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Sorgen und Hoffnungen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise

Sorgen und Hoffnungen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise

Der vorliegende Artikel beleuchtet die aktuelle Entwicklung und zeigt auf, welche Konsequenzen aus den Ereignissen seit Ende 2007 zu erwarten sind. Im ersten Teil werden die Charakteristika der internationalen Finanzkrisen beschrieben. Anschliessend wenden wir uns drei Themen zu, die momentan einen grossen Stellenwert haben: dem Konsum der privaten Haushalte der USA, der Finanzierung der Nicht-Finanzgesellschaften in der Schweiz und der EU sowie den Schwankungen der Wechselkurse. Die Vorhersage der Wechselkursschwankungen erweist sich indes aufgrund des aktuell aussergewöhnlichen monetären Umfeldes als noch heikler als sonst.

Krisen und ihre Muster


Die gegenwärtige Krise wurde seit ihrem Ausbruch im Jahr 2008 häufig mit der Phase der grossen Depression verglichen.
Vgl. etwa Almunia M., Bénétrix A., Eichengreen B., O’Rourke K.H. und G. Rua: Great Depression to Great Credit Crisis: Similarities, Differences and Lessons, in: Economic Policy, Bd. 25, Nr. 62, April 2010, S. 219–265, oder: K. Aiginger: The Great Recession versus the Great Depression: Stylized Facts on Siblings That Were Given Different Foster Parents, in: Economics: The OpenAccess, Open-Assessment E-Journal, Vol. 4, 2010, Nr. 18. Internet: http://dx.doi.org/10.5018/economics-ejournal.ja.2010-18. Schwere und globale Finanzkrisen sind zwar ein recht seltenes Phänomen; sie sind aber nicht einzigartig in der Geschichte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Industrieländer noch nie mit einer vergleichbaren Krise wie derjenigen konfrontiert, die wir gerade durchlaufen haben. Die schweren Finanzkrisen, welche verschiedene Länder Asiens und Südamerikas in den letzten zwei Jahrzehnten erlebten, erreichten keine globale Dimension. Die Krisen der vergangenen zwei Jahrhunderte hatten ihren Ursprung in der Inland- oder Auslandverschuldung sowie der daraus resultierenden Zahlungsunfähigkeit. Sie äussern sich gewöhnlich in Form von monetären Spannungen, Abwertungen und galoppierender Inflation. Dieses Los war weitaus mehr Ländern beschieden, als man vielleicht zunächst annehmen könnte.
Vgl. Reinhart C. und Rogoff K.: This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly, Princeton, NJ, 2009, Princeton University Press.

Wiederherstellung des Gleichgewichts braucht Zeit


Schwere globale Finanzkrisen haben die Tendenz, sich zu wiederholen. Bei jeder Krise braucht es zudem viel Zeit, bis sie vollständig überwunden ist: Die Wiederherstellung des makroökonomischen Gleichgewichts kann bis zu 10 Jahre beanspruchen. Mitte 2010 ist der konjunkturelle Wiederaufschwung im Gang und das Schlimmste scheint überwunden. Es wäre indes falsch zu glauben, dass alle Ungleichgewichte, welche durch die Krise offenbart oder verstärkt worden waren (insbesondere im Bereich der öffentlichen Finanzen), nun schnell behoben werden könnten. Die Finanzkrise von 2007/08 hatte international ausgeprägte und heftige Konsequenzen für die Konjunktur und den Handel. Auch wenn die Konjunktur seit Ende 2009 wieder angezogen hat, bedeutet das noch lange nicht, dass die Krise nun endgültig überwunden ist. Folgende Phänomene können als Boomerang-Effekte aufgefasst werden: die explosionsartige Zunahme der Staatsverschuldung und die daraus resultierenden Vertrauensverluste auf den Finanzmärkten (insbesondere gegenüber den südeuropäischen Ländern und Irland), die seit Ende 2008 feststellbaren Wechselkursschwankungen, die wiederkehrenden enormen Liquiditätsspritzen für den Bankensektor und infolgedessen das extrem tiefe Zinsniveau in vielen Industrieländern (welche potenziell neue Spekulationsblasen alimentieren könnten) sowie die grossen Kapitalbewegungen. Alle diese Faktoren beeinflussen ihrerseits die Wirtschaft und das Finanzsystem und werden dies auch weiterhin tun, ohne jedoch unbedingt zur Stabilisierung des Gesamtsystems beizutragen.

Konsum in den USA: Zaghafte Erholung


Während der zwei Jahrzehnte zwischen 1980 und 2000 trug der Konsum der privaten Haushalte durchschnittlich rund 60% zum Wachstum des realen Bruttoinlandprodukts (BIP) bei. Zwischen 2000 und 2007 erreichte dieser Anteil sogar rund 90%. Falls sich nichts Grundlegendes an der Struktur des US-amerikanischen BIP verändert, ist damit zu rechnen, dass der private Konsum auch in den nächsten Jahren eine herausragende Rolle spielen wird.Die Sparquote der privaten Haushalte in den USA war seit den 1980er-Jahren deutlich gesunken. Seit 2009 zeigt sie wieder eine Aufwärtstendenz und beläuft sich Mitte 2010 auf etwa 6% des verfügbaren Einkommens. Die Sparquote erlaubt allerdings – ebenso wenig wie die Verschuldung – einen Rückschluss auf die generelle finanzielle Lage der Haushalte. Dazu muss auch die Vermögensentwicklung berücksichtigt werden. Grafik 1 zeigt, dass das Netto-Vermögen der US-amerikanischen Haushalte (Finanz- und Sachwerte, abzüglich Haushaltsschulden) zwischen 2008 und 2009 einen noch nie dagewesenen Rückgang von durchschnittlich mehr als 150 Prozentpunkten der verfügbaren Einkommen zu verzeichnen hatte. Diese – wenn auch vorübergehende – Verarmung geht einher mit verhaltenen Prognosen bezüglich der Einkommensentwicklung der kommenden Jahre – dies aufgrund des schlechten Zustands des Arbeitsmarktes. Probleme stellen sich auch beim Schuldendienst, zumal gewisse Bevölkerungsschichten finanziell angeschlagen sind. Diese Entwicklungen könnten den künftigen privaten Konsum in den USA abschwächen; bei gleichzeitig steigender Sparquote kann dieser nur zunehmen, wenn sich auch die Einkommen erhöhen. Letzteres ist wiederum abhängig von einem Anstieg des BIP. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, stellt für die US-amerikanische Wirtschaftspolitik eine echte Knacknuss dar.Der Rückgang der US-amerikanischen Netto-Vermögen kann aber auch als Rückkehr zur Normalität nach dem Platzen der – hauptsächlich Immobilien betreffenden – Spekulationsblase interpretiert werden. Der Wert von 500% des verfügbaren Einkommens Anfang 2010 entspricht in etwa dem historischen Durchschnitt der Jahre 1952-1994, was das Ausmass der Vermögensverluste etwas relativiert. In jenem Zeitraum hatte übrigens auch der US-amerikanische Privatkonsum kräftig zugelegt.

Finanzierung der Nicht-Finanzgesellschaften: Berechtigter Optimismus


Die exzessive Verschuldung der Handelsbanken, der privaten Haushalte sowie der öffentlichen Körperschaften beherrschten während und nach der Krise die Schlagzeilen. Demgegenüber fand die Finanzierung der Unternehmen ausserhalb des Finanzsektors – d.h. der Güter oder Dienstleistungen produzierenden Unternehmen ohne Banken oder Versicherungen – kaum oder nur wenig Beachtung. Dabei weisen die verfügbaren Daten auf wichtige Entwicklungen der letzten Jahre hin. So ist etwa der Eigenfinanzierungsgrad von Investitionen (Bruttoersparnis/Bruttoanlageinvestitionen) der Nicht-Finanzgesellschaften der Schweiz besonders vorteilhaft. Grafik 2 zeigt, dass in gewissen Ländern Investitionen in Sachkapital wenig von der externen Finanzierung (wie Bankkrediten oder Ausgabe von Obligationen) abhängig sind. Dies kann als Zeichen eines gesunden und starken NichtFinanzsektors betrachtet werden. Es wird in den nächsten Jahren interessant sein zu beobachten, ob die letzte Finanzkrise Auswirkungen auf die Struktur der Investitionsfinanzierung haben wird.Bemerkenswert ist auch, dass die schweizerischen und deutschen Unternehmen ihren Eigenfinanzierungsgrad mehr gesteigert haben als diejenigen der anderen erwähnten Länder. Um Rückschlüsse auf die Wirtschaftsaktivität zu ziehen, wäre es allerdings notwendig, neben der Finanzierungsquelle auch die Dynamik der Investitionen zu untersuchen, die von Land zu Land unterschiedlich sein kann. Die wachsende Unsicherheit bezüglich der Zinsentwicklung und der Finanzmärkte dürfte aber in jenen Länder weniger Auswirkungen haben, in denen der Verschuldungsgrad der Nicht-Finanzgesellschaften tief und der Eigenfinanzierungsgrad hoch ist. Dies scheint in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Grossbritannien eher der Fall zu sein als in den anderen europäischen Ländern.

Ständige Anpassung der Wechselkurse


Die Diskussionen um die Wechselkurse – insbesondere zwischen den USA und China – sind nicht neu. Die Akkumulation von Ersparnisüberschüssen in einigen Schwellenländern auf der einen sowie die zunehmende Verschuldung in den Industrieländern (allen voran in den USA) auf der anderen Seite (globale Ungleichgewichte in den Ertragsbilanzen und Netto-Auslandpositionen verschiedener Länder) haben in den letzten Jahren viel zu reden gegeben. Experten gehen davon aus, dass sich die grossen globalen Ungleichgewichte früher oder später reduzieren werden. Die Wechselkurse dürften in diesem Anpassungsprozess eine entscheidende Rolle spielen, speziell eine Abschwächung des US-Dollar und eine Stärkung der chinesischen sowie anderer asiatischer Währungen.Es ist vor dem Hintergrund dieser grossen finanziellen Ungleichgewichte, dass ab Sommer 2010 die von der Presse als «Währungskrieg» betitelten Entwicklungen ausgelöst worden sind. Allerdings ist es nicht einfach, zwischen dem konjunkturellen Charakter der Turbulenzen im internationalen Währungssystem auf der einen sowie der Herausforderung – wenn nicht gar Notwendigkeit – einer im besten Fall progressiven Reduktion der grossen globalen Ungleichgewichte auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Spannungen der Wechselkurse während der letzten Monate waren nicht nur auf China, die USA und die Euro-Zone beschränkt. Auch verschiedene südamerikanische und asiatische Länder haben Massnahmen zur Begrenzung des massiven Kapitalzuflusses angekündigt oder bereits umgesetzt, um die Gefahr spekulativer Blasen oder einer Aufwertung ihrer Währungen einzudämmen (siehe Grafik 3). Letzteres wird indes in vielen Schwellenländern mittelfristig unausweichlich sein.

Interpretation der Schwankungen heikler als sonst


In ihrer letzten Publikation sind Brender und Pisani
Vgl. Brender A. und Pisani F.: Global Imbalances and the Collapse of Globalised Finance, Center for European Policy Studies, Bruxelles, 2010. zu einer interessanten Schluss-folgerung gelangt: Je mehr sich die Finanzglobalisierung intensiviert (d.h. der Anteil der ausländischen Finanzpapiere in den einheimischen Portfolios steigt), desto mehr reduzieren die Zinsdifferenziale und die Erwartungen bezüglich der Wechselkurse die Bedeutung der Aussenhandelsungleichgewichte. Dennoch ist in der Wirtschaft nichts wirklich exogen, und Erwartungen, die von den grossen internationalen Ungleichgewichten losgelöst sein können, sind nur schwer vorstellbar. Für die Autoren stellen aber die Veränderungen der Erwartungen bezüglich der Wechselkurse und der Zinsdifferenziale die wichtigsten Einflussfaktoren auf den US-Dollar, den Yen und den Euro (und natürlich auch auf den Schweizerfranken und andere Währungen) dar. Der Einfluss der Zinsdifferenziale auf die Wechselkurse könnte auch mit dem Grad der Risikoaversion zusammenhängen. Im Falle einer schweren Finanzkrise spielen zudem andere, manchmal schwierig zu isolierende Kriterien bei der Diversifikation der Portefeuilles eine Rolle, insbesondere die so genannte Flight to Quality.Diese Überlegungen lassen sich gut auf den aktuellen Kontext übertragen. Zunächst hat die Risikoaversion – vor allem seit der Schuldenkrise Griechenlands – noch nicht das mittlere Niveau erreicht, das man als «normal» bezeichnen könnte. Sobald sich dies normalisiert haben wird, dürften die Zinsdifferenziale und Wechselkurserwartungen wieder eine wichtigere Rolle spielen als heute. Aussergewöhnlich am derzeitigen internationalen Finanzumfeld ist zudem, dass eine massive Versorgung der Finanzmärkte mit Liquidität stattgefunden hat, die einerseits von der Finanzkrise und andererseits von einer ungewöhnlich expansiven Geldpolitik über eine lange Zeit herrührt. Es ist durchaus möglich, dass die Spannungen aufgrund der Wechselkurse in den nächsten Monaten weitergehen werden. In diesem aussergewöhnlichen monetären Umfeld ist deren Bedeutung aber umso schwieriger zu interpretieren.Wenn sich die Wechselkurse von den Handelsbilanzungleichgewichten – wie von Brender und Pisani beschrieben – durch die Globalisierung der Finanzmärkte losgelöst haben sollten, verfügen die Regierungen und Zentralbanken über mehr Möglichkeiten, (de-)stabilisierend auf die Wechselkurse einzuwirken. Ihre Entscheide und Ankündigungen können die Erwartungen der Märkte beeinflussen. In diesem Sinn – und das ist die gute Nachricht – scheint ein Währungskrieg nicht unausweichlich. Es hängt aber letztlich vom guten Willen der Regierungen (und Zentralbanken) ab, ihn nicht zu führen.

Fazit


Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 sowie die nachgelagerten Analysen zum besseren Verständnis der Vorgänge haben – als positive Konsequenz – ergeben, dass die von der Wirtschaftspolitik betrachtete Palette der möglichen Situationen breiter werden muss. Da die schweren Finanzkrisen gemessen an einem Menschenleben selten sind, hatte man vergessen, dass deren Wahrscheinlichkeit dennoch nicht gleich null ist. Die Zahlungsunfähigkeit eines Industrielandes liegt im Bereich des Möglichen. Ungleichgewichte können sich über Jahrzehnte aufbauen, bis sie eines Tages die Toleranzgrenze überschreiten. Die Herausforderung besteht darin zu verhindern, dass die Situation ausser Kontrolle gerät. Die Arbeit der Konjunkturanalysten, die Politik mit Informationen zu versorgen, wird dadurch umso wertvoller, auch wenn sie in diesem Kontext bedeutend komplexer wird.

Grafik 1: «Nettovermögena der US-amerikanischen Haushalte, 1952–2010»

Grafik 2: «Eigenfinanzierungsquotea von Nicht-Finanzgesellschaften»

Grafik 3: «Reale effektive Wechselkursindizes verschiedener Länder in %, September 2008–Oktober 2010»

Zitiervorschlag: Bruno Parnisari (2010). Sorgen und Hoffnungen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.