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Stand und Weiterentwicklung der Sozialversicherungssysteme: Ein Streitgespräch

Stand und Weiterentwicklung der Sozialversicherungssysteme: Ein Streitgespräch

Im Vordergrund des Streitgesprächs zwischen Thomas Daum, Direktor Schweizerischer Arbeitgeberverband, und Daniel Lampart, Chefökonom Schweizerischer Gewerkschaftsbund, stehen Fragen über Stand und Weiterentwicklung der AHV. Die Meinungen darüber sind sehr geteilt: Während der Vertreter der Arbeitgeber die demografischen Entwicklung als Schlüsselfaktor für die schiefe Lage der AHV sieht und einen Revisionsbedarf ab 2016/2017 ausmacht, der die Wirtschaft nicht zusätzlich belasten dürfe, vertraut der Vertreter der Gewerkschaften auf die steigende Produktivität der Wirtschaft und einen guten Arbeitsmarkt als wichtigste Finanzierungsquellen der Sozialwerke. Diese Finanzierungsquellen seien aber nur gesichert, wenn die anstehenden Arbeitsmarktprobleme endlich behoben werden und das Potenzial von älteren Arbeitnehmenden und Frauen besser genutzt wird.

Die Volkswirtschaft: Wir leben in einer alternden Gesellschaft, die sich durch immer mehr Rentner und weniger Erwerbstätige auszeichnet. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Entwicklung der Sozialversicherungssysteme bis ins Jahr 2060?Daum: Davon betroffen sein werden der Arbeitsmarkt, die Altersversicherungen und die Krankenversicherung – diese schon wegen der massiv steigenden Pflegekosten. Das Rentner/Aktiven-Verhältnis war in den letzten 20 Jahren recht stabil. Der Rentneranteil wird aber bereits in den nächsten Jahren rasch ansteigen.Lampart: Es macht keinen Sinn, über den langen Zeitraum bis 2060 Prognosen zu machen. Das zeigen eindeutig die Fehlprognosen in Sachen AHV-Finanzierung. Was zudem oft vergessen wird: Wir haben grosse Erfahrung mit der demografischen Alterung. 1950 hatten wir einen Rentner auf 4,5 Vollzeitstellen, heute noch auf rund 2,5. Trotzdem funktioniert die Finanzierung der AHV immer noch. Es brauchte nur ein Mehrwertsteuerprozent mehr.Daum: Vergessen Sie nicht die grossen Beitragserhöhungen in den 1970er-Jahren.Lampart: Ja, das stimmt, aber es gab auch einen Leistungsausbau.Die Volkswirtschaft:Für Sie, Herr Lampart, scheint die Demografie nicht der Schlüsselfaktor zu sein. Welcher Faktor ist es dann, der für die langfristige Beurteilung der Sozialversicherungssysteme von zentraler Bedeutung ist?Lampart: Entscheidend ist ganz klar die Produktivität der Beschäftigten. Sie alimentiert die Altersvorsorge und sorgt dafür, dass die Sozialwerke auch in Zukunft solide finanziert sein werden.Daum: Die Produktivitätssteigerung hat uns in der Vergangenheit geholfen. Aber in Anbetracht der Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik BFS ist es völlig ausgeschlossen, dass die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Rentnern und Aktiven allein mit Produktivitätssteigerungen aufgefangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Produktivität in einer alternden Gesellschaft sich tendenziell eher schlechter entwickelt als in einer Gesellschaft im «Normalzustand». Wir werden immer mehr Arbeitsplätze im Gesundheitsbereich und in der Altenpflege haben, wo der Produktivitätssteigerung enge Grenzen gesetzt sind.Lampart: Wenn die Arbeitsbedingungen in der Schweiz gut sind, werden mehr Leute arbeiten können. In den letzten 20 Jahren ging es aber in die falsche Richtung. Die älteren Arbeitnehmenden wurden aus den Betrieben gedrängt. Die Arbeitslosigkeit – auch von jüngeren Arbeitnehmenden – hat sehr stark zugenommen. Mit einer guten Beschäftigungspolitik werden wir gemäss unseren Berechnungen 1–2 Beitragsprozente auffangen können. Das beinhaltet eine gewisse Einwanderung, eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen sowie eine Arbeitslosigkeit und Beschäftigung älterer Arbeitnehmender auf dem Niveau von 1991.Die Volkswirtschaft: In welchem Masse lässt sich die demografische Entwicklung durch Einwanderung korrigieren?Daum: Die Schweizer Wirtschaft wird auch in Zukunft in ähnlichem Masse wie heute auf Einwanderung angewiesen sein. Wir haben heute einen Ausländeranteil von etwa 22%; bei der Erwerbsbevölkerung sind es sogar 27%. Schon aus politischen Gründen, aber auch wegen der fehlenden Verfügbarkeit qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte werden wir den Anteil nicht signifikant erhöhen können. Zudem lässt sich das Problem der alternden Gesellschaft strukturell mit der Einwanderung nicht lösen; es wird so nur zeitlich verschoben. Allerdings muss ich auch jene warnen, die damit liebäugeln, die Einwanderung zurückzudrängen. Das würde der Wirtschaft nachhaltig schaden.Die Volkswirtschaft: Welche Rolle spielen für Sie in diesem Kontext längere Lebensarbeitszeiten?Daum: Über kurz oder lang wird kein Weg daran vorbeiführen, die demografische Herausforderung mit längeren Lebensarbeitszeiten aufzufangen. Die strukturellen Probleme bei der AHV müssen mit einem flexiblen Rentenalter und einem höheren Referenzalter angegangen werden. Nur so wird es möglich sein, die AHV finanziell ohne grössere Leistungseinbussen im Gleichgewicht zu halten. Das zu erreichen, wird eine grosse Herausforderung sein: Wir müssen uns daran machen, die heute bestehenden 64er- bzw. 65er-Barrieren in den Köpfen der Leute aufzuweichen. In Zukunft können wir uns die pauschale und automatische Grenze zwischen Erwerbsleben und Rentnerleben nicht mehr erlauben. Sie ist auch aus der individuellen Perspektive falsch.Lampart: Das Problem der normalverdienenden Schweizer Bevölkerung ist es, bis 65 einen guten Arbeitsplatz zu haben. Das ist die Realität. Bei den 63-jährigen Männern sind nur noch rund 60% im Erwerbsleben. Wenn man ihnen jetzt sagt, wir müssen das Rentenalter erhöhen, verstehen die Leute das nicht. Sie machen sich sorgen, bis 65 überhaupt eine Stelle zu haben.Die Volkswirtschaft: Sprechen wir über die Prospektionen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) bis 2030. Was ziehen Sie daraus für Konsequenzen?Daum: Gemäss diesen Prospektionen werden wir schon in den nächsten zwei Jahren beim Umlageergebnis in den negativen Bereich geraten. Wegen der ungünstigen Verhältnisse zwischen Erwerbstätigen und Rentnern werden diese Ergebnisse ab 2014/15 massiv schlechter werden. Nicht dass ich in Panik machen möchte. Auch die Arbeitgeber sind der Meinung, dass wir – nebst dem höheren Referenz-Rentenalter – eine bedeutend höhere Erwerbsbeteiligung bei den über 60-Jährigen anstreben müssen, weil sie eine der beiden wesentlichen Reserven unseres Arbeitsmarktes bilden; die andere liegt bei den Frauen.Die Volkswirtschaft: Wie soll das Ziel erreicht werden, dass die Leute möglichst lange im Arbeitsprozess bleiben können?Daum: Die Arbeitgeber werden in verschiedener Hinsicht – u.a. personalpolitisch, organisatorisch, aber auch bezüglich der Arbeitsprozesse – Veränderungen in Gang setzen müssen, die es erlauben, auch mit älteren Arbeitnehmenden eine bestmögliche Wertschöpfung zu erzielen. Das setzt voraus, dass Qualifikation und Leistungsfähigkeit der älteren Arbeitskräfte erhalten bleiben. Hier sind die Arbeitnehmenden noch mehr gefordert als die Arbeitgeber. Die Politik muss die Rahmenbedingungen so setzen, dass sie die Erreichung dieser Ziele fördern und nicht kurzfristig von der Zielverfolgung ablenken – etwa mit falschen Anreizen in den Sozialversicherungen oder in anderen Bereichen.Lampart: Heute können ältere Arbeitnehmende viel weniger an Weiterbildungsprogrammen der Unternehmen teilnehmen. Die Arbeitgeber lassen sie hängen. Auch bei den Arbeitsbedingungen und der beruflichen Gesundheitsvorsorge müssen die Massnahmen möglichst früh greifen. Leider ist der Stress am Arbeitsplatz in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen; immer mehr Leute haben psychosomatische Probleme. Das sind alarmierende Zeichen. Die Schweiz geht in die falsche Richtung. Wir müssen schauen, dass die Leute gerne und gut bis zum Erreichen des Rentenalters arbeiten können.Die Volkswirtschaft: Wenn die Kosten des Sozialstaates gelindert werden sollen und müssen, wo liegen Ihre Prioritäten: bei länger arbeiten, höheren Beiträgen oder geringeren Leistungen?Daum: Leistungskürzungen sind so lange wie möglich zu vermeiden. Unsere Priorität liegt bei der sukzessiven Erhöhung des Austrittsalters aus dem Erwerbsleben. Aber die hohen Sozialkosten dürfen auf keinen Fall weiter steigen. In den 1980er-Jahren lag die Schweiz in Sachen Sozialkosten im Vergleich mit den EU-Staaten am unteren Ende. Heute befinden wir uns im oberen Mittelfeld. Wir haben also keine Reserven. Gemäss einer Untersuchung werden die OECD-Länder bis 2050 im Durchschnitt zusätzliche 10 BIP-Prozentpunkte brauchen, um die Altersvorsorge sowie die Gesundheits- und Pflegekosten zu finanzieren. Für die Schweiz wurden etwa 8 BIP-Prozentpunkte errechnet. Alle vorhandenen Zahlen weisen in gleiche Richtung.Lampart: Die soziale Sicherheit ist auch in Zukunft finanzierbar. Für uns Gewerkschaften steht die Frage im Vordergrund, ob die Leistungen der Altersvorsorge ausreichen. Nehmen wir ein Einkommen von 5000 Franken: Mit Altersleistungen von 60% kommen wir auf 3000 Franken. Das ist unserer Meinung nach nicht genug, um dem verfassungsmässigen Ziel, die «gewohnte Lebensweise» zu gewährleisten, entsprechen zu können. Deshalb sind wir daran, ein Projekt auszuarbeiten, mit der tiefe und mittlere Einkommen künftig eine höhere Rente haben werden. Hier sehen wir die Priorität.Die Volkswirtschaft: Herr Lampart, wir haben heute bereits grosse Finanzierungsprobleme bei der AHV. Nun wollen Sie die AHV noch ausbauen. Deshalb nochmals die Frage: Wie soll die AHV künftig finanziert werden?Lampart: Bei einer guten Arbeitsmarktpolitik ist der finanzielle Mehrbedarf der AHV gering. Er könnte beispielsweise mit einer Erbschaftssteuer gedeckt werden. Eine Erhöhung des Rentenalters auf 67 würde rund 1,5 Beitragsprozenten entsprechen. Ich gehe davon aus, dass sich die Bevölkerung, wenn sie darüber zu entscheiden hätte, für die Erhöhung der Beitragsprozente oder eine Erbschaftssteuer aussprechen würde.Daum: Wie unrealistisch dies ist, zeigt sich, wenn wir die Gesamtsituation betrachten: allenfalls erhöhte Beitragsprozente bei der AHV, seit Jahren steigende Beiträge für die Krankenkassen, die IV-Zusatzfinanzierung, steigende Beiträge bei der ALV und EO. Wir steigern und steigern und blenden dabei aus, dass es nicht beliebig so weitergehen kann, ohne der Wirtschaft, die das finanzieren muss, so viel Substrat zu entziehen und ihre Konkurrenzfähigkeit so stark zu schwächen, dass am Schluss ein doppeltes Verlustspiel herauskommt: Wir würden dadurch ein System schaffen, das mit hohen Beiträgen zu sanieren ist, und eine Wirtschaft, die wegen der hohen Belastung nicht in der Lage ist, die Beiträge zu erwirtschaften.Lampart: Wenn die Zahl der Arbeitslosen um 40 000 reduziert wird, sparen wir ein Lohnprozent ALV-Beiträge. Und wenn etwas vorausschauender Gesundheitsprävention betrieben wird, werden wir weniger IV-Neurentner haben.Daum: Wir werden mit der besten Arbeitsmarktpolitik nicht so viel rausholen, dass wir die andern Massnahmen einfach zur Seite stellen können. Das wird so nicht funktionieren.Die Volkswirtschaft: Macht für Sie die Schuldenbremse im Sozialversicherungsbereich Sinn?Daum: Die grossen strukturellen Probleme der AHV müssen mit einer politischen Entscheidung des Gesetzgebers im Dreieck Alter, Beitragshöhe und Leistungshöhe gelöst werden. Die Schuldenbremse, welche ja dem Bundesrat Korrekturkompetenzen geben würde, kann erst danach zum Einsatz kommen. Deshalb sprechen wir lieber von einer Stabilisierungsklausel.Lampart: Die Schuldenbremse würde so funktionieren, dass bei den Leistungen gekürzt würde. Davon betroffen wären vor allem Leute mit tiefen und mittleren Einkommen. Sie sind diejenigen, welche die AHV brauchen. Ohne die AHV haben sie noch grössere Schwierigkeiten, ihr Leben im Rentenalter zu bestreiten, als sie heute schon haben. Darum kommt sie für uns nicht in Frage. Wir halten die Schweizer Bevölkerung für mündig genug, um, wenn es soweit ist, darüber zu entscheiden, was es dann wirklich braucht. Aber davon sind weit entfernt, da die AHV nach wie vor Überschüsse macht.Die Volkswirtschaft: Wie würde, Herr Daum, die von Ihnen bevorzugten Stabilisierungsregeln aussehen?Daum: In einem ersten Schritt müsste die jeweilige Sozialversicherung strukturell auf Kurs bzw. ins Gleichgewicht gebracht werden. Weil aber bei dieser strukturellen Stabilisierung immer gewisse Unsicherheiten bestehen (lange Zeiträume und grosse Hebel, je nachdem, welche Parameter wir ansetzen) brauchen wir Regeln, wie mit den Pfadabweichungen umzugehen ist. Das ist der Einsatzbereich der Stabilisierungsregeln. Wir hätten also eine grundsätzlich strukturbereinigte AHV. Für den Fall, dass sich in der Zukunft andere Entwicklungen ergeben als angenommen und man vom Gleichgewichts-Pfad ins Defizit abzuweichen droht, kommen die Stabilisierungsregeln zum Tragen. Mit den Stabilisierungsregeln würde der Bundesrat erstens verpflichtet, eine Gesetzesrevision einzuleiten; zweitens würde er dazu ermächtigt, mit Sofortmassnahmen einzugreifen, damit bei den gegebenen Einnahmen das Defizit nicht immer grösser wird. Wir fordern eine solche Regel auch für die IV. Bei anderen Sozialversicherungen ist es etwas schwieriger. Die Volkswirtschaft: Welche Möglichkeiten und Grenzen der Umverteilung sehen Sie bei den Sozialversicherungssystemen?Daum: Bei der AHV haben wir eine unbeschränkte Umverteilung. Bei Einkommen über 83 500 Franken sind die Beiträge für die AHV blanke Steuern. Wir lehnen es ab, dieses radikale Umverteilungsprinzip auf weitere Sozialversicherungen zu übertragen. Obwohl die Umverteilung bei der zweiten Säule gleich null sein sollte, ist heute leider ein Trend in Richtung Umverteilung auszumachen. Warum? Der heutige Mindestumwandlungssatz entspricht nicht der effektiven Rendite auf den Kapitalmärkten und der gestiegenen Lebenserwartung. Das führt zur Umverteilung von den Aktiven zu den Rentnern bzw. den Jüngeren zu den Älteren. Insgesamt ist die Umverteilung bei den Sozialversicherungssystemen an der Grenze dessen angelangt, was für die Wirtschaft noch tragbar ist.Lampart: Wir stellen fest, dass in der Schweiz – wie auf der ganzen Welt – eine Einkommensschere aufgegangen ist. Bei den Vermögen hat eine kleine Schicht sogar massiv zugelegt. Das ist etwas, das die Schweizer Bevölkerung beschäftigt und als falsch betrachtet. Deshalb stellt sich die Frage, wie diese kleine Schicht von Reichen stärker als bisher bei der Finanzierung der Sozialversicherungen beteiligt werden soll. Das grösste Problem stellt sich bei der Krankenversicherung. Vor allem mittlere Einkommen werden bei den Krankassenbeiträgen in einem untragbaren Mass belastet, weil die Prämienverbilligungen – so etwa im Kanton Zürich – nur bis ca. 80 000 Franken Einkommen gewährt werden. Die Volkswirtschaft: Wir reden über die Finanzierung von Sozialversicherungssystemen, und Sie fordern einen Ausbau. Warum?Lampart: Es gibt nicht nur einen Bedarf im Krankenversicherungsbereich, sondern auch bei der AHV. Die Bedeutung der Ergänzungsleistungen ist dort ständig gestiegen. Das verfassungsmässige Ziel von 60% des Einkommens wird immer häufiger nicht erreicht. Übrigens: Auch der IV sind rund zwei Drittel der jüngeren Bezüger von Ergänzungsleistungen abhängig, was zeigt, dass die Leistungen nicht ausreichen und im System etwas Grundsätzliches nicht stimmt.Daum: Bei der Betrachtung des verfassungsmässigen Ziels dürfen die Ergänzungsleistungen nicht ausgeblendet werden. Diese werden unter Prüfung der ökonomischen Situation der Gesuchsteller gewährt. Bei unserem Verständnis von sozialer Sicherheit ist es zumutbar, dass jeder Selbstvorsorge betreibt und bei der Beurteilung eines Gesuchs alle verfügbaren privaten Mittel angerechnet werden. Das ist auch der Grund, weshalb wir diese AHV-Plus-Idee der Gewerkschaften ablehnen. Es geht nicht an, schöne Leistungsziele zu definieren, aber sich völlig über die Kosten auszuschweigen. Diese dürften gemäss ersten Schätzungen 2 bis 2,5 Mrd. Franken betragen.Lampart: Für Rentner, die nie in ihrem Leben Ergänzungsleistungen gebraucht haben, sind diese oft erniedrigend. Das zeigt sich daran, dass sie von vielen nicht in Anspruch genommen werden. Das Ziel muss sein, dass die Leute wenn immer möglich ohne bedarfsabhängige Ergänzungsleistungen auskommen.Die Volkswirtschaft: Wie hat sich der Anteil der Leute, die an der Armutsgrenze leben, Ihrer Interpretation nach entwickelt?Daum: In der Schweiz ist in den letzten 20 Jahren die Lohnschere nur leicht auseinandergegangen. Bei den Working Poor wie bei der Altersarmut ist die Tendenz klar rückläufig. Wir dürfen zur Kenntnis nehmen, dass nicht zuletzt durch unsere Sozialwerke die materielle Situation der schwächeren Bevölkerungsteile deutlich besser und stabiler geworden ist.Lampart: Die Zahl der Leute mit einem Salär von über 1 Mio. Franken hat sich in den letzten zehn Jahren in der Schweiz fast verfünffacht; hingegen ist die Reallohnentwicklung bei Lohnempfängern wie den Sanitär mit einem Monatssalär von knapp 5000 Franken nur leicht positiv. Rund 10% der Leute arbeiten in der Schweiz in Berufen, die nach internationalem Massstäben als Niedriglohnberufe einzustufen sind. Die Grenze liegt je nach Stundenzahl bei ungefähr 3800 Franken im Monat.Die Volkswirtschaft: Für wie gross erachten Sie die Reformfreudigkeit der Schweiz im Bereich der Sozialversicherungssysteme?Daum: Meine Bilanz der Reformfreudigkeit ist gemischt: Die erste Botschaft zur 11. AHV-Revision wurde vom Bundesrat im Jahr 2000 verabschiedet. Zehn Jahre später haben wir zwei gescheiterte Vorlagen hinter uns. Ich kann nur hoffen, dass die am Prozess beteiligten Parteien und Organisationen rasch ein einigermassen gemeinsames Verständnis von Ausgangslage, Perspektiven und Handlungsoptionen gewinnen werden. Bei der IV dauerte die Reformverweigerung sogar 15 Jahre. Ein positives Erlebnis war die Revision der Arbeitslosenversicherung. Hier zeigte sich, dass die Bereitschaft gewachsen ist, die Probleme anzugehen. Hoffen wir, dass dies nun auch bei der AHV der Fall sein wird.Lampart: Die Schweizer Bevölkerung hat bisher über alle wichtigen Sozialversicherungsfragen entschieden – sei es wegen einer vorgeschlagenen Verfassungsänderung oder einem Referendum. Das wird auch in Zukunft so sein. Viele Politiker wollen bei den Sozialwerken nur abbauen. Was wir brauchen, sind aber echte Lösungen. Wenn sie diese Logik des sozialen Abbaus weiterverfolgen und die Privilegierten weiter privilegieren, politisieren sie an der Schweizer Bevölkerung vorbei.Die Volkswirtschaft: Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Probleme bei der AHV gelöst werden?Lampart: Die AHV macht Überschüsse. Finanziell besteht momentan kein Handlungsbedarf. Unsicher ist, ob die Arbeitsmarktprobleme gelöst werden. Es liegt in unseren Händen, einen guten Arbeitsmarkt zu schaffen – mit guten Löhnen und neuen Jobs. Das ist die Finanzierungsquelle der Sozialwerke. Wie viele Rentner wir haben, können wir hingegen nicht beeinflussen. So einfach ist das.Daum: Es ist eben nicht so einfach. Nur international konkurrenzfähige Unternehmen können überhaupt Jobs schaffen respektive halten. Wenn Sie unsere Unternehmen zu sehr mit Abgaben und zu hohen Lohnforderungen belasten, dann können Sie ihr Ziel, das letztlich auch unseres ist, möglichst viele Stellen mit möglichst hohen Löhnen zu schaffen, nicht erreichen.Die Volkswirtschaft: Meine Herren, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Zitiervorschlag: Geli Spescha (2011). Stand und Weiterentwicklung der Sozialversicherungssysteme: Ein Streitgespräch. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.