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Die G20 und die Schweiz: Beidseitiger Bedarf des Dialogs

Mit der Schaffung der «Group of 20» (oder G20) anlässlich des Gipfeltreffens der Staatschefs in Washington 2008 wurde die Basis für eine neue weltwirtschaftliche Führung gelegt. Trotz mangelnder Repräsentativität und fehlender rechtlicher Grundlage erhebt die Organisation den Anspruch, das «wichtigste Forum für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit» zu sein. Nach den ersten, dringlichen Entscheiden in der damaligen Krisensituation hat die G20 zu einer strukturierteren Arbeitsweise gefunden. Angesichts dieser veränderten Ausgangslage musste sich die Schweiz als Nichtmitglied der G20 neu orientieren, um ihre wirtschaftlichen und finanziellen Interessen weiterhin aktiv verteidigen zu können sowie zur Lösung internationaler Probleme beizutragen.
Der vorliegende Artikel widerspiegelt die persönlichen Ansichten der Autorin und ist nicht verbindlich für die Position der schweizerischen Regierung. Der Artikel basiert auf den Arbeiten der Interdepartementalen Arbeitsgruppe IdaG20, die 2011 vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) präsidiert wird.

Strukturelle Entwicklung der G20: Vom Notfall zur Konsolidierung


Die G20
Die G20 umfasst 19 Staaten (Argentinien, Australien, China, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, die Türkei und die USA) sowie die Europäische Union (EU), die mit der jeweiligen Ratspräsidentschaft und der Europäischen Zentralbank vertreten ist. Seit Beginn nehmen auch der IWF und die Weltbank teil. Spezialisierte internationale Organisationen (OECD, ILO, WTO) sowie die UNO werden jeweils ad hoc eingeladen. Fünf weitere Einladungen werden im Rotationsprinzip an verschiedene Länder vergeben. in ihrer heutigen Form als Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs ist in der Wirtschaftskrise 2008 entstanden. Damals ging es darum, die dramatische wirtschaftliche und finanzielle Lage schnell und wirkungsvoll zu unter Kontrolle zu bringen. Die 2009 bei den Gipfeln von London und Pittsburgh beschlossenen Massnahmen zielten vor allem auf die budgetäre Ebene und die Regulierung der Finanzmärkte. Sie beeinflussten die Weltwirtschaft sowohl real – mit der Definition neuer Regeln – als auch qualitativ, indem sich die nationalen Wirtschaftspolitiken weitgehend an den Beschlüssen der G20 orientierten. Als konkrete Ergebnisse der G20 sind die Schaffung des Financial Stability Board (FSB)
Die Schweiz ist aktives Mitglied des FSB., die Rekapitalisierung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der multilateralen Entwicklungsbanken, die schwarze Liste der unkooperativen Steuerjurisdiktionen sowie die Regeln von Basel III zu nennen. Anfang 2011 haben sich die Finanzminister der G20 auf eine Reihe von makroökonomischen Indikatoren zur Messung der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte geeinigt.Schnell hat sich der Fokus innerhalb der G20 von rein wirtschaftlichen Anliegen hin zu einem globaleren Ansatz verschoben, der speziell die Anliegen der G8 umfasste. Die koreanische Präsidentschaft im Jahr 2010 – die erste eines Schwellenlandes – hat die thematische Ausweitung auf Bereiche wie Klimawandel und Entwicklungszusammenarbeit vorangetrieben. Die breite Agenda unter der französischen Präsidentschaft symbolisiert den Anspruch Frankreichs auf ein Führungsrolle in der internationalen Gemeinschaft und dürfte wohl einen Höhepunkt in der Entwicklung der G20 bilden. Es scheint hingegen, dass die anderen Mitgliedsländer eher eine engere thematische Ausrichtung und die Konzentration auf eine begrenzte Anzahl Themen anstreben.Die G20 muss sich im Umfeld des sich abspielenden strukturellen Wandels behaupten, in dem eine Konsensfindung der grössten globalen Player erschwert ist. Dennoch gelingt es ihr, den aktuellen Fragen zur globalen Wirtschafts- und Finanzpolitik eine klare Ausrichtung zu geben. Sie stützt sich dabei auf Mandate an internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF), das Financial Stability Board (FSB), die multilateralen Entwicklungsbanken, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Financial Action Task Force (FATF), die Internationale Energie-Agentur (IEA), die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) oder die Welthandelsorganisation (WTO).Die G20 ist zwar das zentrale Forum der Weltwirtschaftspolitik. Dennoch fehlt es ihr an Legitimität in Form einer rechtlichen Grundlage. Dieser Umstand wird dadurch verstärkt, dass einige geografische Regionen untervertreten sind (Afrika, Naher und Mittlerer Osten); auch die Schweiz als wichtiger internationaler Finanzplatz gehört nicht zu den Mitgliedern. Die G20 halten diesen Einwänden ihr wirtschaftliches und demografisches Gewicht entgegen (85% des Welt-BIP, zwei Drittel der Weltbevölkerung und 80% des Welthandels). Zudem betreiben sie eine aktive Öffnungspolitik in zweierlei Hinsicht: − Einerseits werden jeweils fünf Länder zu den Minister- und Gipfeltreffen eingeladen, die eine regionale oder thematische Gruppe bilden.− Andererseits sucht die Gruppe den Dialog mit Ländern ausserhalb der G20, mit je nach Thema variabler Geometrie. So waren am Gipfel in Cannes auf Einladung der französischen Präsidentschaft fünf ausgewählte Länder
Die fünf Länder – auch «Wild Cards» genannt – der französischen Präsidentschaft sind: die Vereinigten Arabischen Emirate als Präsidierende des Kooperationsrates der Golfstaaten (GCC), Spanien, Äthiopien als Präsidierende des Orientation Committee der Neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (Nepad), Singapur als Vertreterin der Global Governance Group (3G) sowie Äquatorialguinea als Präsidierende der Afrikanischen Union. vertreten, die an allen ministeriellen sowie technischen Treffen teilnahmen. Andere Nicht-Mitgliedsländer werden auch bei vorbereitenden Treffen mit einbezogen. Auf Anregung ihres Präsidenten Joseph Deiss hat die UNO-Vollversammlung ebenfalls einen Dialog mit den G20 aufgenommen.

Die schweizerische Strategie angesichts der Führungsrolle der G20


Aufgrund des zunehmenden Einflusses der G20 und einigen ihrer Entscheide
Zur Erinnerung: Einer der wichtigsten Entscheide der G20 war die Publikation einer von der OECD angefertigten «schwarzen Liste» der nicht kooperativen Steuerparadiese anlässlich des Gipfels in London im April 2009, auf der auch die Schweiz figurierte. In der Folge musste die Schweiz ihre Steuerpolitik in wesentlichen Punkten anpassen. hat sich die Schweiz um eine Mitgliedschaft bemüht. Dabei hat sie auf ihre grosse Bedeutung als Finanzplatz hingewiesen. Es hat sich jedoch schnell herausgestellt, dass die G20 keine neuen Mitglieder aufnehmen will, um nicht an Effizienz und Flexibilität einzubüssen. Auch die Überrepräsentation Europas und die schwache Stellung Afrikas innerhalb der Gruppe sprechen gegen eine Aufnahme der Schweiz. Von der Bedeutung einer Annäherung an die G20 überzeugt, hat sich die Schweiz organisiert, um ihre wirtschaftlichen und finanziellen Interessen in entscheidenden Bereichen wahren zu können sowie Vorschläge zur Lösung der globalen Wirtschaftskrise einzubringen. Der Bundesrat hat deshalb Anfang 2010 eine Strategie verabschiedet, die auf zwei Handlungsfeldern basiert:− eine proaktive Positionierung zu den zentralen Punkten der G20-Agenda;− eine stärkere Stellung der Schweiz innerhalb der internationalen Organisationen, die von der G20 Mandate erhalten.Zur Umsetzung dieser Strategie wurde eine interdepartementale Arbeitsgruppe – die IdaG20 – geschaffen, die sich aus Vertretern des Finanzdepartements (EFD), des Volkswirtschaftsdepartements (EVD) und des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sowie der Schweizerischen Nationalbank (SNB) zusammensetzt.
Die IdaG20 wird jährlich abwechselnd vom EVD (Seco) und vom EFD (SIF) präsidiert.Konkret hat sich die Schweiz zu den Prioritäten der französischen Präsidentschaft geäussert: Reform des internationalen Geldsystems, Stärkung der Finanzregulierung, Volatilität der Rohstoffpreise, Entwicklung, Beschäftigung, Korruptionsbekämpfung und Regierungsführung. Ziel war es, Frankreich wie auch den anderen G20-Mitglied und -Nichtmitgliedstaaten die schweizerischen Positionen zu kommunizieren. Die Schweiz hat darauf hingearbeitet, an den vorbereitenden Treffen mitzuwirken. Hochrangige Vertreter des EFD und der SNB waren an einem Seminar in China im März 2011 zugegen. Bundesrat Johann Schneider-Ammann hat im Mai an der Konferenz zur Beschäftigung und Kohärenz zwischen den internationalen Organisationen teilgenommen, während Bundesrätin Doris Leuthard am Seminar zur nuklearen Sicherheit im Juni dieses Jahres in Paris präsent war. Auch sonst leistet die Schweiz einen aktiven Beitrag. So hat die SNB im Mai 2011 in Zusammenarbeit mit dem IWF ein hochrangiges Treffen zur Reform des internationalen Währungssystems in Zürich organisiert. Die Schweiz beweist damit ihr Interesse an den von der Gruppe aufgegriffenen Themen sowie ihre Fähigkeit, die Diskussionen mit wertvollen Beiträgen zu bereichern.Zu den Hauptanliegen der Schweiz gehören auch die ordnungspolitischen Beziehungen zwischen den G20 und den internationalen Organisationen. Denn die Mandate der G20 haben einen starken Einfluss auf deren Prioritäten. So ist die Volatilität der Rohstoffpreise zu einem vorrangigen Thema der OECD und der FAO geworden, während der IWF stark vom Framework for Strong, Sustainable and Balanced Growth der G20 geleitet wird. In diesem Zusammenhang setzt sich die Schweiz dafür ein, dass die Entscheidungen der G20 von den leitenden Organen der betroffenen internationalen Organisationen mitgetragen werden. Zudem muss der Beitrag dieser Organisationen transparent gemacht werden; das bedeutet, dass deren Mitglieder im Vorfeld konsultiert oder zumindest über die für die G20 ausgeführten Arbeiten informiert werden müssen. Diese Sorge um die Good Governance der internationalen Organisationen wird von vielen Nicht-Mitgliedern der G20 geteilt. Auf Initiative der Schweiz wurde deshalb im Mai 2011 ein informelles Treffen von 12 Nichtmitgliedern mit Vertretern Frankreichs, Südkoreas und Mexikos einberufen.
Frankreich (aktuelle Präsidentschaft), Korea (letzte Präsidentschaft und Mexiko (nächste Präsidentschaft) bilden die so genannte G20-Troika für 2011. Der Austausch hat die Forderung der Nichtmitglieder nach grösserer Beachtung durch die G20 deutlich zum Ausdruck gebracht. Auch die Global Governance Group (3G)
Die 3G umfasst 27 UNO-Mitgliedsländer, u.a. auch die Schweiz. Ihr Ziel ist die stärkere Beteiligung der UNO in den Entscheidungsprozessen der G20. engagiert sich im Rahmen der Vereinten Nationen für verstärkte Transparenz.Die Schweiz hat rasch eine Reihe von Vorstössen zu spezifischen Themen lanciert, um ihre Interessen auf internationalem Parkett zu wahren. Allerdings erwies sich die rotierende Präsidentschaft der G20 nicht eben als förderlich für die Zielerreichung.

Stärken der G20 und kommende Herausforderungen


Die G20 ist zwar ein Zusammenschluss einer begrenzten Anzahl Länder, weist jedoch eine genügend grosse kritische Masse und thematische Geschlossenheit auf, um die weltweite strategische Ausrichtung zu beeinflussen. Der Gruppe ist es denn auch gelungen, ihre Standpunkte und Entscheidungen durchzusetzen, ohne die Meinung der internationalen Gemeinschaft zu berücksichtigen. Dass die Konsensfindung unter Einbezug einer grossen Anzahl Parteien schwierig ist, hat sich verschiedentlich gezeigt, so unter anderem bei der 15. Konferenz der Vertragsstaaten der UNO-Klimakonvention in Kopenhagen 2009. Angesichts der immer komplexer werdenden wirtschaftlichen Fragen kann die G20 als Antwort auf die Entscheidungsschwäche innerhalb der UNO gesehen werden. Sie scheint den Vorwurf der fehlenden Repräsentativität, der ständig von den Nichtmitgliedern erhoben wird, einfach zu ignorieren zugunsten eines schnellen und wirkungsvollen Handelns, wie es in der Wirtschaftskrise unter Beweis gestellt wurde. Die informelle Struktur (keine oder kaum Regeln) der G20 verleiht ihr eine grosse Anpassungsfähigkeit bei Ereignissen (z.B. Einberufung einer ministeriellen Konferenz zur nuklearen Sicherheit nach der Katastrophe von Fukushima im Juni 2011 in Paris). Ausserdem kann sie auf Kompetenzen und Knowhow der internationalen Organisationen, denen sie Mandate erteilt, zurückgreifen und so eine grosse Interdisziplinarität ausspielen. Mit ihrer (Nicht-)Struktur und der Suche nach pragmatischen, undogmatischen Lösungen hat die G20 eindeutig eine positive Dynamik in den internationalen Wirtschafts- und Finanzfragen ausgelöst (wie z.B. bei der Finanzmarktregulierung und der Reform des internationalen Währungssystems). Damit hat sie eine Führungsrolle in der globalen Wirtschaftspolitik übernommen. Die G20 steht indes vor zwei Herausforderungen. Die erste und zugleich weit bedeutendere für ihr Funktionieren ist eine Folge der thematischen Vertiefung. Nach der erfolgreichen Krisenbewältigung der Jahre 2008/09 mit gezielten wirtschaftspolitischen Massnahmen folgte eine Suche nach strukturellen Lösungen. Um aber einen – auch nur minimalen – Konsens in diesen Fragen zu erreichen, müssen die Anstrengungen verdoppelt werden. Das zeigte sich etwa bei den divergierenden Ansichten zum Framework for Strong, Sustainable and Balanced Growth, wo ein Ausgleich des weltweiten Wirtschaftswachstums durch eine gesteigerte Nachfrage in den Schwellenländern und vermehrten Einsparungen in den Industrieländern angestrebt wird. Die gegenwärtige Verschuldungskrise in den Industrieländern vergrössert den Graben zusätzlich – eine Frage, die wohl beim Gipfel in Cannes präsent sein wird.Die zweite Herausforderung ist diejenige der Beziehungen der G20 mit den Nichtmitgliedern. Die Verständigung der Gruppe mit den Aussenstehenden hängt heute vom Goodwill der jeweiligen Präsidentschaft ab. Die beiden bisherigen Präsidentschaften – Korea und Frankreich – haben eine Politik der aktiven Öffnung begonnen. Im Fall Koreas basierte sie auf dem Dialog, im Falle Frankreichs auf dem Einbezug von Nichtmitgliedern in gewisse vorbereitende Arbeiten (wovon auch die Schweiz profitiert hat). Diese Öffnungspolitik ist sehr erwünscht; der pragmatische Ansatz einer variablen Geometrie mit dem systematischen Einbezug der betroffenen Hauptakteure in die spezifischen Diskussionen innerhalb der G20 sollte weiter vertieft werden. Überdies sollten die Beziehungen mit den internationalen Organisationen klarer umrissen und mit den Prinzipien der Good Governance vereinbart werden. Nur der vermehrte Dialog kann der G20 die zusätzliche Legitimität verschaffen, die sie braucht, damit sie ihre Führungsrolle langfristig sichern kann.Als Nichtmitglied des «Clubs» ist die Schweiz zwar nicht formell an die Entscheidungen der G20 gebunden. Die Erfahrungen (schwarze Liste, Reform des IWF usw.) haben aber gezeigt, dass wir uns diesen Entscheidungen nur ganz schwer entziehen können. Die Schweiz hat sich für eine aktive Politik entschieden, um einerseits gezielt Überzeugungsarbeit zu leisten und andererseits negative Konsequenzen von G20-Entscheiden abzuwenden. Dieser Ansatz wird sehr geschätzt – umso mehr, als die Schweiz bei spezifischen Themen einen echten Mehrwert einbringt. Ein wichtiger Kanal ist dabei die Mitwirkung in den internationalen Organisationen, indem wir als Vollmitglied unsere Standpunkte zu den Mandaten der G20 einfliessen lassen können. Sofern das Prinzip der Transparenz korrekt angewendet wird, kann die Schweiz viel profitieren – sowohl von der Stärkung der Rolle der internationalen Organisationen in der globalen Wirtschaftspolitik als auch von einem gesunden, ausgeglichenen Wachstum der Weltwirtschaft.

Tabelle 1: «Kalander wichtigsten Aktivitäten der G20 im Jahr 2011»

Zitiervorschlag: Dominique Jordan (2011). Die G20 und die Schweiz: Beidseitiger Bedarf des Dialogs. Die Volkswirtschaft, 01. Oktober.