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Auswirkungen einer Marktöffnung auf die Schweizer Nahrungsmittelindustrie

In einer Studie zuhanden von economiesuisse, Migros, Nestlé (Schweiz) und IGAS wurde untersucht, welche Auswirkungen vom geplanten Freihandelsabkommen für den Agrar- und Lebensmittelbereich (FHAL) zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) und von der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) auf die schweizerische Nahrungsmittelindustrie zu erwarten sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die Branche von einem FHAL insgesamt profitieren würde, dass aber aufgrund der vergangenen agrarpolitischen Eingriffe mit ausgeprägten Strukturanpassungen zu rechnen ist.

Die schweizerische Ernährungswirtschaft befindet sich nach einer langen Periode einer Agrarpolitik mit zum Teil intensiven Markteingriffen in einer Phase der Neuorientierung. Im Rahmen verschiedener Reformen in der Landwirtschaftspolitik zieht sich der Staat seit den 1990er-Jahren immer stärker aus der operativen Lenkung der Agrarmärkte zurück. Der Reformprozess wird in erster Linie durch den zunehmenden externen Druck zur Liberalisierung der Handelsbeziehungen auch im Agrarsektor vorangetrieben. Einflussreich sind besonders die Verhandlungen im Rahmen der WTO-Doha-Runde, über bilaterale Freihandelsabkommen mit verschiedenen aussereuropäischen Staaten sowie mit der EU über ein Freihandelsabkommen für den Agrar- und Lebensmittelbereich. Allfällige Effekte auf die schweizerische Nahrungsmittelindustrie als Ganzes wurden bisher kaum präzise untersucht, obwohl die Nahrungsmittelindustrie einen grossen Anteil der schweizerischen Urproduktion verarbeitet und vertreibt – und damit der Absatz von schweizerischen Agrarprodukten weitgehend auch vom Bestand der Nahrungsmittelindustrie abhängt. Diese Lücke schliesst die vor kurzem publizierte Studie.

Nahrungsmittelindustrie entwickelt sich erfolgreich


Die Nahrungsmittelindustrie ist mit einer Wertschöpfung von knapp 10 Mrd. Franken und mit rund 60 000 Arbeitsplätzen ein wichtiger Akteur in der schweizerischen Volkswirtschaft (vgl. Kasten 1

Abgrenzung der Nahrungsmittelindustrie


Die Nahrungsmittelindustrie wird in dieser Studie gemäss NOGA 2008 wie folgt definiert: – 101 Schlachten und Fleischverarbeitung– 102 Fischverarbeitung– 103 Obst- und Gemüseverarbeitung– 104 Herstellung von pflanzlichen und tierischen Ölen und Fetten– 105 Milchverarbeitung– 106 Mahl- und Schälmühlen, Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen– 107 Herstellung von Back- und Teigwaren- 108 Herstellung von sonstigen Nahrungsmitteln – 110 GetränkeherstellungDie Herstellung von Futtermitteln und der (Gross-) Handel mit Agrarrohstoffen und Lebensmitteln wird nicht zur Nahrungsmittelindustrie gezählt.

). Mit 5,7% aller Industriearbeitsplätze beschäftigt die Nahrungsmittelindustrie beinahe doppelt so viele Personen wie die Pharmaindustrie. Die Branche hat sich in den letzten Jahren erfolgreich entwickelt und zunehmend international ausgerichtet. So konnte die Nahrungsmittelbranche die Beschäftigtenzahl zwischen 2001 und 2008 um 3000 Personen (oder 5%) erhöhen, was im Vergleich zur schweizerischen Volkswirtschaft leicht unter dem Durchschnitt liegt, aber wesentlich besser ist als die Landwirtschaft, welche im selben Zeitraum ca. 13% der Arbeitsplätze verlor. Zudem hat die Branche ihre Exporte seit 2000 wertmässig mehr als verdoppelt. Im Jahr 2009 wurden Waren im Wert von 6,3 Mrd. Franken exportiert, was rund 21% des Gesamtumsatzes der Branche entspricht. Aufgrund der vielen agrarpolitischen Regulierungen ist die Nahrungsmittelindustrie heterogen zusammengesetzt (vgl. Tabelle 1). Die drei Subbranchen Herstellung sonstiger Nahrungsmittel, Back- und Teigwarensowie Getränkeherstellung – erarbeiten mit 64% beinahe zwei Drittel der Bruttowertschöpfung der schweizerischen Nahrungsmittelindustrie, sind am stärksten exportorientiert, haben sich auf differenzierte Produkte spezialisiert und weisen eine hohe Wettbewerbsfähigkeit aus. Die hohe Exportorientierung geht auch mit der grössten Zunahme der absoluten Beschäftigung einher (vgl. Grafik 1). Die Wettbewerbsfähigkeit der anderen beiden wertschöpfungsmässig wichtigen Branchen Milchverarbeitung und Fleischverarbeitung ist uneinheitlich. Es existieren einerseits wettbewerbsfähige Bereiche, welche bereits geöffnet sind (z.B. Käse) oder dank aktivem Veredelungsverkehr teilweise auf Auslandmärkte ausgerichtet sind (z.B. Trockenfleischspezialitäten). Andererseits existieren binnenorientierte Teile, welche aufgrund teilweise fehlender Grösse und grosser Produktvielfalt im Vergleich zu ausländischen Konkurrenten teilweise Kostennachteile aufweisen. Die übrigen Subbranchen erbringen nur eine geringe Bruttowertschöpfung. Die Wettbewerbsfähigkeit der Verarbeiter von Obst und Gemüse und der Hersteller von Ölen und Fetten wird als eher gering eingeschätzt.

Vier Szenarien im Vergleich


In der Studie werden die Auswirkungen von vier Szenarien abgeschätzt. Als Referenzszenario dient der Status quo plus, welcher die wahrscheinliche Entwicklung der nationalen und internationalen Marktnachfrage und der schweizerischen Agrarpolitik unter der Annahme abbilden, dass keine weitergehende Öffnung im Aussenhandel stattfindet. Dieses Referenzszenario wird mit drei Öffnungsvarianten verglichen. Das Szenario FHAL unterstellt, dass die laufenden Verhandlungen mit der EU zu Abschluss des FHAL führen. Das dritte Szenario FHAL plus WTO-Doha geht davon aus, dass zusätzlich zum FHAL in der WTO-Doha-Runde beim gegenwärtigen Verhandlungsstand eine Einigung erzielt wird. Das vierte Szenario WTO-Doha nimmt an, dass die Doha-Runde erfolgreich abgeschlossen wird, aber auf das FHAL mit der EU verzichtet wird. Zur Abschätzung der Auswirkungen wurde eine qualitative Methode mit Expertenworkshops gewählt, die sich an die Delphi-Methode anlehnt und aufgrund der standardisierten und strukturierten Vorgehensweise realitätsnah ist und eine Erfassung der Ist-Situation sowie eine Diskussion der zukünftigen Lage ermöglicht. Zu diesem Zweck wurden im Juni 2010 vier Workshops mit insgesamt 28 Teilnehmern aus allen Subbranchen der Nahrungsmittelindustrie durchgeführt. Die am Workshop vertretenen Firmen beschäftigen in der Schweiz etwa 29 000 Mitarbeiter (knapp 50% der Branchenbeschäftigung) und generieren in der Schweiz einen Umsatz von ca. 15,5 Mrd. Franken (ca. 58% des Branchenumsatzes).

FHAL prioritär für Nahrungsmittelindustrie


Für die befragten Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie ist das FHAL von grosser Bedeutung. Der durch ein FHAL bewirkte Abbau von Zöllen und insbesondere von nicht-tarifären Handelshemmnissen eröffnet einen deutlich verbesserten Zugang zum EU-Markt und damit ein beträchtliches Absatzpotenzial. Umgekehrt nimmt jedoch die Importkonkurrenz zu. Aufgrund des Preisdrucks wird deshalb mit einem leichten Rückgang des Umsatzes gerechnet. Das FHAL verstärkt die Tendenz, dass sich Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie aus dem preissensiblen Massengeschäft zurückziehen und dafür den Spezialitätenbereich, in welchem Innovation und Qualität erfolgsentscheidend sind, ausbauen und international vermarkten. Die Heterogenität der Branche spiegelt sich bei der Beurteilung der Szenarien wieder. Jene Subbranchen und Unternehmen, welche bereits heute Erfahrungen im Export haben oder auf wenige Produkte spezialisiert sind, befürworten meist eine weitergehende Öffnung. Diese heute wertschöpfungs- und beschäftigungsmässig dominierenden Bereiche können in der Regel von einem FHAL und teilweise auch von der WTO-Doha-Runde profitieren, sofern sie nicht bereits heute in einem liberalisierten Marktumfeld tätig sind. Eine Marktöffnung dürfte insbesondere den Herstellern von Schokolade, Kaffee, Zuckerwaren, Fertiggerichten, Saucen aber auch den milchverarbeitenden Unternehmen Vorteile bringen. Demgegenüber sind binnenorientierte Firmen gegenüber einer Öffnung skeptisch eingestellt. Das erstaunt nicht, stehen diese Unternehmen doch vor zusätzlichen Herausforderungen und müssen bei einer Öffnung der Märkte ihre Strategie ändern: Sie könnten sich auf spezifische Produkte konzentrieren und in diesen Bereichen durch Wachstum Grössenvorteile realisieren. Dabei wird es auch Verarbeitungsbereiche geben, welche in der Schweiz bei einer Öffnung nicht mehr rentabel betrieben werden können. Das ist vor allem dann der Fall, wenn erstens die Rohstoffe nicht zu gleichen Preisen wie im Ausland beschafft werden können, zweitens verarbeitete Nahrungsmittel gleichzeitig mit kleinem Transportaufwand importiert werden können und drittens kaum Differenzierungspotenzial besteht. Bei der Arbeitsplatzentwicklung ist dank wachsenden Exporten mittel- bis langfristig mit zusätzlichen Beschäftigten zu rechnen. Jedoch sind Verschiebungen innerhalb der Branche zu erwarten, hauptsächlich im Bereich Schlachten und Fleischverarbeitung. Kurzfristig ist es durchaus möglich, dass der Arbeitsplatzabbau die Neuschaffung von Arbeitsplätzen übersteigt. Wie bei jedem Strukturwandel ist die Entstehung neuer Geschäftseinheiten und das Wachstumstempo bestehender Produkte selbst für Industrievertreter schwierig zu prognostizieren. Die von vielen Organisationen und Berichten immer wieder bestätigte hohe Standortattraktivität der Schweiz dürfte auch für nahrungsmittelherstellende Unternehmen Chancen bieten, welche sich bei vereinfachtem Zugang zu ausländischen Märkten vermehrt nutzen lassen (vgl. Grafik 2).

FHAL als Absicherung gegenüber WTO-Doha


Das FHAL wirkt als Versicherung gegenüber der mit vielen Unsicherheiten verbundenen Marktöffnung beim Abschluss der WTO-Doha-Runde; denn hier werden weltweite Zölle reduziert, während die nicht-tarifären Einschränkungen bestehen bleiben. Einem Abschluss der Doha-Runde bei gleichzeitig bereits realisiertem FHAL stehen die meisten der befragten Unternehmen der Nahrungsmittelbranche deutlich positiver gegenüber als einem WTO-Doha-Abschluss ohne FHAL. Bei letzterem Szenario sehen sich viele Unternehmungen benachteiligt, da die Ausfuhrbeiträge wegfallen, die Rohstoffkosten in der Schweiz jedoch höher als im Ausland bleiben. Zudem würden sowohl tarifäre als auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse in die EU bestehen bleiben.

Leicht sinkende Nahrungsmittelpreise


Die Marktöffnung hat weitere volkswirtschaftliche Auswirkungen: Abhängig vom Marktöffnungsszenario und den in der jeweiligen Rohstoffkategorie bestehenden heutigen Preisunterschiede sinken die Rohstoffpreise um bis zu 30%, was bei gleichzeitigen Effizienzsteigerungen in der Nahrungsmittelindustrie zu einem Rückgang der durchschnittlichen Nahrungsmittelpreise (für Endkunden) von bis zu 10% führen kann. Mit dieser Reduktion der Preisdifferenz zu den Nachbarländern dürfte der grenznahe Einkaufstourismus deutlich abnehmen.

Auswirkungen auf schweizerische Landwirtschaft


Der durch die Öffnung bewirkte Strukturwandel in der Nahrungsmittelindustrie hat Auswirkungen auf die schweizerische Landwirtschaft. Aufgrund des FHAL sinken die Preise von gut transportierbaren Agrarrohstoffen auf ein mit den Nachbarländern vergleichbares Niveau. Bei diesen Preisen wird die Nachfrage der Nahrungsmittelindustrie nach landwirtschaftlichen Produkten zunehmen. Die Industrievertreter sind jedoch pessimistisch, ob die schweizerische Landwirtschaft zu diesen Preisen genügend Mengen anbieten kann. Würde jedoch die WTO-Doha-Runde ohne FHAL abgeschlossen, wäre auch bei der Annahme von sinkenden Rohstoffpreisen in der Schweiz mit einem Rückgang der Rohstoffnachfrage zu rechnen, da die Nahrungsmittelindustrie in diesem Szenario wegen wegfallenden Ausfuhrbeiträgen einen Umsatzrückgang erwartet.

Strukturwandel als Folge der Agrarpolitik


Die Studie zeigt, dass die unterschiedliche Betroffenheit der nahrungsmittelverarbeitenden Firmen ebenfalls eine Folge der bisherigen Agrarpolitik ist. Einem Teil der Nahrungsmittelindustrie wurde zur Kompensation der hohen Rohstoffpreise Exportunterstützung gewährt. Bei einer Marktöffnung würde diese Unterstützung wegfallen. Sie wäre allerdings auch nicht mehr notwendig, da kein Rohstoffpreisnachteil mehr bestehen würde. In anderen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie wurde als Abgeltung der hohen Rohstoffpreise ein Grenzschutz für ihre Produkte geschaffen. Das hatte zur Folge, dass Unternehmensstrukturen entstanden sind, welche sich an den Gegebenheiten des kleinen und geschlossenen schweizerischen Marktes orientieren. So weisen einige Subbranchen Strukturen auf, die aufgrund von mangelnden Grösseneffekten in einem international offenen Markt wenig wettbewerbsfähig sind. Daher sind in diesen Subbranchen Umsatz- und Arbeitsplatzrückgänge möglich. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist dies jedoch kein Argument gegen eine Marktöffnung, denn die Wohlfahrtssteigerung durch zunehmenden internationalen Handel ist genau diesem Strukturwandel zu verdanken. Eine angemessene Wirtschaftspolitik erleichtert diesen Strukturwandel innerhalb der Nahrungsmittelbranche durch einen verlässlichen Fahrplan der Marktöffnung. Das verschafft den Unternehmen Zeit, ihre strategische Ausrichtung und ihre Investitionen anzupassen. Dadurch wächst die Chance, dass neue wettbewerbsfähige Bereiche innerhalb der Nahrungsmittelindustrie aufgebaut werden können.

Grafik 1: «Exportanteil und Beschäftigungsentwicklung»

Grafik 2: «Summarische Einschätzung der Öffnungsszenarien im Vergleich zum «Status quo plus»»

Tabelle 1: «Strukturdaten der schweizerischen Nahrungsmittelindustrie»

Kasten 1: Abgrenzung der Nahrungsmittelindustrie

Abgrenzung der Nahrungsmittelindustrie


Die Nahrungsmittelindustrie wird in dieser Studie gemäss NOGA 2008 wie folgt definiert: – 101 Schlachten und Fleischverarbeitung– 102 Fischverarbeitung– 103 Obst- und Gemüseverarbeitung– 104 Herstellung von pflanzlichen und tierischen Ölen und Fetten– 105 Milchverarbeitung– 106 Mahl- und Schälmühlen, Herstellung von Stärke und Stärkeerzeugnissen– 107 Herstellung von Back- und Teigwaren- 108 Herstellung von sonstigen Nahrungsmitteln – 110 GetränkeherstellungDie Herstellung von Futtermitteln und der (Gross-) Handel mit Agrarrohstoffen und Lebensmitteln wird nicht zur Nahrungsmittelindustrie gezählt.

Kasten 2: Quelle

Quelle


Bösch, Irene; Weber, Michael; Aepli, Matteo und Werner, Martin (2011), Folgen unterschiedlicher Öffnungsszenarien auf die Schweizer Nahrungsmittelindustrie, Untersuchung zuhanden von Economiesuisse, Migros, Nestlé (Schweiz) und IGAS.

Zitiervorschlag: Irene Boesch, Michael Weber, Matteo Aepli, Martin Werner, (2011). Auswirkungen einer Marktöffnung auf die Schweizer Nahrungsmittelindustrie. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.