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Grundversorgung mit öffentlichem Verkehr in der Schweiz

Der Bundesrat lehnte es im August 2011 ab, eine Verfassungsbestimmung zur Grundversorgung zu schaffen, weil diese meist genügend geregelt sei. Tatsächlich sind heute Grundversorgungsziele in den Bereichen Telekommunikation, Strom oder Post konkret formuliert. Im öffentlichen Verkehr (ÖV) trifft dies jedoch weniger zu. Stattdessen werden im ÖV mehrere Ziele gebündelt, ohne sie konkret zu definieren: Grundversorgung, Verkehrsverlagerung und Standortpolitik. Dadurch wird die Steuerung, Erfolgskontrolle und effiziente Zielerreichung erschwert. Der vorliegende Artikel legt die Konsequenzen dar und zeigt mögliche Ansätze für eine explizite Grundversorgungsdefinition auf.
Dieser Artikel fasst die Resultate der folgenden Studie zusammen: Peter M., Bertschmann-Aeppli D., Zandonella R., von Stokar T., Wanner K. (2011): Produktivität und Finanzierung der Verkehrsinfrastrukturen, Grundversorgung mit öffentlichen Verkehr. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO, Strukturberichterstattung Nr. 48/2, Bern

Grundversorgung ist ein politisches Ziel


Es gibt keine allgemeingültige Definition, welche Grundbedürfnisse die öffentliche Hand über eine Grundversorgung befriedigen soll. Das Ausmass der Grundversorgung ist vom gesellschaftlichen Kontext abhängig und unterliegt entsprechend einem gesellschaftlichen Wandel. Daher muss die Politik definieren, was Grundversorgung ist. Aus ökonomischer Sicht ist es kaum möglich, das optimale Grundversorgungsniveau herzuleiten. Es kann aber beurteilt werden, ob die angestrebte Grundversorgung effizient erreicht wird.

Definition im öffentlichen Verkehr


Die Bundesverfassung erwähnt die Grundversorgung in Art. 43a, Abs. 4. Dieser besagt, dass Leistungen der Grundversorgung allen Personen in vergleichbarer Weise offen stehen müssen. Konkreter wird der Bundesrat in seinem Bericht zur Grundversorgung aus dem Jahr 2004. Darin definiert er den oft synonym verwendeten Begriff «Service Public» folgendermassen: «Service Public umfasst eine politisch definierte Grundversorgung mit Infrastrukturgütern und Infrastrukturdienstleistungen, welche für alle Bevölkerungsschichten und Regionen des Landes nach gleichen Grundsätzen in guter Qualität und zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht.»
Vgl. Bundesrat (2004).Im Lichte dessen, was als Grundversorgung thematisiert werden kann, wird der Begriff hier enger gefasst. Es geht zum einen um Dienstleistungen in Sektoren, in denen die Produktionsverhältnisse lange für einen Monopolanbieter sprachen; der Individualisierung solcher Angebote sind angesichts ihres Kollektivgutcharakters Grenzen gesetzt. Zum anderen geht es um Dienstleistungen, bei denen gesellschaftlich ein Konsens darüber besteht, dass die Bevölkerung Anspruch auf eine minimale Versorgung hat. Daraus ergibt sich ein Bedarf, politisch festzulegen, wie weit reichend das Angebot sein soll und wer wie viel zu dessen Finanzierung beizutragen hat.

Global- statt Detailsteuerung im öffentlichen Verkehr


Welches Angebot die Grundversorgung im ÖV auf Strasse und Schiene umfasst, definiert die erwähnte Ausführung des Bundesrates nicht – und zwar weder in Bezug auf den Infrastrukturausbau noch auf die Dichte des ÖV-Angebots. In der politischen Diskussion wird Grundversorgung mit ÖV denn auch sehr unterschiedlich verstanden. Oft wird darunter alles subsummiert, was nicht kostendeckend angeboten werden kann. Dabei wird vernachlässigt, dass eine Angebotsausweitung des ÖV selten der elementaren Versorgung der Bevölkerung mit Mobilität dient. Kostenunterdeckungen resultieren oft aus Angeboten mit anderer politischer Zielsetzung. Hierzu gehören beispielsweise Umweltschutzargumente. So wurden etwa in den 1980er-Jahren unter dem Eindruck des Waldsterbens die Fahrpläne des ÖV aus Umweltgründen verdichtet und die Tarife verbilligt. Angebotsausweitungen werden oft auch mit dem Ziel gefordert, die lokale oder regionale Standortattraktivität zu erhöhen.

Heutige Regulierung über Bestellprinzip ist akzeptiert und erfolgreich …


Relevant für die Grundversorgung im Bereich Mobilität sind die Strassen- und Schieneninfrastruktur sowie der Betrieb des ÖV. Die Regulierungslogik ist jedoch bei der Strasseninfrastruktur eine andere als bei der Schieneninfrastruktur sowie beim ÖVBetrieb.Bei der Strasseninfrastruktur sind die Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen/Gemeinden seit 2008 mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) klar aufgeteilt: Der Bund ist für die Nationalstrassen zuständig, die Kantone und Gemeinden für die übrigen Strassen. Die Bundesbeteiligung an den Kosten der Strasseninfrastrukturen in Kantons- und Gemeindebesitz erfolgt über den Finanzausgleich und ist unabhängig von konkreten Projekten. Mit Ausnahme der kantonalen Motorfahrzeugsteuern gehen die Abgaben und Steuern der Strassennutzer weitgehend direkt an den Bund.Bei Schieneninfrastruktur und ÖV-Betrieb existiert keine klare Unterteilung der Netze bzw. Verkehrsleistungen. Bund und Kantone sind gemeinsam zuständig. Daher bezieht sich die Finanzierung immer auf konkrete Objekte, wie beispielsweise die Finanzierung eines Netzausbaus oder des Betriebs eines bestimmten Verkehrsangebotes. Die Verkehrsdienstleistungen werden von Bund und Kantonen bestellt und die erwarteten ungedeckten Kosten abgegolten.Grundsätzlich ist das heutige Bestellprinzip im ÖV breit akzeptiert und erfolgreich. Zudem hat es etliche Vorteile. Wenn gemäss Bestellprinzip die Transportunternehmen um ausgeschriebene Bestellungen untereinander direkt oder indirekt (durch Benchmarking) in Konkurrenz stehen, wird – im Gegensatz zur früheren Defizitdeckung – die unternehmerische Initiative gestärkt und es ergeben sich Anreize zu Effizienzsteigerungen. Gleichzeitig fördert das Bestellprinzip eine verantwortungsbewusste Regierungsführung, indem die öffentliche Hand darlegen muss, welches Angebot sie bereitgestellt sehen will. Die Steuerung erfolgt durch den politischen Prozess und wird ergänzt mit Controlling-Funktionen der öffentlichen Hand (Ausschreibungen, Benchmarking verschiedener Transportunternehmen usw.).

… hat aber mit ihren Anreizwirkungen auch Risiken


Während im Strassenbereich das Nationalstrassennetz im Jahr 1960 definiert wurde und seither in Bau ist, besteht kein entsprechender Plan für ein Hauptschienennetz.
Im Rahmen der Bahnreform 2 strebte der Bund eine klare Netzaufteilung in Haupt- und Nebennetz und somit eine regulatorische Gleichbehandlung für die SBB und die KTU an, scheiterte mit den Plänen jedoch im Parlament. Vielmehr existieren verschiedene Finanztöpfe, aus denen diejenigen Projekte finanziert werden, welche die Politik als die wichtigsten erachtet. Bei Ausbauten wurden die für den Erhalt des geschaffenen Netzes nötigen Aufwendungen tendenziell unterschätzt.
Dieser Fehlanreiz wird in den aktuell diskutierten Vorschlägen zur Finanzierung und zum Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi) angegangen. Zudem werden Ausbauten aus politisch definierten Finanztöpfen finanziert, der Unterhalt des Netzes jedoch bisher nicht. Die Bevorzugung von Netzerweiterungen gegenüber dem Substanzerhalt wird unterstützt durch die nachfrageorientierte Bestellung des Regionalverkehrs. Weite Teile des Regionalverkehrs wären ohne Bestellung der öffentlichen Hand defizitär. Die öffentliche Hand orientiert sich bei ihrem Engagement im ÖV-Betrieb an der Nachfrage der Bevölkerung und weniger an den Kosten.
Je höher die Nachfrage, desto höher ist die Anzahl Kurspaare, die der Bund mitfinanziert (bis zu einer definierten Gesamtsumme pro Jahr). Wird die Mindestnachfrage von 32 Personen pro Tag auf einer Linie erreicht, unterstützt der Bund ein minimales ÖV-Angebot von vier Kurspaaren. Gemäss Praxis des Bundes werden auf einer Linie nicht mehr als 100 Kurspaare pro Tag vom Bund mitfinanziert. Dies bedeutet von 5h bis 24h Viertelstundentakt und in den Hauptverkehrszeiten (6h) 7,5-Minuten-Takt. Da die ÖV-Nutzer nicht die vollen Kosten tragen müssen, fällt die Nachfrage in der Regel höher aus, als volkswirtschaftlich optimal wäre. Bei der Infrastrukturbenutzung wirken zwar die Trassenpreise nach der angedachten Reform (Fabi) durchaus steuernd. Der Besteller (z.B. ein Kanton) trägt jedoch weiterhin nicht die vollen Kosten und kann verleitet sein, eine aus Sicht der Kostenwahrheit volkswirtschaftlich zu hohe Nachfrage anzumelden.
Über die Kantonsquoten, die zeigen, welchen Teil der Kosten nicht vom Bund, sondern von den Kantonen selbst getragen werden muss, wird dieses Risiko abgefedert. Wenn durch den zu hohen Verkehrskonsum teure Erweiterungsausbauten notwendig werden, die bei einer vollen Kostenanlastung nicht nötig wären, verschlechtert sich die Kostensituation weiter.Dieses Risiko einer sich gegenseitig antreibenden Nachfrage- und Angebotssteigerung im ÖV und somit eines wachsenden Finanzbedarfs der öffentlichen Hand liesse sich begrenzen, wenn das Grundversorgungsziel – und evtl. auch die anderen Ziele – explizit beschrieben und die damit verbundenen Kosten für die öffentliche Hand und die Bevölkerung sichtbar gemacht würden. Namentlich sollte klargestellt werden, welche Kosten den Bundesaufgaben zuzuordnen sind (Grundversorgung, Umwelt) und welche eher in der regionalen Verantwortung der Kantone/Gemeinden liegen (lokale Standortattraktivität).

Mögliche Definitionen von Mobilitätsgrundversorgung


Wir betrachten im Folgenden drei Ansätze, die Grundversorgung explizit definieren.− Erreichbarkeitsziele (Variante 1): Es wird definiert, innerhalb welcher Zeit das nächste Zentrum und Zentren untereinander mit dem ÖV erreicht werden sollen. Die Erreichbarkeiten können in Abhängigkeit der Fahrzeit zum nächsten Zentrum gemäss Fahrplan, anhand der durchschnittlichen Fahrzeiten vom Entschluss zu einer Fahrt bis zur Ankunft (inkl. durchschnittlicher Wartezeiten für die nächste Verbindung am Abfahrtsort), gemäss der Zentrumsstruktur einer Region oder mittels komplexerer Indizes definiert werden.− Basismobilität (Variante 2): Es wird eine Spannbreite der Anzahl Verkehrsverbindungen definiert (z.B. bis zu 18 Verbindungen pro Tag), innerhalb welcher sich das Grundversorgungsangebot bewegt. Die genaue Anzahl Verbindungen für eine Ortschaft kann in Abhängigkeit der Einwohner, der Distanzen zum nächsten Zentrum oder anhand komplexerer Indizes festgelegt werden. Die benötigte Zeit zur Erreichung des Zentrums steht – im Gegensatz zum Erreichbarkeitsziel – nicht mehr im Vordergrund.− Basisinfrastruktur (Variante 3): In dieser Definition umfasst die Grundversorgung nur die Bereitstellung einer Verkehrsinfrastruktur. Ziel ist die Regulierung der Verkehrsinfrastruktur als natürliches Monopol. Der Betrieb des ÖV auf der bereitgestellten Infrastruktur muss selbstragend sein. Die Transportunternehmen müssen dabei die Grenzkosten der Infrastrukturnutzung bezahlen. Für Personen, die den motorisierten Individualverkehr nützen können, ist damit eine Grundmobilität gewährleistet. Um auch Jugendlichen oder Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung eine Basismobilität auf der regulierten Infrastruktur zu ermöglichen, erhält jede Gemeinde pro betroffene Person einen fixen Betrag. Mit diesem kann sie entweder ÖV bestellen oder das Geld den Betroffenen z.B. als Taxigutscheine weiterleiten.Aus den drei Varianten ergibt sich eine Grundversorgung an öffentlichem Verkehr, die deutlich tiefer liegen würde als das heutige Angebot. Daraus ist aber nicht unmittelbar zu schliessen, dass das Gesamtangebot stark zu reduzieren wäre. Bund, Kantone und Gemeinden sind frei, aus allgemeinen umwelt- oder regionalpolitischen Zielsetzungen zusätzliche Dienstleistungen des ÖV zu bestellen. Das bisher erfolgreiche und etablierte Instrument der Bestellung soll nicht in Frage gestellt werden. Die explizite Formulierung des Grundversorgungsziels (in welcher Form auch immer) ermöglicht aber eine bessere politische Steuerung und Erfolgskontrolle in der Grundversorgung und macht deutlich, dass – abhängig von der Definition der Erreichbarkeit, resp. der Basismobilität – nicht die gesamten Ausgaben der öffentlichen Hand im öffentlichen Verkehr auf das Ziel der Grundversorgung zurückgeführt werden können.

Wirkungsanalyse am Beispiel des Kantons Thurgau


Am Beispiel des Kantons Thurgau wurde die Auswirkung der beispielhaften Grundversorgungsdefinitionen analysiert. Tabelle 1 bildet die dabei unterstellten Grundversorgungsziele der Variante 1 (Erreichbarkeitsziel) und der Variante 2 (Basismobilität) ab. In der Variante 3 (Basisinfrastruktur) werden nur Verkehrsdienstleistungen angeboten, welche unter den Rahmenbedingungen dieser Variante am Markt betriebswirtschaftlich rentabel sind; die öffentliche Hand bestellt keine Verkehrsleistungen zur Deckung der Grundversorgung.Die Grafik 1 zeigt, dass die verschiedenen Grundversorgungsdefinitionen im Vergleich zu heute zu einem deutlich geringeren Angebot mit reduzierten Kosten für die öffentliche Hand führen. Die angebotenen Kurskilometer liegen um mindestens 56%, die Grundversorgungskosten um mindestens 38% niedriger. Die beispielhaften Berechnungen zeigen, dass die Kosten für die öffentliche Hand im ÖV deutlich unter dem heutigen Niveau liegen würden, falls die Grundversorgung nach dem Prinzip einer Mindestmobilität (Varianten 1–3) definiert wäre. Dieses Ergebnis kann als Diskussionsgrundlage dienen, um zu bestimmen, ob die weiteren Ziele der öffentlichen Hand im ÖV (Umwelt, Regionalpolitik, lokale Standortattraktivität) die Kostendifferenz und die Unterschiede im Verkehrsangebot rechtfertigen. Zudem kann einfacher ermittelt werden, ob diese Zusatzkosten den Kantonen/Gemeinden oder dem Bund anzulasten sind.

Folgerungen und flankierende Massnahmen


Auf dem Weg zu einer transparenteren Grundversorgungsdiskussion und zu einem volkswirtschaftlich effizienten Niveau an öffentlichem Verkehr wäre es wünschenswert, das Grundversorgungsziel im ÖV explizit zu definieren. Zusammen mit flankierenden Massnahmen, welche in Richtung Kostenwahrheit gehen, könnten die angestrebten Grundversorgungsziele effizienter erreicht und überprüft werden. Zentrales Element der flankierenden Massnahmen sind verursachergerechte Preise für Infrastruktur und Betrieb. Die heutigen Bestrebungen für eine Neugestaltung der Trassenpreise hin zu kapazitätsorientierten Preisen gehen in die richtige Richtung; das Preisniveau ist aber noch nicht verursachergerecht. Eine explizite Grundversorgungsdefinition reduziert – zusammen mit den flankierenden Massnahmen – das Risiko des heutigen Systems, durch eine nachfrageorientierte Angebotsdefinition bei nicht kostendeckenden Tarifen im Regionalverkehr ein sich selbst verstärkendes Angebot im ÖV zu induzieren. Damit würden auch die umweltpolitischen und raumplanerischen Bestrebungen unterstützt, der Zersiedlung entgegen zu wirken und Wohnen und Arbeiten näher zueinander zu bringen. Transparentere Ziele in der Grundversorgung helfen somit auch, Zielsynergien und -konflikte mit anderen Politikbereichen sichtbar zu machen und aktiv anzugehen. Flankierend sollte das Controlling und Benchmarking bei der ÖV-Bestellung verstärkt werden. Um die Grundversorgungsziele besser diskutieren und überprüfen zu können, ist zudem eine klare Netzdefinition der Schiene in Haupt- und Nebennetz wie auf der Strasse zweckmässig.

Grafik 1: «Fallbeispiel Kanton Thurgau 2010: Die drei Grundversorgungsdefinitionen im Vergleich zu heute»

Tabelle 1: «Annahmen für Verbindungen im öffentlichen Verkehr in den drei Grundversorgungs-Varianten»

Kasten 1: Literatur

Literatur


− Bundesrat (2004): Bericht des Bundesrates «Grundversorgung in der Infrastruktur (Service Public)» vom 23. Juni 2004.− Bundesrat (2011): Keine neue, allgemeine Verfassungsbestimmung über die Grundversorgung, Medienmitteilung Bundesamt für Justiz, 17.8.2011.

Zitiervorschlag: Damaris Bertschmann-Aeppli, Martin Peter, Thomas von Stokar, Remo Zandonella, (2011). Grundversorgung mit öffentlichem Verkehr in der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.