Suche

Abo

Dienstleistungshandel: Nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten

In welchen Dienstleistungssektoren liegen die grössten Exportpotenziale? Inwieweit ermöglichen internationale Wirtschaftsabkommen ein Wachstum der Dienstleistungsexporte der Schweiz und eine Zunahme der Direktinvestitionen? Welche Hemmnisse stehen einer intensiveren Nutzung des Vertragswerks im Dienstleistungshandel mit der EU entgegen? Welche Vorteile ergeben sich für die Volkswirtschaft, wenn sich Firmen in Absatz, Fertigung und Forschung sowie in Entwicklung durch Tochterfirmen im Ausland internationalisieren? Zu diesen Fragen hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im Rahmen eines Schwerpunktthemas seiner Ressortforschung vier wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben.

In fortgeschrittenen Volkswirtschaften trägt der Dienstleistungssektor zu etwa 70% der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung und Beschäftigung bei – und das mit steigender Tendenz. Dies trifft auch auf die Schweiz zu: 68% der Wertschöpfung in der Schweiz wird im Dienstleistungssektor erzeugt, und sieben von zehn Erwerbstätigen sind im tertiären Sektor tätig. Vergleicht man indes den Anteil des Dienstleistungshandels am Welthandel, wird deutlich, dass der internationale Dienstleistungsverkehr noch keineswegs der Bedeutung des tertiären Sektors entspricht. Der geringe internationale Austausch von Dienstleistungen hängt damit zusammen, dass typischerweise die Erbringung und Inanspruchnahme einer Dienstleistung zur gleichen Zeit und am selben Ort stattfinden. Die Handelbarkeit von Dienstleistungen ist also beschränkt. Nichtsdestotrotz ist die Internationalisierung der Wirtschaft schon lange nicht mehr ein Thema, das nur für Industrieunternehmen relevant ist.

Exportpotenziale ausgewählter Dienstleistungsbranchen der Schweiz

Der internationale Handel mit Dienstleistungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Betrug die jährliche durchschnittliche Wachstumsrate des weltweiten Dienstleistungshandels in den 1990er Jahren rund 7%, hat sie sich im Zeitraum 2000 bis 2008 auf 10,5% erhöht. Wird das Krisenjahr 2009 miteinbezogen, welches den international ausgetauschten Finanzdienstleistungen stark zusetzte, weist der internationale Dienstleistungsverkehr im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts im Durchschnitt noch eine Wachstumsrate von 8% pro Jahr auf.

Potenzial im Versicherungsbereich

Diese Dynamisierung des internationalen Handels mit Dienstleistungen ist unter anderem auf den technischen Fortschritt – insbesondere im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien – zurückzuführen. Dank dem technischen Wandel können vermehrt Leistungen, die bisher nur durch den Transfer von Arbeitskräften und Produktionsmitteln ins Bestimmungsland bereitgestellt werden konnten, ganz oder teilweise ohne diese Wanderbewegung erbracht werden. Zudem gewinnen aufstrebende Volkswirtschaften wie China und Indien als Dienstleistungsexporteure – aber auch als Importeure – zunehmend an Gewicht. Daneben begünstigte die Deregulierung und (Teil-)Privatisierung diverser Dienstleistungsbranchen den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr. Dienstleistungsmärkte unterliegen häufig einer starken staatlichen Kontrolle und Regulierung. Aus diesem Grund ist zunächst oft das Öffnen der relevanten Märkte im Inland notwendig, bevor ausländische Anbieter überhaupt in den Markt eintreten können. Das wachstumspolitische Anliegen besteht darin, dass die Schweiz angemessen an der weltweiten Dynamik des Dienstleistungshandels teilhat. Die Untersuchung von Peter Moser et al. der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur identifiziert Schweizer Dienstleistungsbranchen mit grossen Exportpotenzialen und erforscht, ob die Nichterschliessung der Exportpotenziale auf staatliche Marktzutrittsbarrieren zurückzuführen ist. Solche werden insbesondere im Bereich der Lebensversicherungen, des konzerneigenen Leasinggeschäfts und der grenznahen Spitäler gesehen.

Exportwirkungen verschiedener Abkommensarten

Im Gegensatz zum Warenhandel bestehen Handelsbarrieren im Dienstleistungssektor nicht aus Zöllen oder quantitativen Einfuhrbeschränkungen, sondern beruhen vorwiegend auf nationalen Regulierungen, die zum Teil beabsichtigt und zum Teil allein auf Grund ihrer Heterogenität den freien Dienstleistungsverkehr behindern.Seit den 1990er Jahren sind umfassende Entwicklungen in Bezug auf den Abbau von Handelshemmnissen im Bereich des Dienstleistungshandels festzustellen. Das Inkrafttreten des Allgemeinen Abkommens über den Dienstleistungshandel (Gats) im Rahmen der WTO im Jahr 1995 stellt auf multilateraler Ebene einen bedeutenden Schritt in Richtung Liberalisierung der Aussenwirtschaftsbeziehungen im Bereich der Dienstleistungen dar. Zudem gibt es eine Vielzahl bilateraler und regionaler Abkommen, in denen Regeln über den Handel mit Dienstleistungen niedergelegt sind. Gemäss der WTO waren im Februar 2011 weltweit 105 Präferenzabkommen in Kraft, welche über einfache Handelsabkommen hinausgehen und Regeln für den Handel mit spezifischen Dienstleistungen enthalten. Neben den Dienstleistungsabkommen verbessern auch Doppelbesteuerungs- oder Investitionsschutzabkommen – wenn auch indirekt – die Rahmenbedingungen von heimischen Dienstleistungsunternehmen im Ausland. Peter Egger und Georg Wamser von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich ermitteln in ihrem Artikel, welche Auswirkungen bestimmte Abkommensarten auf Dienstleistungsexporte sowie Direktinvestitionen haben. Ein Kernergebnis der Untersuchung ist, dass sich der Abschluss jeder Art von internationalen Wirtschaftsabkommen positiv auf den Dienstleistungshandel sowie die Direktinvestitionen auswirkt. Zusätzliche Integrationsschritte verstärken diese Effekte. Folglich sollte die Schweiz mit denjenigen Ländern, mit denen Sie noch kein Investitionsschutz, Doppelbesteuerungs- und Freihandelabkommen abgeschlossen hat, ein erstes solches Abkommen anstreben und mit den Partnerländern, mit denen sie bereits Integrationsschritte unternommen hat, die Vertragswerke vervollständigen.

Hemmnisse bei der Nutzung bestehender dienstleistungsrelevanter Abkommen zwischen der Schweiz und der EU

Der Abschluss von Dienstleistungsabkommen oder die Bildung von Handelsblöcken muss nicht bedeuten, dass damit in der Praxis die Handelsbarrieren beseitigt sind. Administrative Umtriebe und relevantes, im Abkommen nicht explizit aufgegriffenes innerstaatliches Recht können den freien Dienstleistungsverkehr weiterhin beträchtlich hindern.Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU werden durch ein dichtes Vertragswerk von bilateralen Abkommen geregelt. Im Dienstleistungsbereich gibt es zwischen der Schweiz und der EU jedoch keine umfassende bilaterale Vertragsgrundlage, die über die Gats-Bestimmungen hinausgeht und die den Marktzugang und die Niederlassung für alle Dienstleistungsarten regelt. Es besteht hingegen eine Vielzahl spezifischer vertraglicher Regelwerke (vgl. Kasten 2

Bestehende Abkommen mit der Europäischen Union betreffend Dienstleistungen

– Versicherungsabkommen (in Kraft seit 1993);– 90-Tage-Regel und Diplomanerkennung im Personenfreizügigkeitsabkommen (in Kraft seit 2002);– Landverkehrsabkommen (in Kraft seit 2002);– Luftverkehrsabkommen (in Kraft seit 2002);– Weitere (u.a. Zinsbesteuerung, Beschaffung, Forschung, Media).

), die das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU im Dienstleistungsbereich gestalten. Ein zentrales Abkommen ist das der Personenfreizügigkeit. Dank diesem dürfen seit dem 1. Juni 2004 natürliche Personen aus der Schweiz bis zu 90 Kalendertage jährlich ohne Bewilligung grenzüberschreitend Dienstleistungen in der EU anbieten (und umgekehrt). Entsprechend wichtig ist die praktische Umsetzung der 90-Tage-Regel. Im Zentrum des Artikels von Panagiotis Delimatsis (Tilburg University) und Pierre Sauvé (World Trade Institute, Bern) geht es darum aufzuzeigen, ob in der EU für Schweizer Dienstleistungsanbieter Hemmnisse im Bereich dieser Regelung bestehen und welcher Natur solche Hemmnisse sind. Die Untersuchung ergibt, dass exportorientierte Schweizer Dienstleistungsanbieter in der Regel pragmatische Lösungen suchen und finden, um allfällige Schwierigkeiten beim Marktzutritt in die EU zu umgehen. Die Autoren werfen indes die Frage auf, ob diese Strategie auch in Zukunft erfolgversprechend sein kann, denn die EU verfolgt unter der Lissabon-Agenda eine zunehmende Integration des EU-Binnenmarktes im Dienstleistungsbereich. Die Schaffung einer Plattform, die Informationen über Marktzutrittshindernisse sammelt und an die zuständigen Behörden weiterleitet, könnte im derzeitigen integrationspolitischen Umfeld ein Lösungsansatz sein, um der sich abzeichnenden mit der Vertiefung des EU-Binnenmarktes verstärkten Diskriminierung für Schweizer Dienstleistungsanbieter zu begegnen.

Vorteile einer Internationalisierung des Dienstleistungssektors

Aufgrund der bereits erwähnten besonderen Eigenschaften von Dienstleistungen werden viele Dienstleistungen zu einem grossen Teil nicht grenzüberschreitend, sondern über eine geschäftliche Niederlassung im Ausland erbracht. Aber auch in denjenigen Dienstleistungsbranchen, in denen technische Neuerungen in den letzten Jahren den grenzüberschreitenden Handel vereinfacht haben, spielt die lokale Präsenz in Form von Tochterunternehmen oder Kooperationen oftmals eine bedeutende Rolle.Die Untersuchung von Spyros Arvanitis et al. der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich geht den Fragen nach, welche Faktoren die Entscheidung der Dienstleistungsunternehmung im Ausland zu investieren beeinflussen, und welche Form und welchen Umfang ihr Auslandsengagement annehmen soll. Die Autoren folgern, dass insbesondere innovationsstarke, humankapitalintensive Unternehmen aus einer weitergehenden Liberalisierung Nutzen ziehen; denn es sind die firmenspezifischen Stärken, die für eine internationale Ausrichtung eines Unternehmens bestimmend sind. Unternehmen in Ländern mit kleinem Heimmarkt wie der Schweiz können Grössenvorteile oft nur in international angelegten Unternehmensstrukturen voll realisieren, wobei sie die relativen Vorteile jedes Standortes miteinander kombinieren. Das Motiv, durch Standortverlagerung Kosten einzusparen, ist gemäss den befragten Unternehmen selten dominant.

Fazit

Der technische Fortschritt, die grössere Mobilität der Dienstleistungsanbieter und -nachfrager, die zunehmende Tertiärisierung der fortgeschrittenen Volkswirtschaften und der Schwellenländer sowie die Öffnung von bedeutenden Dienstleistungssektoren für die Konkurrenz werden das grenzüberschreitende Angebot und die Nachfrage nach Dienstleistungen steigern. Die hier vorgestellten Studien zeigen, dass die Schweiz über gute Voraussetzungen verfügt, um im Dienstleistungsbereich vom Internationalisierungsprozess zu profitieren. Es gilt nun die ausstehenden Herausforderungen anzugehen, da sich der Dienstleistungshandel seit Jahren als sehr dynamisch erweist und auch in Zukunft weiter stark wachsen dürfte. Die Verbesserung und vertragliche Absicherung des Marktzugangs im Dienstleistungsbereich sollte deshalb im Fokus der Aussenwirtschaftspolitik stehen. Für den Abbau von Handelshemmnissen und die Offenhaltung bereits geöffneter Dienstleistungsmärkte bietet die WTO die bevorzugte Plattform. Ergänzend zu den stockenden Verhandlungen in der WTO spielen für die Schweiz auch bilaterale Freihandelsabkommen für die weitere Öffnung von Dienstleistungsmärkten eine wichtige Rolle.

Kasten 1: Publikation der Studien

Publikation der Studien

Im Rahmen der Publikationsreihe «Strukturberichterstattung» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) wird ein Band mit allen in diesem Artikel erwähnten Studien erscheinen. 47/1 Arvanitis, S., Hollenstein, H., Ley, M., Stucki, T., 2011: Die Internationalisierung des Dienstleistungssektors und der Industrie der Schweizer Wirtschaft (Band 1).47/2 Moser, P., Lehmann, R., Forster, M., Werner, M., 2011: Exportpotenziale im Dienstleistungssektor (Band 2).47/3 Delimatsis, P., 2011: Cross-border Supply of Business Services by Swiss Service Suppliers within the EU (Band 3).47/4 Egger, P., Wamser, G., 2011: Selektion in und Effekte von endogenen ökonomischen Integrationsabkommen (Band 4).

Kasten 2: Bestehende Abkommen mit der Europäischen Union betreffend Dienstleistungen

Bestehende Abkommen mit der Europäischen Union betreffend Dienstleistungen

– Versicherungsabkommen (in Kraft seit 1993);– 90-Tage-Regel und Diplomanerkennung im Personenfreizügigkeitsabkommen (in Kraft seit 2002);– Landverkehrsabkommen (in Kraft seit 2002);– Luftverkehrsabkommen (in Kraft seit 2002);– Weitere (u.a. Zinsbesteuerung, Beschaffung, Forschung, Media).

Zitiervorschlag: Marianne Abt, Peter Balaster, (2011). Dienstleistungshandel: Nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten. Die Volkswirtschaft, 01. April.