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Risiken der Erdöl- und Erdgasabhängigkeit für die importierenden Industrie- und Schwellenländer

Die Energieressourcen sind auf dem Globus ungleich verteilt. Für Industrie- und Schwellenländer bedeutet dies eine wachsende Abhängigkeit von Importen aus ressourcenreichen Ländern, die sich zum grossen Teil in politisch instabilen Regionen befinden. Gleichzeitig gehen die Erdölvorräte auch in diesen Ländern zur Neige oder werden schwieriger abbaubar. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass das Thema Energiesicherheit aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken ist. Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich durch die Notwendigkeit, Energiesicherheit vor dem Hintergrund des globalen Klimawandels zu planen und nach Alternativen zu fossilen Brennstoffen zu suchen. Dies sind die Rahmenbedingungen, denen sich auch die Schweiz stellen muss.



Die globale Nachfrage nach Energie wächst weiter. Selbst nach dem progressiven Szenario des aktuellen Energieausblicks der Internationalen Energieagentur (IEA), das geplante Massnahmen zum Klimaschutz und das Auslaufen von Subventionen fossiler Energieträger berücksichtigt, wird davon ausgegangen, dass die Nachfrage nach Primärenergie von 2008 − 2035 um 36% steigen wird. Die fossilen Brennstoffe würden danach auch im Jahr 2030 noch knapp drei Viertel der globalen Nachfrage nach Energie zu befriedigen haben: Erdöl 28%, Kohle 26% und Erdgas 23%. Die starke Abhängigkeit der Weltwirtschaft von Erdöl- und Erdgas bleibt also bestehen (siehe Grafik 1).

Die Anfälligkeit der Schweiz …


Erdölprodukte spielen für die Schweiz mit 55% Anteil am Energiemix eine herausragende Rolle. Erdöl muss vollständig durch Einfuhren gedeckt werden − zu rund zwei Dritteln in Form von Fertigprodukten und zu einem Drittel als Rohöl. Vom letztgenannten stammen rund 88% aus den politisch instabilen Staaten Nord- und Westafrikas. Fertigprodukte werden fast ausschliesslich aus EU-Ländern eingeführt, doch sind auch diese bei der Erdölversorgung zu über 80% auf Einfuhren aus Drittländern angewiesen. Hingegen ist die Bedeutung des Erdgases für die Schweizer Wirtschaft mit 12% am Energiemix relativ niedrig. In Frankreich beträgt dieser Anteil 14%, in Deutschland 22% und in Italien 39%. Für ihre Erdgasversorgung ist die Schweiz derzeit vollständig auf Importe angewiesen. Die Schweizer Erdgasbeschaffung wird zum grossen Teil durch langfristige Lieferverträge mit zuverlässigen Partnern aus vier EU-Ländern (Deutschland, Niederlande, Frankreich und Italien) sichergestellt. Mit Ausnahme der Niederlande decken diese Länder den Hauptteil ihrer Gasbedürfnisse durch Importe aus Russland, Norwegen und Algerien.

… und anderer Industrieländer


Der Anteil der Importe aus Nicht-EU-Ländern wird in den nächsten beiden Jahrzehnten weiter stark ansteigen. Durch den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie, wie er beispielsweise in Deutschland nach dem Reaktorunglück von Fukushima beabsichtigt ist, wird die Nachfrage nach Erdgas zusätzlich ansteigen. Immerhin könnten auf der Angebotsseite auch in Europa neue Quellen an unkonventionellem Erdgas wie dem Schiefergas erschlossen werden. Unter dem Vorbehalt, dass die Vorhersagen je nach den zu erwartenden politischen und technischen Entwicklungen derzeit stark schwanken, werden die EU-Länder im Jahr 2030 70% ihres Erdgases aus Ländern ausserhalb Europas importieren.Diese Entwicklungen bergen Risiken, denen sich die Schweiz gemeinsam mit anderen OECD-Ländern stellen muss. Kaum einem von ihnen lässt sich im Alleingang begegnen, sind doch die Märkte heute in höchstem Masse global und verwoben. Die Antworten müssen oftmals in internationalen Gremien gesucht werden und verlangen nach verlässlichen Regeln. Ein Risiko, auf das die Wirtschaft besonders empflindlich ist, ist der Ölpreis. Der überwiegend in den Schwellenländern starke Nachfrageanstieg, der zusätzlich durch den grassierenden Derivatehandel und die Rohstoffspekulation beschleunigt wird, hat den Ölpreis jüngst in bisher ungekannte Höhen getrieben. Der Rekord war im Juli 2008 mit 147 US-Dollar für ein Fass US-Leichtöl erreicht. Darauf folgte der jähe Absturz in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise: Zum Jahresende betrug der Preis nur mehr 35 US-Dollar. Seitdem stieg er wieder kontinuierlich an und lag im April 2011 schon wieder bei über 110 US-Dollar, für ein Fass der Nordseesorte Brent bereits bei über 120 US-Dollar.

Preisschwankungen als Herausforderung


Für die Energiewirtschaft mit ihren langen Investitionszyklen sind diese Schwankungen ein grosses Problem. Bei sinkenden Preisen tendiert diese dazu, Investitionsvorhaben zu verschieben, was bei wieder einsetzender Nachfrage zu Verknappung und entsprechend starken Preisanstiegen führt. Ein hoher Rohhölpreis kann Investitionen in Förderprojekte mit schwierigen geologischen Bedingungen oder in den Abbau von Ölsand motivieren. Bleibt die Nachfrage nach Rohhöl selbst bei hohen Preisen unelastisch, wird der Anteil der Wirtschaftsleistung, der in die erdölexportierenden Länder transferiert wird, zu einer immer stärkeren Belastung. Mittelfristig könnte dies die Suche nach Alternativen stärken. Der Rohölpreis hat also auch für die Wirtschaftlichkeit von Projekten für alternative und erneuerbare Energie sowie für Massnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz Signalwirkung.

Dominanz nationaler Erdöl- und Erdgasfirmen


Investitionsentscheidungen in Erdöl- und Erdgasförderprojekte erfolgen jedoch nicht allein aufgrund kommerzieller Erwägungen. Internationale Ölfirmen, die nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Ölmärkte beherrschten, haben seit dem Ende der Kolonialzeit kontinuierlich an Einfluss verloren und müssen sich heute der Dominanz nationaler Öl- und Erdgasfirmen der exportierenden Länder unterordnen. Deren Unternehmenspolitik richtet sich nach dem Prinzip der Souveränität der Ressourcen und ist meist Teil der Staatswirtschaft. Um sie zu beeinflussen, bedarf es einer neuen Form wechselseitiger Zusammenarbeit, die nicht allein über den Preis abgewickelt werden kann. Rohstoffreiche Länder erwarten von dieser Zusammenarbeit wachsenden Wohlstand und technologischen Fortschritt, aber auch Stabilität für ihre etablierten politischen Regimes. Internationale Energiepolitik findet so im Kräftefeld zwischen Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik statt. Die Erwartungen an westliche Demokratien sind dabei weiterhin besonders hoch. In manchen Ländern mag sich eine Zusammenarbeit gar verbieten, selbst wenn davon Länder mit weniger ausgeprägten Wertvorstellungen von Demokratie und nachhaltiger Entwicklung kurzfristig profitieren.

Wachsende Transportrisiken


Wachsende Importabhängigkeit bedeutet auch mehr globalen Handel mit Erdöl und Erdgas − mit entsprechend wachsenden Transportrisiken. Da Erdöl in der Masse mit Tankern über die Weltmeere verschifft wird, sind Sicherheitsaspekte von besonderer Bedeutung. Nadelöhre wie die Strasse von Hormuz am südlichen Ende des Persischen Golfs, über die etwa 20% des Öls weltweit transportiert wird, oder die Strasse von Malakka zwischen Malaysia und Indonesien sind bekannte Beispiele für die Gefährdung durch Konflikte, terroristische Anschläge oder Piraterie, denen die globalen Handelswege ausgesetzt sind.Auf dem Festland spielen Pipelines eine herausragende Rolle für die Energiesicherheit. So wird etwa russisches Erdgas über Tausende von Kilometern durch ein System von Hochdruckpipelines und durch eine Reihe von Transitländern aus dem Westen Sibiriens nach Mitteleuropa transportiert. Die Krise vom Januar 2009, als es in der Folge des Streits zwischen Russland und der Ukraine zu Lieferunterbrechnungen in Europa kam, hat erneut vor Augen geführt, wie abhängig Europa von einem verantwortungsvollen Verhalten der Produzenten- und Transitländer ist. Internationale Regeln sind hier dringend geboten. Ihr Zweck muss es sein, den Energiehandel zu entpolitisieren und auf eine transparente und verlässliche Grundlage zu stellen.

Bedeutung multilateraler Verträge zur Reduktion von Risiken


Multilaterale Verträge und Organisationen können auf viele der genannten Herausforderungen eine Antwort geben. Dies gelingt jedoch nur, wenn ein echter Interessenausgleich erzielt werden kann und alle Beteiligten den Vorteil einer Verrechtlichung der Beziehungen erkennen. Zunächst einmal scheinen die Interessen der Produzenten-, Konsumenten- und Transitländer ja konträr zu sein. Auch treten innerhalb dieser Gruppen Staaten zueinander in Konkurrenz. So können gemeinsame Regeln häufig nur in langwierigen Verhandlungen gefunden werden und müssen sich in der Praxis immer wieder harten Bewährungsproben stellen. Angesichts wechselseitiger Abhängigkeiten sind internationale Lösungen jedoch im Ergebnis für alle Seiten vorteilhafter als überkommene Nullsummenspiele.Es fehlt aber eine umfassende globale Organisation für Energiefragen und zur Förderung einer verantwortungsvollen Führung. In ihren Anfängen waren die Organisation Erdölexportierender Länder (Opec) und die Internationale Energieagentur (IEA) Antipoden im Wettstreit zwischen Erdöllieferländern und den energieabhängigen Industrieländern. Seitdem hat sich insbesondere die IEA gegenüber Nichtmitgliedern geöffnet und ein umfassenderes Gesamtkonzept entwickelt, das den Zielen Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und Energiesicherheit dienen soll. Der institutionalisierte Dialog mit den Produzentenländern findet seit 1991 im Internationalen Energieforum (IEF) statt, dem auch die Opec-Länder angehören. Wichtige Themen, die gemeinsame Interessen berühren, sind etwa die Bekämpfung der Volatilität des Ölpreises oder die Förderung von Transparenz und Nachhaltigkeit der Märkte. Das IEF hat sich Anfang des Jahres eine Charta gegeben, um den Prozess weiter zu institutionalisieren. Rechtlich verbindlich ist die Zusammenarbeit der Staaten dort jedoch nicht.

Energiecharta-Vertrag


Der bisher einzige multilaterale Vertrag mit verbindlichen Regeln für Produzenten-, Konsumenten und Transitländer ist der Energiecharta-Vertrag (Energy Charter Treaty, ECT) von 1994. Dieser entstand in einer historisch einmaligen Situation, als Europas Grenzen fielen und sich Chancen für eine Integration der Energiemärkte auf dem eurasischen Kontinent unter marktwirtschaftlichen Prinzipien auftaten. Sein Kern lässt sich auf die Formel «Investitionen im Gegenzug zu Zugang zu Ressourcen» bringen. Dementsprechend verfügt er über weitgehende Regeln zum Investitionsschutz, auf Grund derer Investoren gegen Mitgliedsstaaten vor internationalen Schiedsgerichten klagen können. Er dehnt ausserdem die Handelsregeln der Welthandelsorganisation (WTO) für den Energiesektor auf Länder aus, die nicht Mitglied in der WTO sind, und verfügt über klare Regeln für den Energietransit entsprechend dem Prinzip der «Freiheit des Transits». Weitere Vertragsartikel beschäftigen sich mit dem Wettbewerb, dem Technologietransfer, dem Zugang zu Kapital, der Souveränität über Energieressourcen, Transparenz und Steuern. Zusammen mit dem ECT wurde ein Protokoll zur Energieeffizienz verabschiedet (siehe Kasten 1

Vertrag über die Energiecharta


Gründungsjahre: 1994 Vertrag verabschiedet; seit 1998 Vertrag in Kraft.Beschlussfassendes Organ: Energiecharta-Konferenz, tagt jährlich, Sekretariat in Brüssel.Mitglieder der Konferenz: EU-, EFTA-, GUS-Staaten (Status Russlands strittig), südosteuropäische Staaten, Türkei, Japan, Mongolei, Australien (51 Staaten sowie die EU und Euratom).Beobachter: Länder in Nahen Osten und in Nordafrika und im Nahen Magreb, Maschrek, Golfstaaten, Afghanistan, Pakistan, China, Korea, Indonesien, USA, Kanada, Venezuela.Rechtsverbindliche Regeln in den Energiebereichen: – Handel,– Wettbewerb,– Transit,– Technologietransfer,– Förderung und Schutz von Investitionen, – Souveränität über EnergieRessourcen,– Umweltaspekte,– Transparenz,– Steuern.Protokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte.Verhandlungen über ein Transitprotokoll.Modernisierung seit 2009 zur Stärkung der Wirksamkeit des Vertrags im globalen Kontext.

). Unter dem ECT wurden Institutionen geschaffen, die der Umsetzung seiner Prinzipien und der Fortentwicklung seiner Normen dienen sollen. In der Energiecharta-Konferenz und ihren nachgeordneten Arbeitsgruppen kommen die Vertreter der 53 Mitgliedsstaaten aus Europa und Asien zusammen. Das beherrschende Thema in den Gremien ist derzeit die Modernisierung des Energiecharta-Prozesses. Die Schweiz bringt sich aktiv in diesen multilateralen Prozess ein.

Grenzen eines umfassenden Ansatzes


Auf den ersten Blick scheint eine Modernisierung kaum 15 Jahre nach Inkrafttreten von ECT verfrüht zu sein. Doch hat sich gezeigt, dass der umfassende Ansatz − der Produzenten- und Konsumentenländer unter allgemeingültigen verbindlichen Regeln zusammenbringt − an seine Grenzen stösst, wenn der einmal gefundene Interessenausgleich nicht weiterentwickelt wird. Russland hat den ECT nie ratifiziert und verlangt nun eine Vertragsrevision als Bedingung für einen Beitritt. Die Parteien werden sich darauf nicht einlassen, wenn die Grundprinzipien des Vertrags dadurch erschüttert werden. Doch sie werden den russischen Wünschen ein Stück weit entgegen kommen müssen, um den umfassenden Ansatz des Vertrags zu bewahren. Im Rahmen der Modernisierung ist, um neue Mitglieder aufnehmen zu können, zudem die geografische Erweiterung des Vertrags zur Priorität erklärt worden. Die bestehenden Mitglieder sind der Überzeugung, dass das dem Vertrag zugrunde liegende Modell auch im globalen Kontext von Nutzen sein kann. Angesichts neuer Prioritäten sind in jüngster Zeit neue internationale Organisationen ins Leben gerufen worden, die sich der Förderung erneuerbarer Energien (Irena) oder der Energieeffizienz (Ipeec) verschrieben haben. Im Rahmen der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) wird weiter an verbindlichen Regeln zur Reduzierung des Ausstosses von Treibhausgasen gearbeitet. Doch haben gerade die schwierigen Verhandlungen in Kopenhagen im Dezember 2009 die Grenzen multilateraler Prozesse aufgezeigt.

Fazit


Die Länder kommen nicht umhin, aus der äusserst schwierigen Lage, auf globaler Ebene Lösungen zu finden, Konsequenzen zu ziehen und auch im nationalen oder regionalen Rahmen weiter an Lösungen für die dringlichen Probleme zu suchen, die durch den Energieverbrauch aufgeworfen werden. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz bieten dabei den Vorteil, zugleich das Klima zu schonen und die Abhängigkeit von importiertem Erdöl und Erdgas zu reduzieren. Da diese jedoch auf absehbare Zeit bestehen bleiben wird, gilt es auch politisch eine Diversifizierung von Bezugsquellen und Transportrouten zu fördern.Auf die Schweiz warten also eine Vielzahl schwieriger Aufgaben. Wo immer möglich, sollten diese in Zusammenarbeit und im Einvernehmen mit anderen Staaten in Angriff genommen werden. Doch auch jeder Einzelne ist gefordert, seinen Beitrag zur Reduzierung der Erdöl- und Erdgasabhängigkeit zu leisten. Die Probleme sind gravierend, aber nicht unlösbar. Unsere Lebensverhältnisse werden sich ändern müssen. Mit intelligenten Lösungen können sie darunter verbessert werden.

Grafik 1: «Nachfragezuwachs nach Energie per Energieträger und Region unter dem progressiven «New Policies Scenario», 2008–2035»

Kasten 1: Vertrag über die Energiecharta

Vertrag über die Energiecharta


Gründungsjahre: 1994 Vertrag verabschiedet; seit 1998 Vertrag in Kraft.Beschlussfassendes Organ: Energiecharta-Konferenz, tagt jährlich, Sekretariat in Brüssel.Mitglieder der Konferenz: EU-, EFTA-, GUS-Staaten (Status Russlands strittig), südosteuropäische Staaten, Türkei, Japan, Mongolei, Australien (51 Staaten sowie die EU und Euratom).Beobachter: Länder in Nahen Osten und in Nordafrika und im Nahen Magreb, Maschrek, Golfstaaten, Afghanistan, Pakistan, China, Korea, Indonesien, USA, Kanada, Venezuela.Rechtsverbindliche Regeln in den Energiebereichen:– Handel,– Wettbewerb,– Transit,– Technologietransfer,– Förderung und Schutz von Investitionen, – Souveränität über EnergieRessourcen,– Umweltaspekte,– Transparenz,– Steuern.Protokoll über Energieeffizienz und damit verbundene Umweltaspekte.Verhandlungen über ein Transitprotokoll.Modernisierung seit 2009 zur Stärkung der Wirksamkeit des Vertrags im globalen Kontext.

Zitiervorschlag: Steivan Defilla, Florian Encke, (2011). Risiken der Erdöl- und Erdgasabhängigkeit für die importierenden Industrie- und Schwellenländer. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.