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Wann ist es des Schlechten zu viel? Überlegungen zur Ausfallwahrscheinlichkeit staatlicher Schuldner

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Investoren erhielten von ihren Beratern – seien es Rating-Agenturen oder Banker – gerne genaue Prognosen zur Ausfallwahrscheinlichkeit von Schuldnern. Ist dieser Wunsch schon in Bezug auf Unternehmensanleihen kaum zu befriedigen, so stellt sich die Erarbeitung derartiger Prognosen im Fall von Staatsschulden noch wesentlich komplexer dar. Trotzdem lassen sich einige Faktoren bestimmen, welche die Ausfallwahrscheinlichkeit stark beeinflussen.

Die Schuldenquote Argentiniens lag bei etwa 54% des Bruttoinlandproduktes (BIP), als die Regierung im Jahr 2001 die Bedienung seiner Schulden einstellte. Die Quote Griechenlands betrug über 130% des BIP, als das Land im April 2010 durch das Unterstützungspaket der EU vor der drohenden Insolvenz gerettet wurde. In Japan steht die Schuldenquote heute bei über 220% des BIP; dennoch geben ihm die Rating-Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s die Noten AA- resp. Aa2 (also nur 3 Stufen unter dem Maximum), auch wenn sie die Bonität des Landes seit Januar um einen weiteren Grad herabgestuft haben. Die Renditen auf japanischen Staatsanleihen, die von den Bondmärkten verlangt werden, liegen aber immer noch auf ungewöhnlich tiefem Niveau. Die sogenannten Credit Default Swaps – d.h. die jährlichen Versicherungsprämien für einen Ausfall des japanischen Staates – sind zwar seit Beginn der Finanzkrise gestiegen, stehen jedoch bei nur knapp über 0,8%. Im Vergleich dazu weisen Spanien (2,7%) oder Portugal (4,8%) beide wesentlich tiefere Schuldenquoten auf.Diese Beispiele legen dar, dass zumindest die Höhe des Schuldenstandes alleine kaum Aufschluss über einen drohenden Schuldenausfall eines Landes geben kann. Auch andere Masse für die Schuldenbelastung sind in Bezug auf die Ausfallwahrscheinlichkeit wenig aussagekräftig. Wie Grafik 1 zeigt, sind Schuldenausfälle in der Vergangenheit zum Beispiel bei sehr unterschiedlichen Verhältnissen von Schulden zu Staatseinnahmen eingetreten. Gemäss einer neueren Studie von Moody’s
Vgl. Moody’s Investors Service, The Causes of Sovereign Defaults: Ability to Manage Crises Not Merely Determined By Debt Levels (November 2010). ist der Anteil der Zinszahlungen an den Gesamtausgaben der Regierungen etwas stärker mit Schuldenausfällen korreliert. Aber auch hier variieren die Werte, bei denen Schuldenausfälle in der Vergangenheit erfolgten, zwischen etwa 5% (Ecuador 2008) und über 50% (Jamaika, 2010).

Strukturelle Nachfrage nach Staatsanleihen


Fragt man, weshalb die japanische Regierung trotz enorm hohem Schuldenstand – zumindest gemäss der Einschätzung der Finanzmärkte – vorerst kaum ein Kandidat für einen Schuldenausfall ist, so lautet die erst einmal tautologisch erscheinende Antwort, dass offensichtlich die Nachfrage nach Staatsanleihen das enorm hohe Angebot problemlos absorbieren kann. Weshalb jedoch diese starke Nachfrage? Ein Teil der Antwort liegt in den immer noch beträchtlichen Nettoersparnissen des japanischen Privatsektors, welche sich trotz des hohen staatlichen Defizits in einem weiterhin hohen Ertragsbilanzüberschuss von etwa 3% des BIP niederschlägt. Hohe private Sparquoten eines Landes sind also ein wichtiger Faktor, der die Finanzierbarkeit von Staatsschulden erhöhen kann. Hohe private Sparquoten verhelfen auch dem italienischen Staat zu einer relativ problemlosen Finanzierung der Defizite. Sowohl hier wie auch in Japan stellt allerdings die demografische Entwicklung einen Risikofaktor dar. In Japan ist die Sparquote der Haushalte in den vergangenen Jahren bereits sehr stark gefallen, weil die älteren Bevölkerungsschichten «entsparen». Die Sparquote des Privatsektors insgesamt ist jedoch als Folge der vorsichtigen Investitionstätigkeit der Unternehmen momentan noch hoch. Im Gegensatz zu Japan oder Italien haben die Privatsektoren der europäischen Krisenländer Griechenland, Portugal und Spanien in den vergangenen Jahren hohe Defizite generiert. Als Folge dessen musste sich der Staat im Ausland finanzieren.Nebst hohen privaten Sparquoten können auch besondere institutionelle Regelungen dazu beitragen, die strukturelle Nachfrage nach Staatsanleihen zu erhöhen. Diverse Formen des Zwangssparens (Captive Saving) – wie zum Beispiel die Verpflichtung für Pensionskassen, einen hohen Anteil inländischer Staatsanleihen zu absorbieren – können die Finanzierbarkeit von Staatsdefiziten erhöhen. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass in offenen Finanzmärkten derartige Regelungen durch private Anlageentscheide unterlaufen würden, wenn ernsthafte Zweifel an der Bonität der Staatsanleihen aufkämen.

Anfälligkeit auf Schocks


Die meisten Studien zu Schuldenausfällen weisen darauf hin, dass diese sehr oft nach starken gesamtwirtschaftlichen Störungen auftreten. Historisch betrachtet haben Staaten nach Kriegen oder Umstürzen ihre Schuldenzahlungen eingestellt. Beispiele sind Spanien nach dem spanisch-englischen Krieg Ende des 16. Jahrhunderts, die Südstaaten während des amerikanischen Bürgerkriegs und Russland 1917. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die europäische Schuldenkrise kurz nach der Finanzkrise und der darauf folgenden tiefen Rezession ausgebrochen ist. Die oben erwähnte Studie von Moody’s weist darauf hin, dass alle 20 seit 1997 erfolgten staatlichen Schuldenausfälle in Phasen negativen Wirtschaftswachstums, nach Naturkatastrophen oder anderweitigen Schocks erfolgt sind. Zur Beurteilung des Ausfallrisikos ist deshalb eine Einschätzung der Anfälligkeit von Volkswirtschaften auf diverse Schocks wichtig. Schlecht diversifizierte Volkswirtschaften, die etwa von einem oder einigen wenigen Industriezweigen abhängen, sind ohne Zweifel wesentlich gefährdeter.Ein unstabiler Finanzsektor trägt dabei oft zur Anfälligkeit bei. Die Schwäche des Bankensystems hat nicht nur im Falle Irlands die Schuldenkrise ausgelöst, sondern auch in diversen lateinamerikanischen Krisenepisoden. Typischerweise versuchen Behörden durch Garantien oder sonstige Stützungsmassnahmen einen «Run» auf bilanzschwache Finanzinstitute zu verhindern, wodurch die Verpflichtungen des Staates selbst aufgebläht und nicht mehr finanzierbar werden. Dieser Mechanismus wird in einer jüngst vom Credit Suisse Research Institute publizierten Studie näher beschrieben.
Vgl. Credit Suisse Research Institute, Country Indebtedness (An Update): Sovereigns, Banks and the Vicious Circle of Funding (Januar 2011). Zur Beurteilung des Ausfallrisikos sollten also nicht nur die expliziten Verpflichtungen des Staates in Betracht gezogen werden, sondern auch jene, welche zum Beispiel durch Garantien für einen ungenügend kapitalisierten Finanzsektor hinzukommen könnten. Wegen der Hebelwirkungen, die von schwachen Bankbilanzen ausgehen, wird das Ausfallrisiko bei Schocks, die den Finanzsektor treffen, dann rasch erhöht.

Schulden in Fremdwährung


Schliesslich ist das Risiko von Schuldenausfällen wesentlich höher, wenn die Staatsschulden in Fremdwährung statt heimischer Währung denominiert sind. Erstens ist die Verschuldung in Fremdwährung ein Indiz für einen ungenügend entwickelten heimischen Kapitalmarkt und damit für potenzielle strukturelle Schwächen der Wirtschaft. Zweitens werden in diesem Fall die Staatspapiere tendenziell in Depots ausländischer Anleger gehalten, welche diese Papiere bei Hinweisen auf steigende Risiken möglicherweise rascher abstossen als heimische Anleger. Schwerer wiegt drittens, dass im Falle von Schulden in ausländischer Währung die reale Schuldenbelastung sprunghaft ansteigt, wenn sich die heimische Währung abwertet. Das dadurch erhöhte Ausfallrisiko führt dann typischerweise zu spekulativen Verkäufen derartiger Papiere, wodurch eine spiralartige Währungs- und Schuldenkrise ausgelöst werden kann. Schwächen im Bankensystem erhöhen die Wahrscheinlichkeit derartiger Krisen, weil dann fluchtartige Kapitalabflüsse aus dem Bankensystem den Druck auf die Währung – und damit die Schuldenbelastung – zusätzlich erhöhen. Die erwähnte Studie von Moody’s zeigt, dass bei Schuldenausfällen, welche durch Bankenkrisen ausgelöst wurden, der Anteil von Fremdwährungsschulden bei durchschnittlich sehr hohen 87% lag. Hohe Devisenreserven von Zentralbanken sind hingegen ein Faktor, der die Ausfallwahrscheinlichkeit reduziert.Die Einschätzung von Anlegern, dass gewisse Länder möglicherweise aus der Eurozone ausscheiden und ihre Schulden dann zu – schwerer lastenden – Fremdwährungspapieren mutieren würden, hat möglicherweise die europäische Schuldenkrise verschärft. Auch ohne ein derartiges Ausscheiden impliziert die Tatsache, dass keines dieser Länder Verfügungsgewalt über die die Heimwährung «produzierende» Europäische Zentralbank hat, dass ihre in Euro denominierten Schulden in einem gewissen Sinn Fremdwährungscharakter haben. Auch dies hat wohl die Anfälligkeit der Anleihen dieser Länder erhöht.

Zahlungsfähigkeit versus Zahlungswille


Alle oben erwähnten Faktoren versuchen grundsätzlich, die Zahlungsfähigkeit eines Landes bzw. seiner Regierung zu erfassen. Im Gegensatz zu einem Unternehmen, welches zu einem gewissen Zeitpunkt insolvent wird, weil die Einnahmen ganz einfach nicht mehr genügen und keine Kredite mehr beschafft werden können, tritt ein derartiger absoluter Cut-Off-Punkt bei Staaten aber sehr selten auf. In fast allen Fällen könnten durch anderweitige Ausgabensenkungen, Steuererhöhungen oder im Extremfall die direkte Verstaatlichung privater Vermögen genügend finanzielle Mittel beschafft werden, um die Schulden zu bedienen und einen Ausfall zu verhindern.Deshalb ist im Fall von Staaten die Einschätzung des Zahlungswillens ebenso wichtig wie jene der technischen Zahlungsfähigkeit. Es geht dabei grundsätzlich darum abzuschätzen, ob das politische System willens und fähig ist, die Interessen der Gläubiger jenen der potenziellen Zahler voranzustellen und dadurch auch in schwierigen ökonomischen Zeiten einen Schuldenausfall zu vermeiden. Bei diesem Entscheid spielen historische Erfahrungen und politisch-kulturelle Faktoren eine zentrale Rolle. Staatliche Schuldenausfälle sind möglicherweise auch weniger wahrscheinlich in Gesellschaften, in denen Vertragstreue und ähnliche wirtschaftlich-kulturelle Werte stark verankert sind und in denen ein geordneter Ausgleich sozialer Konflikte die Regel darstellt.Nebst diesen politisch-kulturellen Bestimmungsfaktoren spielen schliesslich auch geopolitische Überlegungen eine Rolle beim Entscheid über die Bedienung von Schulden. Die Geschichte zeigt, dass Staaten, welche ihre Gläubiger schädigen, auch ihrer eigenen Position in der internationalen Staatengemeinschaft beträchtlichen Schaden zufügen und ihre Führungsrolle gefährden.
Credit Suisse Research Institute, Country Indebtedness (An Update): Defaults since Delos (Januar 2011) Staaten, die für sich eine geopolitische Führungsrolle in Anspruch nehmen und bewahren wollen, werden einen Schuldenausfall zu vermeiden suchen.

Grafik 1: «Verhältnis von Staatsschulden zu Staatseinkommen beim Eintreten von Schuldenausfällen»

Zitiervorschlag: Adler, Oliver (2011). Wann ist es des Schlechten zu viel? Überlegungen zur Ausfallwahrscheinlichkeit staatlicher Schuldner. Die Volkswirtschaft, 01. März.