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Krise kann ein produktiver Zustand sein

Krise kann ein produktiver Zustand sein

Seit 50 Jahren liefert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit ihren Studien und Berichten die analytische Basis für politische Entscheide. Unter dem Eindruck der jüngsten Wirtschaftskrise möchte der OECDGeneralsekretär, Angel Gurría, den 50. Geburtstag der Organisation auch dazu nutzen, die Modelle und Grundannahmen der Vergangenheit kritisch zu hinterfragen und auf ihre Zukunftstauglichkeit hin zu prüfen. Zudem zeigt er im folgenenden Artikel auf, welchen konkreten Nutzen ein Land wie die Schweiz aus der OECD-Mitgliedschaft ziehen kann.

Ausgerechnet der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der in diesem Mai 100 Jahre alt geworden wäre, wird seit Beginn der Wirtschafts-und Finanzkrise oft zitiert: «Krise ist ein produktiver Zustand», bemerkte er einmal lakonisch. «Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.» Blickt man auf die jüngste wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz, dann scheint Frischs Rezept durchaus aufzugehen: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) zieht seit 2010 kräftig an; die Arbeitslosigkeit – im OECD-Vergleich ohnehin niedrig – sinkt weiter, und die Exporte – durch den stärker werdenden Schweizer Franken unter Druck – stagnieren zwar, sind aber bisher noch nicht eingebrochen. So glimpflich wie die Schweiz sind freilich nicht alle Länder der OECD durch die Krise gekommen.

Marschhalt nach 50 Jahren wirtschaftspolitischer Beratung


Wir in der OECD wollen unseren 50. Geburtstag in diesem Jahr dazu nutzen, nicht nur unsere Erfolge zu feiern. Dazu zählen etwa jene in der internationalen Standardsetzung – z.B. die Anti-Bribery-Konvention, die internationale Anwendung des Verursacherprinzips und das Globale Forum für Transparenz und Informationsaustausch in Steuerfragen – oder unsere Pfadfinder-Rolle in der evidenzbasierten Politikberatung durch international vergleichende Studien (wie z.B. Pisa). Zu den Aktivitäten im Jubiläumsjahr gehört auch, unsere Modelle und Grundannahmen kritisch zu hinterfragen und für die nächsten 50 Jahre zukunftsfest zu machen.Wenn wir die finanziellen und wirtschaftlichen Turbulenzen produktiv nutzen und – noch wichtiger – einen neuen Crash vermeiden wollen, sollten wir uns eine Reihe von Fragen stellen: Warum konnten wir die Krise nicht abwenden? Sind unsere ökonomischen Theorien, unsere Modelle und Grundannahmen noch zeitgemäss? An welchen Stellschrauben müssen wir drehen, um unser Mandat – «bessere Politik für bessere Leben» – zu erfüllen? Klar ist nur eines: Wirtschaftswachstum allein ist nicht die Antwort. Wir müssen die Entwicklung unserer Gesellschaften ganzheitlich beurteilen. Eine umfassende Betrachtung aber erfordert, die Perspektive zu erweitern und gegebenenfalls zu wechseln. Sie macht es nötig, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und manchmal auch liebgewonnene Überzeugungen über Bord zu werfen.Die Herausforderungen sind komplex, und viele von ihnen lassen sich in der Gemeinschaft und im freundschaftlichen Vergleich besser schultern als allein: Klimawandel, Jugendarbeitslosigkeit, wachsende gesellschaftliche Ungleichheit und leere Staatskassen verlangen nach innovativen Lösungen. Das Wachstumsmodell der Zukunft muss verantwortungsvoll mit unseren natürlichen Ressourcen umgehen. Es muss dafür sorgen, dass der zusätzliche Reichtum nicht nur bei Wenigen ankommt. Und wir wären gut beraten, auch die menschlichen Ressourcen klüger zu nutzen und einen Ausgleich der Geschlechter und Generationen zu fördern.

Neue Quellen des Wachstums als Wege aus der Krise


In Zeiten hoher Budgetdefizite und hoher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig moderatem bis schwachen Wachstum in den meisten Ländern Europas empfiehlt die OECD einen Policy-Mix, der sich auf neue Quellen des Wachstums konzentriert: Innovation, Green Growth und verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung von Bildung und Qualifikation. Wir haben daher konkrete Politikempfehlungen in einer Innovationsstrategie und einer Green-Growth-Strategie zusammengefasst. Als dritte Säule werden wir im nächsten Jahr eine Skills-Strategie vorlegen, die untersuchen wird, welche Fähigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft hoch entwickelter Volkswirtschaften erforderlich sind und dazu Politikempfehlungen abgeben. Sie wird auch notwendige Rahmenbedingungen und Politiken für lebenslanges Lernen und lebenslange Qualifizierung beleuchten. Ergänzt wird dies durch unser Flaggschiff-Projekt zur Chancen- und Partizipationsgleichheit von Frauen und Männern: Women Economic Empowerment – Employment, Entrepreneurship, Education. Um diese neuen Quellen des Wachstums zu erschliessen, sind in vielen Ländern konkrete Strukturreformen notwendig (Going structural). Mindestens ebenso viel Augenmerk muss aber auf soziale Veränderungen gelegt werden, etwa durch eine gezielte Förderung für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft (Going social). Die OECD liefert mit ihren Studien und Berichten die analytische Basis für politische Entscheidungen. Publikationen wie die Pisa-Studie, Gesellschaft auf einen Blick, der Beschäftigungsausblick oder Babies and Bosses haben unsere Organisation zu einem wichtigen Verbündeten für all jene werden lassen, denen an Chancengleichheit, Sozialpolitik und der Schaffung von Arbeitsplätzen gelegen ist.

Grosser Nutzen für die Schweiz


Die Schweiz profitiert von diesen Bestrebungen auf vielerlei Weise. So veröffentlicht die OECD gemeinsam mit der WHO demnächst eine detaillierte Studie, wie die Kosten des Gesundheitswesens gedämpft werden können, ohne dessen Qualität zu gefährden. Unser letzter Wirtschaftsbericht zur Schweiz zeigt auf, was zur Dämpfung der vergleichsweise hohen Wohnkosten getan werden kann. Im internationalen Vergleich wird deutlich, dass hier noch grosses Verbesserungspotenzial vorhanden ist. Im Jahr 2010 haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie die Schweiz ihre aktive Unterstützung der Arbeitslosen optimieren kann – auch in diesem Bereich gilt es, den erheblichen Ressourceneinsatz effizient zu gestalten. Die vergleichende Perspektive und die Bereitstellung der dafür notwendigen Daten schaffen Möglichkeiten, Verbesserungspotenziale zu finden.Andere Empfehlungen betreffen die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und Stabilität des Landes. Hatte die Schweiz in den 1990er-Jahren eine anhaltende Wachstumsschwäche durchschritten, konnte in der Folge das Wachstumspotenzial der Schweiz mit Strukturreformen gestärkt werden. Die OECD hat hierfür zum Beispiel detaillierte Empfehlungen gemacht, wie der Wettbewerb in den am heimischen Markt orientierten Branchen gestärkt werden kann, die nicht im globalen Wettbewerb stehen. Die Empfehlungen betrafen etwa die Regulierung der Netzindustrien wie Energie und Telekommunikation, die Verbesserung des Wettbewerbsrechts und den Strukturwandel in der Landwirtschaft. Zudem haben wir bereits 2009 darauf hingewiesen, dass im Schweizer Bankensektor – insbesondere bei den Grossbanken – finanzielle Risiken bestehen. Bei der Umsetzung dieser Empfehlungen steht die OECD der Schweiz zur Seite.Unsere Studien belegen, wie Reformen das Wachstum stärken können. In vielen dieser Bereiche ist die Schweiz den Empfehlungen zumindest teilweise gefolgt. Diesem wichtigen Reformprozess dürfte auch zu verdanken sein, dass der zunehmende Rückstand der Schweiz im Produktivitätsfortschritt gegenüber den leistungsfähigsten Volkswirtschaften der OECD in den letzten Jahren gestoppt scheint. Doch die Schweiz könnte hier noch weiter aufholen. Wir werden weiter darauf hinweisen, in welchen Bereichen zusätzliche Reformen nützlich sein dürften.

Eine Brücke zwischen den OECD- und den G20-Ländern


Auch die wichtigsten Handelspartner der Schweiz sind OECD-Mitglieder. Die Organisation schafft mit ihren Foren die Möglichkeit für die Schweiz, sich mit den Partnerländern über wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklungen auszutauschen. Die grossen Schwellenländer sind zunehmend wichtiger geworden: Unsere Arbeiten zur Aussenhandelsverflechtung zeigen, dass die Schweiz nach China und Finnland das Land mit dem grössten Anteil von Exporten ist. Die verstärkte Zusammenarbeit der OECD mit den Schwellenländern bringt der Schweiz einen ganz konkreten Nutzen: Wirtschaftpolitischer Austausch und Dialog zwischen der OECD und China in immer mehr Politikbereichen kann den dynamischen Aussenhandel der Schweiz mit diesen Staaten weiter fördern.Nicht zu unterschätzen ist auch die Mittlerrolle der OECD zwischen der Schweiz und anderen Mitgliedern zu den Ländern der G20. Die OECD sitzt als Internationale Organisation bei der G20 mit am Tisch und spielt eine aktive Rolle in der Vorbereitung, wenn die G20 über Rahmenbedingungen für starkes, nachhaltiges und balanciertes Wachstum, über Handel und Investitionen, Arbeitsmarkt, Kapitalflüsse und Steuern oder über die Abschaffung der Zuschüsse für fossile Brennstoffe diskutieren. Die OECD ist ein wichtiger Kanal für die Schweiz, um die Entwicklungen und Diskussion auf Ebene der G20 mitzuverfolgen und die globale Agenda mitzubestimmen.Und diese Verbindung wird immer bedeutender: Der wirtschaftliche Schwerpunkt verlagert sich mehr und mehr in die aufstrebenden Volkswirtschaften, allen voran nach Brasilien, Indien und China. Diese Länder sind es, die heute das globale Wachstum antreiben. Über Jahrzehnte machten OECD-Mitglieder ungefähr 70% des weltweiten BIP aus; inzwischen ist ihr Anteil auf 60% geschrumpft – Tendenz fallend. Die modernen Industrienationen tun also gut daran, sich mit den Positionen der Schwellenländer auseinanderzusetzen und sie verstärkt in ihre eigene Zusammenarbeit einzubinden. Die OECD wird dieser Zusammenarbeit bei der Fortentwicklung der vom OECD Ministerrat indossierten Development-Strategie besonderes Augenmerk widmen. Von diesem Prozess profitieren beide Seiten: Unsere Standards und Erfahrungen können die Entwicklung der aufstrebenden Volkswirtschaften befruchten; wir wiederum können uns von anderen Entwicklungspfaden, Erfahrungen und Sichtweisen inspirieren lassen.

Wachstum, Wohlstand und Gemeinwohl gehen Hand in Hand


In der Schweiz hat die OECD einen Partner, der sich für faire und offene Märkte, für Wettbewerb und Innovationen einsetzt. Einen Partner, der weiss, dass die klassischen Voraussetzungen für erfolgreiches Wachstum immer noch relevant sind, dass sie aber kein Selbstzweck sind. Mit ihrer Hilfe müssen wir das schaffen, was die Menschen am dringendsten brauchen: Arbeit, Bildung, Gesundheit und eine lebenswerte Umwelt. Diese Dinge bestimmen den Fortschritt in einem Land mindestens ebenso wie wirtschaftliches Wachstum. Daher ist die OECD seit über einer Dekade Pfadfinder für Modelle der Messung gesellschaftlichen Fortschritts, die über die reine Betrachtung des BIP-Wachstum hinausgehen. Unser im Mai eröffnetes Webportal Your Better Life Index zeugt davon. Es bietet den Menschen die Möglichkeit, ihre Lebensbedingungen mit jenen in 34 OECD-Ländern zu vergleichen und ihre persönlichen Prioritäten in den Vergleich einzubringen. Indem wir nicht nur Wirtschaftsindikatoren auswerten, sondern auch fragen, was dem Durchschnittsbürger wichtig ist, ändern wir die Art, wie gesellschaftlicher Fortschritt gemessen und wie Politik gemacht wird. Und das ist es, was am Ende zählt: dem Wohlergehen der Menschen zu dienen – nicht an ihnen vorbei, sondern mit ihnen.

Zitiervorschlag: Angel Gurria (2011). Krise kann ein produktiver Zustand sein. Die Volkswirtschaft, 01. September.