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Vision und Grundsätze einer liberalen Sozialpolitik

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Visionen sind anregend, aber auch gefährlich. Sie helfen, Dinge vorwärts zu bringen, also die Realität zu gestalten, aber sie bergen auch die Gefahr, die Realität und ihre Zwänge aus den Augen zu verlieren. Besser ist es, sich an Prinzipien zu orientieren, die als Kompass dienen können in einer manchmal beängstigend schnell sich bewegenden Zeit. Welches sind solche wegweisenden Grundsätze für eine liberale Sozialpolitik?

Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass liberale, marktwirtschaftliche Politik insofern per se sozial ist, als sie einerseits jene Rechtsstaatlichkeit vertritt, welche die Freiheit der Schwachen vor der Willkür der Starken schützt, und anderseits besser als jede andere ordnungspolitische Orientierung Wohlstand für alle schaffen kann. Trotzdem braucht es in einer liberalen Ordnung eine Sozialpolitik im engeren Sinne, und zwar in zwei Richtungen: soziale Hilfe für Menschen in Not, die sich nicht selbst helfen können, und die soziale Sicherung der Menschen gegen die Unbill des Lebens wie Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder die Beschwerlichkeit des Alters.

Neun Grundsätze


Eine solche liberale Sozialpolitik muss zunächst auf dem Grundsatz der Subsidiarität basieren, also nur dort einspringen, wo untere Ebenen überfordert sind. Zweitens bedeutet liberale Sozialpolitik nicht, Unterschiede zu reduzieren. Es gibt zwar Argumente für Umverteilung, weil zu grosse Unterschiede eine Gesellschaft tatsächlich auseinanderbrechen lassen können; aber diese Art von Umverteilung sollte man nicht Sozialpolitik nennen. Liberale Sozialpolitik orientiert sich an den Bedürfnissen, will also gegen akute oder potenzielle Notlagen antreten – und eben nicht gleich machen.Drittens sollten Versicherungsprinzip und Transferzahlungen sauber getrennt sein. Die AHV führt zwar den Namen «Versicherung», ist aber vor allem eine grossartige Umverteilungsmaschinerie. Versicherung basiert dagegen auf dem Äquivalenzprinzip, also auf einer versicherungsmathematischen Relation zwischen Beitrag und Leistung. Deshalb sollten in einer liberalen Sozialpolitik Transferleistungen ausschliesslich steuerfinanziert, Versicherungsleistungen dagegen beitragsfinanziert sein. Intellektuelle Redlichkeit spricht dafür, Personen, die sich eine Versicherung nicht leisten können, sich aber versichern sollten, direkt zu unterstützen, nicht aber, die Prämien zu subventionieren. Viertens kommt man auch in einer liberalen Sozialpolitik nicht um Zwang herum. Wenn wir uns einig sind, dass wir auch Leute, die sich freiwillig nicht gegen Krankheit versichern, nicht sterben lassen wollen, haben wir die Wahl zwischen zwei wenig idealen Lösungen: Entweder wir zwingen alle zu einer Versicherung, oder wir lassen dieses missbräuchliche Trittbrettfahrertum zu und müssen dann anderen Leuten Geld wegnehmen, um die Trittbrettfahrer zu sichern. Auch staatliche soziale Hilfe – also Umverteilung – bedeutet immer Zwang, denn offenbar genügt ja die freiwillige Hilfe nicht. Für Liberale ist aber klar, dass so wenig Zwang wie möglich herrschen sollte. Deshalb muss der Versicherungszwang kombiniert sein mit einer Beschränkung der Hilfe auf ein Minimum, nämlich auf die Abwendung existenz- oder lebensbedrohender Situationen. Fünftens gehört zu liberaler Sozialpolitik der Wettbewerb und eine möglichst grosse Wahlmöglichkeit. Das findet seinen Ausdruck in der Möglichkeit, zwischen verschiedenen Versicherungsoptionen zu wählen, sich für hohe Selbstbehalte zu entscheiden und vor allem in einem Angebot sozialer Sicherung durch Wettbewerb statt durch Monopole, seien sie nun staatlich oder privat. Besonders wichtig ist, sechstens, der Grundsatz der Transparenz. Es geht in der Sozialpolitik ja um riesige Geldmengen und um die Beeinflussung von Tausenden von Lebenschancen. Deshalb sollte für jedermann ohne grosses Expertenwissen und ohne übertriebene Mühe erkennbar sein, wer für welche Zwecke in welcher Höhe belastet wird, welche Leistungsansprüche sich daraus ableiten und welche Umverteilungsströme fliessen. Das ist nicht nur ein moralisches Gebot der Ehrlichkeit, sondern ist auch Voraussetzung dafür, dass die Anreize beim Einzelnen klar und richtig gesetzt werden. Zugleich öffnet es auf der aggregierten Makroebene die Augen (Was kostet uns die Sozialpolitik?) und schafft demokratische Legitimation. An einer liberalen Sozialpolitik befinden sich deshalb immer Preisschilder. Siebtens sollte liberale Sozialpolitik den Menschen direkt helfen statt das Angebot für bestimmte Personen oder Personengruppen zu verbilligen. Genossenschaftswohnungen oder Verbilligungen für Rentner, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind von dort her problematisch. In Genossenschaftswohnungen wohnen keineswegs nur Leute, die sich eine Wohnung auf dem freien Markt nicht leisten können, und Rentner sind nicht per se unterstützungsbedürftig. Vor allem aber schirmt jegliche Objekthilfe die Leute, die von ihr profitieren, von der wirtschaftlichen Realität ab. Sie wissen nicht mehr, was die Dinge kosten; die relativen Preise sind für sie verzerrt. Subjekthilfe hilft dagegen den Menschen, die dies ohne diese Hilfe nicht schaffen würden, mit der wirtschaftlichen Realität fertig zu werden, aber gleichzeitig sehr wohl zu spüren, was relativ teuer und was relativ billig ist.Zu einer liberalen Sozialpolitik gehört, achtens, dass sie die heutigen Probleme nicht zulasten künftiger Generationen löst. Das wäre nicht nur unliberal, sondern auch unsozial. Der Ausdruck «Generationenvertrag» ist in diesem Zusammenhang weitgehend ein irreführender Marketing-Trick. Dieser Vertrag wurde nämlich nie unterschrieben, schon gar nicht von der jüngeren Generation, die in diesem sogenannten Vertrag der Verlierer ist. Weil vor allem die Alterssicherung auf nicht nachhaltiger Basis vorgenommen wurde, dürfen die Besitzstände der Rentner nicht völlig tabuisiert werden. Vielmehr müssen Lösungen unter Einbezug aller gefunden werden. Schliesslich sei als neuntes der Grundsatz der Verantwortlichkeit erwähnt. Liberale soziale Sicherung sollte darauf Bedacht sein, die Anreize so zu setzen, dass Schadens- bzw. Notfälle gar nicht eintreten. Das Phänomen ist allgemein bekannt: Wer versichert ist, wird gerne etwas sorgloser und entwickelt gelegentlich den Gedanken, er müsse doch endlich die Versicherung in Anspruch nehmen, für die er schon so viele Prämien bezahlt hat. Deshalb sind Bonus/Malus-Systeme und Selbstbehalte wichtig. Die Menschen richten sich sonst allzu leicht in der Versichertenbequemlichkeit ein.

Kompass der Politik


Der Einwand, all diese Prinzipien oder Visionen seien theoretisch weit weg von der politischen Realität, liegt auf der Hand. Er ist richtig. Allerdings kann auf Dauer auch die Politik nicht die ökonomische Schwerkraft überwinden. Zudem ist es ein Gebot der Ehrlichkeit: Man muss den Idealzustand, der für Sozialisten ein anderer ist als für Liberale, kennen, benennen und anstreben. Man braucht einen Kompass. Man kann dann zum Schluss kommen: Wir möchten gerne dorthin, aber wir schaffen es nicht, weil wir keine demokratische Mehrheiten finden, weil es Zeit braucht, weil wir froh sind, wenigstens den halbbatzigen Kompromiss zu erreichen. Nur sollte man eine Politik der sozialen Sicherung nicht liberal nennen, die viel mit Umverteilung und wenig mit Liberalität zu tun hat.

Zitiervorschlag: Schwarz, Gerhard (2011). Vision und Grundsätze einer liberalen Sozialpolitik. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.