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Die Revision des Versicherungsvertragsgesetzes

Was verbindet den Ford T und das Versicherungsvertragsgesetz (VVG)? Beide erblickten 1908 das Licht der Welt. Der Ford T – beziehungsweise seine Nachfolger – wurden seither stetig weiterentwickelt; das VVG blieb im Wesentlichen unverändert. Es überrascht daher wenig, dass es den heutigen Ansprüchen und Bedürfnissen nicht mehr genügt. Die notwendig gewordene Totalrevision nahm mit der vom Bundesrat kürzlich verabschiedeten Botschaft einen weiteren wichtigen Schritt. Der vorliegende Artikel zeigt die Entstehungsgeschichte sowie die wichtigsten Neuerungen im Entwurf auf.

Die Unzulänglichkeiten des alten Gesetzes


Das Versicherungsvertragsgesetz vom 2. April 1908
SR 221.229.1. regelt das privatrechtliche Vertragsverhältnis zwischen der Versicherungsnehmerin oder dem Versicherungsnehmer (sowie der versicherten, anspruchsberechtigten oder begünstigten Person) und dem Versicherungsunternehmen (VU). Das geltende Gesetz, das sich über lange Zeit grundsätzlich bewährt hat, ist in der letzten Zeit immer stärker in Kritik geraten. Die verminderte Akzeptanz des heutigen Versicherungsvertragsrechts lässt sich nicht nur auf die veränderte Wahrnehmung und Bewertung von versicherungsrechtlichen Fragestellungen durch die Öffentlichkeit zurückführen. Auch im Schrifttum wurde vielfach die mangelnde Ausgewogenheit zwischen den gegenseitigen Verpflichtungen der Versicherungsnehmer und der VU sowie die unzureichende Abstimmung des VVG mit dem allgemeinen Obligationenrecht beanstandet. Zudem sieht sich die Rechtsprechung immer häufiger mit Problemen konfrontiert, für die das geltende Recht keine oder nur unzulängliche Lösungen zur Verfügung stellt.

Die Teilrevision von 2006


2006 wurden – zusammen mit dem totalrevidierten Versicherungsaufsichtsgesetz – einige Bestimmungen des VVG geändert, mit deren Anpassung man nicht bis zu einer Totalrevision des VVG zuwarten wollte. Die Teilrevision enthielt unter anderem folgende Neuerungen: − Das VU wurde verpflichtet, den Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss über seine Identität und den wesentlichen Vertragsinhalt zu informieren (Art. 3 VVG). Bei Verletzung dieser Pflicht wurde dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit der Vertragskündigung eingeräumt (Art. 3a VVG).− Prinzip der Kausalität bei Anzeigepflichtverletzung: Löst das VU den Vertrag wegen Anzeigepflichtverletzung auf, so ist es von seiner Leistungspflicht nur für solche Schäden befreit, deren Eintritt oder Ausmass durch die nicht oder nicht korrekt angezeigte Gefahrstatsache beeinflusst wurde (Art. 6 VVG). − Grundsatz der Teilbarkeit der Prämie bei vorzeitiger Auflösung oder Beendigung des Versicherungsvertrags (Art. 24 VVG).− Erlöschen des Versicherungsvertrags bei Handänderung (Art. 54 VVG). Diese Bestimmung wurde in der Zwischenzeit erneut korrigiert, indem der Versicherungsvertrag beim Eigentümerwechsel des versicherten Gegenstands auf den neuen Eigentümer übergeht und dieser den Vertrag bis 30 Tage nach erfolgter Handänderung kündigen kann.
06.468; Parlamentarische Initiative Hegetschweiler.

Die Expertenkommission Schnyder


Bereits 2003 hatte das damals zuständige Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) eine wissenschaftlich ausgerichtete Expertenkommission unter der Leitung von Prof. Dr. Anton K. Schnyder (Universität Zürich) mit der – trotz der laufenden Teilrevision notwendigen – vollumfänglichen Überarbeitung des VVG betraut. 2006 lieferte die Kommission ihren Entwurf samt Erläuterungsbericht dem mittlerweile zuständigen Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) ab, welches in der Folge eine Vernehmlassungsvorlage ausarbeitete.

Die Vernehmlassung und ihr Ergebnis


Die Vernehmlassungsvorlage hielt die Stossrichtung der Expertenkommission bei, wich aber in einigen Punkten von den Vorschlägen ab. So wurde etwa die Versicherungsvermittlung noch einmal überarbeitet und auf eine Inhaltskontrolle von allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) durch die Gerichte verzichtet. In der schliesslich 2009 durchgeführten Vernehmlassung begrüsste die überwiegende Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer die Vorlage vollumfänglich oder zumindest dem Grundsatz nach. Die Vernehmlassung brachte aber auch etliche und teilweise gewichtige Vorbehalte zutage. So wurde insbesondere von der Wirtschaftsseite geltend gemacht, die Vertragsfreiheit würde durch die vielen zwingenden und halbzwingenden Normen zu stark eingeschränkt. Einschränkungen dürften nur so weit gehen, als dies zum Schutze der Versicherungsnehmer notwendig sei. Befürchtet wurde auch, die Regulierungsdichte erhöhe den Aufwand und führe zu einer Kostensteigerung bei den VU. Die wirtschaftlichen Folgen der Totalrevision müssten detaillierter abgeklärt werden.

Die Regulierungsfolgenabschätzung


Diesen in der Vernehmlassung geäusserten Befürchtungen über die wirtschaftlichen Folgen der Vorlage trug der Bundesrat Rechnung und beauftragte das EFD im Januar 2010, zusammen mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zu den wichtigsten Änderungsvorschlägen und Varianten eine vertiefte Regulierungsfolgenabschätzung (RFA)
Mit der RFA werden – zumeist im Rahmen der Ausarbeitung von Gesetzesbotschaften – die wirtschaftlichen Auswirkungen einzelner Regulierungsmassnahmen und -alternativen auf die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sowie auf die Gesamtwirtschaft untersucht (http://www.seco.admin.ch/rfa). durchzuführen. Überdies wurde das EFD beauftragt, die Regelung zur Versicherungsvermittlung (Maklerentschädigung) unter Einbezug der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) zu überarbeiten. Das EFD und das Seco haben in der Folge das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien Bass mit der Durchführung einer RFA zu zwölf zentralen Regelungen der Gesetzesrevision beauftragt.
Zu den Resultaten der RFA zur Totalrevision VVG vgl. den Artikel von Gardiol und Gehrig auf S. 48 ff. in dieser Ausgabe. Der Schlussbericht wurde im Oktober 2010 durch das EFD veröffentlicht. Die der Überarbeitung der Versicherungsvermittlung dienenden Resultate des Projekts «Vertriebsregeln» legte die Finma im November 2010 vor.

Das totalrevidierte Versicherungsvertragsgesetz


Der Gesetzesentwurf passt das Versicherungsvertragsrecht formal und inhaltlich an die veränderten Gegebenheiten an. Äusserlich erhält das VVG einen zeitgemässen, übersichtlichen und den gewandelten Marktbedürfnissen angepassten Aufbau. Mit den inhaltlichen Anpassungen sollen zwischen den Vertragsparteien gleich lange Spiesse geschaffen werden, was schwergewichtig – aber keineswegs ausschliesslich – einhergeht mit einer Verbesserung der Stellung des Versicherungsnehmers und der weiteren aus dem Versicherungsvertrag berechtigten Personen. Von den Änderungen erscheinen die folgenden besonders interessant:

Widerrufsrecht (Art. 7 f. E-VVG)


Bei Versicherungsverträgen handelt es sich vielfach um technische und komplexe Verträge, welche für die breite Masse nur schwer verständlich sind. Das Widerrufsrecht räumt dem potenziellen Versicherungsnehmer eine zweiwöchige Bedenkzeit ein und schützt ihn so vor einem unüberlegten, für ihn nachteiligen Vertragsabschluss. Das Widerrufsrecht dient der freien und unbeeinflussten Willensbildung und liegt damit letztlich auch im wohlverstandenen Interesse der VU. Ausgeschlossen ist das Widerrufsrecht einzig bei kollektiven Personenversicherungen, vorläufigen Deckungszusagen sowie Versicherungsverträgen mit einer Laufzeit von weniger als einem Monat. Damit geht der Vorschlag weiter als die einschlägigen Richtlinien der EU, die ein solches Widerrufsrecht nur für Lebensversicherungen sowie für im Fernabsatz geschlossene Schadenversicherungsverträge vorsehen.

Vorvertragliche Informationspflicht des VU (Art. 12 ff. E-VVG)


Die VU werden verpflichtet, die Versicherungsnehmer über die wichtigsten Vertragsinhalte unaufgefordert, transparent und verständlich aufzuklären. Die im VVG bereits bestehenden Informationspflichten wurden massvoll ergänzt und in einem Katalog abschliessend aufgeführt. Ein nicht abschliessender Katalog hätte vielleicht mehr Flexibilität für künftige Entwicklungen geboten, bei der Auslegung aber zu Unsicherheiten geführt. Besonders wichtig sind die Informationspflichten bei der Lebensversicherung, wo erhebliche finanzielle Interessen im Spiel sind. Die Grundsätze der Überschussermittlung und zuteilung, den Rückkauf und die Umwandlung und die in die Prämie eingerechneten Kosten für Risikoschutz, Vertragsabschluss und -verwaltung müssen bei Lebensversicherungen daher vor Vertragsschluss bekannt gegeben werden.

Vorvertragliche Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers (Art. 15 ff. E-VVG)


Die Anzeigepflicht dient dem VU, sich ein Bild des zu übernehmenden Risikos zu machen und gestützt darauf die Prämie zu berechnen. Der Antragsteller ist daher verpflichtet, die ihm bekannten erheblichen Gefahrstatsachen (vertragsrelevante Informationen) offen zu legen. Bei den Rechtsfolgen wegen Verletzung der Anzeigepflicht wurde mit der Teilrevision im Jahre 2007 das geltende «Alles-oder-nichts-Prinzip» teilweise überwunden: Die Leistungspflicht des VU erlöscht nur, wenn zwischen Anzeigepflichtverletzung und Versicherungsfall ein Zusammenhang besteht. Die Regelung in der Vernehmlassung ging vorerst noch einen Schritt weiter und wollte für das Erlöschen der Leistungspflicht des VU Absicht oder zumindest Grobfahrlässigkeit verlangen. Da ein derart qualifiziertes Verschulden aber kaum zu beweisen wäre, würden Anzeigepflichtverletzungen der Versicherungsnehmer faktisch ohne Folge bleiben. Dem trägt der Entwurf des Bundesrates Rechnung: Die Rechtsfolgen einer Anzeigepflichtverletzung sollen vom jeweiligen Verschulden abhängig sein, welches auch in leichter Fahrlässigkeit bestehen kann. Sie werden somit gleich geregelt wie bei den verwandten Tatbeständen der Gefahrserhöhung sowie der Obliegenheitsverletzung. Ursprünglich war eine neue Verwirkungsfrist des Kündigungs- und Leistungsverweigerungsrechts vorgesehen. Eine Anzeigepflichtverletzung wird indes in der Praxis oft erst im Versicherungsfall – und damit vielfach Jahre nach Vertragsabschluss – entdeckt. Vor allem bei der Lebensversicherung wäre damit eine Regelung der Anzeigepflichtverletzung faktisch wirkungslos. Die Verwirkungsfrist wurde daher fallen gelassen.

Kündigung des Versicherungsvertrages (Art. 52 / 106 E-VVG)


Es wird – wie im Vertragsrecht üblich – nun auch für Versicherungsverträge ein ordentliches Kündigungsrecht eingeführt, das erstmals nach drei jahren ausgeübt werden kann. Für Lebensversicherungen gilt eine kürzere Kündigungsfrist von einem Jahr. Ein ordentliches Kündigungsrecht erweist sich als gangbarer und ökonomisch sinnvoller Kompromiss zwischen den verschiedenen Interessen. Seine Einführung ermöglicht es auch, das geltende Kündigungsrecht im Schadenfall zu streichen. Ein Verzicht auf das ordentliche Kündigungsrecht bei der Krankenzusatz- und der Krankentaggeldversicherung drängt sich indessen nicht auf. Es bestehen keine Anzeichen, dass es von den VU in diesen Bereichen missbräuchlich ausgeübt wird, weshalb nicht ohne Not in die Vertragsfreiheit eingegriffen werden soll.

Verjährung (Art. 64 E-VVG)


Auch bei der Verjährung wird der Versicherungsvertrag den allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts angepasst. So sollen Forderungen auf Versicherungsleistungen künftig erst 10 (statt 2) Jahre nach Eintritt des befürchteten Ereignisses verjähren. Eine kürzere Frist wäre mit Hinblick auf Spätschäden nicht angemessen. In der Praxis bestünde bei einer Frist von beispielsweise 5 Jahren auch die Gefahr, dass der Versicherungsschutz nach Ablauf dieser Frist nicht mehr besteht, der Haftpflichtige aber weiterhin für den Schaden haften muss. Sind periodische Versicherungsleistungen – etwa Renten – geschuldet, verjährt die Gesamtforderung 10 Jahre nach Eintritt des befürchteten Ereignisses.

Maklerentschädigung (Art. 66 E-VVG / Art. 45a E-VAG)


Bei der Suche nach einer Versicherungslösung kann ein Kunde entweder einen Makler mit seinen Interessen gegenüber den VU beauftragen, oder er wendet sich direkt an deren Aussendienst, d.h. einen Agenten. In der Praxis ist die Unterscheidung zwischen Maklern und Agenten aber nicht immer klar, da Mischformen existieren. Mit der vorliegenden Regelung soll eine klare Zweiteilung des Vermittlermarktes zwischen Versicherungsmaklern und Versicherungsagenten erreicht werden. Vermittler werden künftig privatrechtlich so getrennt, dass sie entweder mit einem VU oder einem Versicherungsnehmer verbunden sind. Was die Entschädigung der Makler angeht, so ist dem heutigen Courtagensystem ein Interessenkonflikt inhärent. Die Makler stehen – im Gegensatz zum Agenten – wegen des Auftragsverhältnisses zu ihren Klienten in einer Treuepflicht und sind daher verpflichtet, deren Interessen gegenüber der Versicherung wahrzunehmen. Gleichzeitig werden sie aber durch das VU für ihre Vermittlungstätigkeit (aus der durch den Versicherungsnehmer entrichteten Prämie) bezahlt. Dies führt zu einem Konflikt zwischen dem Interesse des Kunden an einem für ihn optimalen Vertrag und dem Interesse des Maklers an einer möglichst hohen Entschädigung. Dieser Konflikt lässt sich – etwa mit einem Courtagenverbot für Makler – ohne weitreichende Folgen für die heutigen Marktstrukturen nicht beseitigen. Er soll aber insofern entschärft werden, als den Maklern eine weitgehende Informationspflicht über ihre Vergütungen auferlegt wird. Durch diese Offenlegung wird sichergestellt, dass der Kunde die Tragweite des Interessenkonflikts erkennen und bei seinem Entscheid über die Wahl des VU und des Versicherungsprodukts einbeziehen kann. Was die Agenten betrifft, so stehen diese allein zum VU in einem Vertrags- und Treueverhältnis. Dies ist dem Versicherungsnehmer bekannt; eine Offenlegungspflicht für Entschädigungen von Agenten rechtfertigt sich von daher nicht. Im Gegensatz zu den normalen Courtagen stellen die sogenannten Contingent Commissions ein zusätzliches Entgelt dar, welches das VU dem Makler für die Erfüllung vereinbarter Ziele verspricht. Die Contingent Commissions basieren beispielsweise auf Volumen, Wachstum oder Schadensbelastung und setzen die Makler noch stärkeren Anreizen aus, als dies mit den ordentlichen Courtagen der Fall ist. Der Brokerverband der grössten Brokerhäuser in der Schweiz, die Swiss Insurance Brokers Association (Siba), sieht denn auch in ihren Richtlinien einen Verzicht ihrer Mitglieder auf solche Zusatzentschädigungen vor. Sie sollen nach dem Vorschlag des Bundesrates verboten werden.

Ausblick


Die Botschaft geht nun an die eidgenössischen Räte. Man darf gespannt sein, wie das neue Gesetz in den Beratungen aufgenommen wird. Wenn es nach seiner Inkraftsetzung wieder 100 Jahre lang Bestand haben sollte, wären die Erwartungen sicherlich erfüllt.

Zitiervorschlag: Bruno Dorner, Marcel Wendelspiess, (2011). Die Revision des Versicherungsvertragsgesetzes. Die Volkswirtschaft, 01. September.