Die Wissensökonomie Schweiz ist auf Bildungsausländer angewiesen
Bildung ist der einzige Rohstoff, über den die Schweiz verfügt. Sie ist die notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Wirtschaft und den Wohlstand unseres Landes. So lautet das Credo von Politikern und Parteien von links bis rechts. Effektiv sind es in immer stärkerem Masse wissensbasierte Leistungen, die nach der Wachstumsschwäche der 1990er-Jahre und den beiden Krisen im vergangenen Jahrzehnt die Wirtschaft am Standort Schweiz weiter gebracht haben. Der wachsende Bedarf an hochqualifiziertem Personal − sowohl in der Wirtschaft wie auch in Lehre und Forschung an den Hochschulen – muss mit Bildungsausländern gedeckt werden.
Humankapitalgrenze des Wachstums der Schweiz
Im Jahr 2009 waren am Standort Schweiz 815 000 Erwerbstätige in akademischen Berufen und 289 000 als Führungskräfte beschäftigt; in beiden Berufshauptgruppen zusammen waren es 1 104 000. Im gleichen Jahr betrugen die Abschlüsse Bachelor, Master und Doktorate aller Fachrichtungen aus den universitären Hochschulen und Fachhochschulen 29 825 oder 2,7% der beiden Berufshauptgruppen. Mit diesem Anteil können nicht einmal die unabwendbaren Abgänge aus Gründen wie Alter, Berufswechsel oder Krankheit kompensiert werden; ein Wachstum dieser Erwerbstätigen ist völlig ausgeschlossen. Den gleichen Befund liefert ein analoger Vergleich der Beschäftigen im Bereich der wissensbasierten Dienstleistungen mit der Zahl aller Abschlüsse. Im Bericht des Bundesrats über die Fachkräfte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) wurde festgestellt, dass 2009 fast jede 11. MINT-Stelle nicht besetzt war.
Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF) (2010): MINT Fachkräftemangel, Bern. Das Hochschulsystem der Schweiz bringt demnach gemäss allen Untersuchungen übereinstimmend zu wenig Absolventen mit jenen Qualifikationen hervor, die am Arbeitsmarkt besonders nachgefragt werden und die für ein Wachstum notwendig sind.Dieser Mangel wird in Zukunft aufgrund der demographischen Entwicklung noch deutlich verschärft: Die absolute Zahl der 20- bis 25-jährigen der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz wird ab 2013 mit über 1% p.a. noch stärker abnehmen und bis 2031 auf einen Stand schrumpfen, der 19% (oder über 100 000) tiefer ist als heute. Damit sinkt auch das Potenzial ausländischer Studenten mit ständigem Wohnsitz in der Schweiz. Allein um die absolute Zahl der gymnasialen und Berufs- und Fach-Maturanden bis 2031 konstant zu halten, müsste die Maturitätsquote von 32,5% (2008/09) auf über 40% gesteigert werden. Auch bei einer noch stärkeren Mobilisierung der eigenen Bildungsressourcen kann diese Human Brain Frontier nennenswert nur mit dem Zuzug von Bildungsausländern hinausgeschoben werden. Die Demografie setzt damit der Weiterentwicklung des Standortes Schweiz zu einer Wissensökonomie klare Grenzen.
Bildungsausländer im Hochschulsystem
In jüngster Zeit wurde diese Grenze durch den Zuzug von Ausländern nach ihrem Studienabschluss in ihrer Heimat hinausgeschoben: 2008 hatte die Schweiz 35000 und 2009 rund 45000 tertiär Ausgebildete aus dem Ausland neu beschäftigt, was bis zu 1% der Erwerbstätigen pro Jahr ausmachte. Damit profitiert die Schweiz von Bildungsausgaben anderer Nationen. Eine Alternative bietet der Zuzug von Ausländern, die im Hochschulsystem der Schweiz – universitäre Hochschulen (UH) und Fachhochschulen (FH) – ausgebildet werden. Mit «Bildungsausländer» sind Studierende gemeint, die aufgrund eines im Ausland erworbenen Bildungsabschluss zum Hochschulstudium zugelassen werden. 2009 besassen von den total 126 940 Studierenden an den universitären Hochschulen 26 867 einen ausländischen Zulassungsausweis; das sind 21%. In absoluten Zahlen am meisten ausländische Studierende besuchten die Universität Genf, gefolgt von der ETH Zürich. Prozentual verzeichnete die USI (Università della Svizzera italiana) mit 60% den höchsten Anteil, gefolgt von der EPF Lausanne (École Polytechnique Fédérale de Lausanne) mit 40%. Seit 1998 wachsen die Eintritte mit ausländischem Zulassungsausweis um 8% bis 9% pro Jahr, gegenüber lediglich 1,5% pro Jahr bei jenen mit schweizerischem Zulassungsausweis. Der Ausländeranteil unter den Studierenden wird weiter deutlich steigen. Dies gilt auch für die Fachhochschulen, wo der Anteil der Bildungsausländer an allen Studierenden (69 676) 2009 mit 7180 und damit 10,3% allerdings deutlich geringer war (vgl. Tabelle 1).Je nach Fachbereich bestehen deutliche Unterschiede: 2009 hatten Bildungsausländer den grössten Anteil bei den Studierenden an den universitären Hochschulen in den für eine wissensbasierte Wirtschaft so wichtigen Bereichen wie technische Wissenschaften mit 32,6%, gefolgt von Exakten und Naturwissenschaften mit 31%; bei den Fachhochschulen standen die Künste mit 33,8% mit Abstand an der Spitze gefolgt vom Bauwesen 14,8%.
Vgl. BFS (2010a): Diverse Statistiken aus dem Themenbereich «Bildung, Wissenschaft».Eine noch stärkere Entwicklung in Richtung Internationalisierung zeichnet sich beim Personal der Hochschulen ab. 2008 belief sich der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer auf 30%. Dabei beschäftigten die universitären Hochschulen mehr ausländisches Personal (38%) als die FH (21%) und die PH (7%). Bei den Professorinnen und Professoren stellten Personen ausländischer Herkunft einen Anteil von 28% an allen Hochschulen, wobei ihr Anteil an den universitären Hochschulen wesentlich grösser (46%) war als an den FH (23%) und den PH (7%). Einen überdurchschnittlich hohen Anteil verzeichnet der ETH-Bereich: 2010 stammten 47% seiner Mitarbeitenden aus dem Ausland, und dieser Anteil ist in den Jahren zuvor stets gewachsen. Mit einem Ausländeranteil von 63% ist die Internationalität bei allen drei Professorenkategorien besonders ausgeprägt.
ETH-Rat (2011): Fortschritte 2010. Rechenschaftsbericht, Zürich, S. 89. Gemäss Szenario Tendenz des BFS dürfte dieser Anteil weiter steigen und bis 2019 für die universitären Hochschulen in Vollzeitäquivalenten die höchsten Raten in den Bereichen Wirtschaftswissenschaften mit 72% und technischen Wissenschaften mit 70% erreichen.Sowohl beim Personal (inkl. Professorinnen und Professoren) wie auch bei den Abgängern (d.h. beim Nachwuchs der akademisch qualifizierten Erwerbstätigen) können die Hochschulen am Standort Schweiz gemäss Trend in einigen Jahren im Wesentlichen nur noch durch den Zuzug von Ausländern wachsen. In den Kerndisziplinen, die für eine Wissensökonomie Schweiz wichtig sind, wird die Entwicklung noch gravierender sein: Gemäss Szenario Tendenz des BFS dürften ab 2015/17 in den technischen Wissenschaften die Hälfte der Studierenden Bildungsausländer sein, die von Professorinnen und Professoren unterrichtet werden, deren Ausländeranteil rund 70% sein wird (siehe Grafik 1).
Bildungsausländer bringen der Schweiz Vorteile
Bildungsausländer sind für Wachstum und Erfolg der wissensbasierten Wirtschaft und des Hochschulsystems und für Wohlstand am Standort Schweiz unabdingbar. Sie bringen für die Hochschulen und Forschungsinstitute einen entscheidenden Mehrwert oder eröffnen zumindest Chancen dazu – namentlich durch folgende Beiträge: Beitrag zur Qualität der Hochschulen: Als Studierende tragen Bildungsausländer zu einer hohen Qualität und zu einer kulturellen Durchmischung an den Hochschulen bei und fördern die interkulturellen Kompetenzen der Hochschulangehörigen. Kreative, risikofreudige und qualitativ hochstehende Doktoranden sind ein entscheidender Faktor für den Erfolg einer Hochschule. Sie leisten das Gros der Forschungsarbeiten. Die Möglichkeit der Bildung leistungsfähiger Teams mit hochqualifizierten Doktoranden macht eine Hochschule für gute Professoren attraktiv. Umgekehrt ziehen exzellente Professoren gute Studierende an. Qualität hat einen selbstverstärkenden Effekt: Ist die Qualität hoch, wollen hochtalentierte Doktoranden und gute Professoren kommen.Beitrag für die Wirtschaft über den Arbeitsmarkt: Als erfolgreiche Abgänger leisten Bildungsausländer einen Beitrag zum Arbeitsmarkt und stärken die globale Vernetzung der Schweiz. Sie tragen nach ihrem Studienabschluss mit dazu bei, den Mangel an akademisch qualifizierten Fachkräften der Schweiz zu lindern. Von allen Bildungsausländern, die in der Schweiz ein Studium an Hoch- oder Fachhochschulen absolviert hatten, gingen ein Jahr nach ihrem Abschluss (Diplom, Master, Lizenziat oder Doktorat) zwei Drittel und mehr einer Arbeit in der Schweiz nach. Bezogen auf die beiden ETHs gingen 40% der Bildungsausländer mit einem Masterabschluss in die Wirtschaft, 24% blieben im Hochschulsystem Schweiz und der Rest ging ins Ausland − d.h. nochmals 20% in die Wirtschaft und 16% in den Hochschulbereich. Von den ETH-Promovierten gingen alleine am Standort Schweiz 51% in die Wirtschaft. Das ist eine deutlich höher Quote als die durchschnittliche; 15% blieben im Hochschulsystem Schweiz. Die Analyse von 2007 zeigt weiter, dass Bildungsausländer fünf Jahre nach ihrem Abschluss − im Vergleich zu den Schweizer Absolventen (mit 53,1% gegenüber 36,5%) − in der Wirtschaft wesentlich stärker in Führungsfunktionen und bei selbständig Erwerbstätigen vertreten waren.
BFS (2010a): Diverse Statistiken aus dem Themenbereich «Bildung, Wissenschaft». Bildungsausländer sind damit überdurchschnittlich initiativ und erfolgreich. Die Hochschulen leisten über die Ausbildung von Bildungsausländern einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung des schweizerischen Arbeitsmarktes mit dringend benötigten akademisch qualifizierten Fachkräften. Der Weg über das schweizerische Bildungssystem hat auch den Vorteil, dass die Bildungsausländer besser mit der Kultur der Schweiz vertraut sind und sich leichter in Wirtschaft und Gesellschaft integrieren.
Härter werdender Wettbewerb um Talente
Die Schweiz kann sich glücklich schätzen, dass bisher so viele bildungswillige und gut qualifizierte Ausländer bereit waren, sich hierzulande zu engagieren. Entsprechend sollte die Schweiz ein aktives Interesse an der Aufrechterhaltung der Attraktivität unseres Standortes haben. Können Unternehmen die benötigten Qualifikationen am Standort Schweiz nicht rekrutieren, wandern sie mit den entsprechenden Teilen ihrer Wertschöpfung dorthin, wo bessere Rekrutierungsmöglichkeiten bestehen, ist doch der Arbeitsmarkt für den Standortentscheid mitentscheidend. Der beschriebene Sachverhalt dürfte sich aber zum Nachteil der Schweiz verschärfen, wird doch der Bildungsmarkt internationaler und wettbewerbsintensiver. Die Hochschulen und Hochschulstandorte in anderen Ländern kämpfen zunehmend aggressiver und mit einem deutlich wachsenden Mitteleinsatz um gute Talente. Sie verbessern die Löhne des Hochschulpersonals und der Dozierenden und bauen ihre Bildungsinfrastruktur aus. Einige Heimatländer – besonders asiatische – bieten hohe Rückkehrer-Prämien. Deutschland, der Hauptlieferant unserer Bildungsausländer, führt Aktionen wie Spitzenclusterwettbewerb oder Exzellenzinitiative durch. Ziel ist, die Forschung durch Kooperation der Universitäten mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft zu stärken und dabei 30 Exzellenzcluster aufzubauen. Durch die Errichtung von 40 Graduiertenschulen sollen attraktive Rahmenbedingungen für Studierende und für die gezielte Rekrutierung von wissenschaftlichem Nachwuchs geschaffen werden. Zum Ausbau der Spitzenforschung und zur gezielten Rekrutierung von Spitzenforschenden aus dem In- und Ausland wurden 10 Elite-Universitäten bezeichnet und speziell gefördert. Mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) werden Preise und Stellen finanziert, um Spitzenkräfte nach Deutschland zu bringen. So werden etwa führende und im Ausland tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen mit der Humboldt-Professur ausgezeichnet mit dem Ziel, sie an deutsche Hochschulen zu bringen und ihnen dafür langfristige Forschung zu ermöglichen. Für die Exzellenzinitiative wurden die Forschungsmittel des Bundes speziell erhöht. Bildung und Forschung wurden in der grossen Debatte über das Sparprogramm der Bundesregierung ausdrücklich ausgeklammert. Der Haushalt des BMBF steigt 2011 gegenüber 2010 um 7,2% auf das Rekordniveau von 11,6 Mrd. Euro.
Attraktion und Selektion
Die Migration von hochqualifizierten Talenten in die Schweiz wird in Zukunft nicht selbstverständlich bleiben. Die Schweiz muss sich aktiv darum bemühen, ganz besonders über die weitere Stärkung der eigenen Qualität und Reputation in Lehre und Forschung, durch Marketingaktionen vor Ort und/oder durch Angebot von speziellen Stipendienprogrammen für bestens qualifizierte Bildungsausländer. Der Hochschulplatz Schweiz braucht besonders talentierte und hoch motivierte Bildungsausländer. Damit wird die Zulassung zu den Hochschulen mit entsprechender Selektion nach Eignung zu einem entscheidenden Faktor. In der jüngeren Vergangenheit war die Qualität der effektiven Bewerbungen von Bildungsausländern äusserst heterogen. Die Gewinnung besonders begabter und hochmotivierter Talente benötigt geeignete Mittel und Wege für eine qualitätsorientierte Selektion. Dies verlangt klare Vorstellungen der jeweiligen Hochschule über ihren Bildungsauftrag respektive ihr Anforderungsprofil für bestimmte Studiengänge. Selektion hat konform zu sein mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz in Europa − insbesondere mit den bestehenden Äquivalenzabkommen mit den Nachbarstaaten. Wie die Praxis vieler Hochschulen in den Nachbarstaaten zeigt, wird die internationale Auflage des freien Zugangs für Studierende mit anerkanntem Ausweis aus dem EU-Raum durch eine Assessement-Stufe – selektive Prüfungen im ersten Semester mit Durchfallquoten von 30% bis 50% – korrigiert.
Fazit
Die Schweiz wird nicht durch Bildungsausländer überflutet, im Gegenteil: Sie braucht dringend und unabdingbar eine grosse Anzahl qualitativ hochstehender Bildungsausländer, wenn die Wirtschaft und Wissenschaft ihre Spitzenposition halten und sich weiterentwickeln wollen. Denn die Bestände unseres Rohstoffes Bildung nehmen ab. Eine Ablehnung von Bildungsausländern bedeutet Stagnation − oder gar ein Schrumpfen − und jedenfalls Verzicht und Abwanderung von Teilen der Wissenschaft und der Wertschöpfung der Wirtschaft. Bildungsausländer sind selbst dann notwendig, wenn eine zusätzliche Mobilisierung der eigenen Bildungsressourcen gelingt. Selbstverständlich muss der Schweizer Nachwuchs noch stärker gefördert werden. Damit wird der Bedarf an Bildungsausländern zwar reduziert; er kann aber nie ersetzt werden. Absolut erforderlich ist es, die Attraktivität des Bildungs- und Hochschulplatzes Schweiz zu erhalten und weiter zu fördern: Förderung der Qualität der Lehre und Forschung, von guten Arbeitsbedingungen an den Hochschulen und einer guten Bildungsinfrastruktur.
Grafik 1: «Anteil Studierende der Schweizer UH mit ausländischem Studienberechtigungsausweis in Masterstudiengängen»
Tabelle 1: «Anteil Bildungsausländer an den Studierenden im ETH-Bereich (Headcount) nach Studienstufen 2010»
Zitiervorschlag: Hotz-Hart, Beat (2011). Die Wissensökonomie Schweiz ist auf Bildungsausländer angewiesen. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.