das: Flam anwenden, Löhne und Arbeitsbedingungen schützen, damit es keine Verdrängung gibt. Im Bereich der Drittstaatenkontingente gilt es den Inländervorrang durchzusetzen, wie es auch die migrationspolitische Strategie des Bundesrates will.Daum: Unsere Ziele sind identisch. Auch wir wollen, dass die Arbeitslosigkeit bald wieder zurückgeht und vor allem die strukturelle Arbeitslosigkeit so gering wie möglich bleibt. Was die Massnahmen zur Zielerreichung angeht, gibt es allerdings Differenzen. Weitgehende Einigkeit besteht wahrscheinlich noch in der Geldpolitik. Bezüglich der ALV sind wir der Meinung, dass sie auch nach der 4. AVIG-Revision im internationalen Vergleich noch sehr gute Leistungen bietet und voll funktionstüchtig ist. Man muss die ALV immer auch in der Abgrenzung zur Sozialhilfe und anderen Elementen der sozialen Sicherung betrachten. Was man jetzt korrigiert, ist unseres Erachtens auch unter diesen Gesichtspunkten richtig. Ganz grundsätzlich bewahrt werden müssen die massvolle Regulierung der Arbeitsverhältnisse und die Öffnung des Arbeitsmarkts mit der Personenfreizügigkeit. Das sind Stärken der Schweiz, die sich im Boom wie in der Rezession bewährt haben. Verkrustete Arbeitsmärkte, das zeigen viele ausländische Beispiele, sind für alle Beteiligten und insbesondere für die Arbeitnehmenden mittel- und langfristig mit grossen Risiken verbunden. Last but not least: Wir sind in einer bedeutend besseren Situation bezüglich öffentliche Finanzen und Sozialversicherungen als viele andere Staaten. Diese Ausgangslage müssen wir nutzen, um Probleme, die vor allem im Sozialversicherungsbereich auf dem Tisch liegen, zügig anzugehen und nicht einfach vor uns herzuschieben.Die Volkswirtschaft: Meine Herren, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Kasten 1: Einschätzung der Arbeitsmarktlage der Schweiz im internationalen Vergleich

Die Volkswirtschaft:Wie beurteilen Sie die aktuelle Arbeitsmarktlage in der Schweiz im Vergleich zu den umliegenden Ländern?Lampart: Dank Kurzarbeit und anderen Massnahmen ist die Arbeitslosigkeit in der Schweiz nicht so stark gestiegen, wie es am Anfang der Krise zu befürchten war. Wir haben allerdings hart dafür kämpfen müssen, dass Massnahmen ergriffen werden. Allerdings ist leider festzustellen, dass in der Schweiz – im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern – die strukturelle Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. Das muss nachdenklich stimmen. Deshalb gilt es alles daran zu setzen, dass die strukturelle Arbeitslosigkeit nicht noch mehr ansteigt, sondern wieder gesenkt werden kann.Daum: Entgegen der schweizerischen Art, immer zu stöhnen und zu klagen, muss ich festhalten: Wir sind bis jetzt im internationalen Vergleich sehr gut durch die Krise gekommen. Trotz Griechenland-Krise und Euro-Schwäche sind wir nach wie vor zuversichtlich, dass die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der langen Frist eher nach unten als nach oben zeigt. Wir alle hatten bis vor einem Jahr mit Arbeitslosenzahlen in der Grössenordnung von 5% gerechnet. Im Nachhinein hat sich die gestaffelte Vorgehensweise des Bundesrates als richtig herausgestellt.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2010). Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen: Ein Streitgespräch. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.