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Globale Migration und die schweizerische Migrationsaussenpolitik

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Die Globalisierung ist mit einem Anstieg der internationalen Migrationsbewegungen verbunden. Gemäss der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wurden 2010 weltweit ca. 214 Mio. internationale Migranten gezählt. Rund 3% der Weltbevölkerung lebt länger als ein Jahr ausserhalb des Geburtslandes. Hinzu kommen weltweit etwa 47 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene. Europa beherbergt rund 70 Mio. oder 33% der weltweit gezählten Migranten. Vor diesem Hintergrund stellt sich für die Staaten zunehmend die Frage nach einer wirksamen Steuerung. Eine der hauptsächlichen Herausforderungen besteht darin, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Migration sicher, legal und in Wahrnehmung der Rechte und Interessen aller Beteiligten erfolgen kann. Zu berücksichtigen ist dabei auch die Rolle der Migrantinnen und Migranten als potenzielle Akteure für die Entwicklung.

Einflussfaktoren der Migration


Die Ursachen und Faktoren der Migration sind dermassen komplex, dass keinerlei gesicherte Prognosen möglich sind – und zwar weder global noch regional. Aufgezeigt werden können etwa die Pull-Faktoren, welche die Einwanderung in ein bestimmtes Land fördern (z.B. demografische Entwicklung, Arbeitskräftebedarf, Bruttosozialprodukt) oder Push-Faktoren, welche Auswanderung bewirken können (z. B. Armut, Konflikte, Klima, Inflation), sowie erkennbare Tendenzen.
Vgl. dazu OECD (2009): L’avenir des migrations internationales vers les pays de l’OECD. Daraus lassen sich Szenarien aus heutiger Sicht ableiten.Das Ausmass der Migration ist zu einem grossen Teil mit wirtschaftlichen und demografischen Unterschieden erklärbar. Die Dynamik der Migration wird hingegen von Faktoren wie sozialen Netzwerken oder Entwicklungen im Transport-, Informations-, Kommunikations- und Menschenrechtsbereich beeinflusst. Mit diesen Faktoren sowie den staatlichen Lenkungsmassnahmen – oft ausgestaltet als migrationshemmende Faktoren wie Grenzkontrollen und Visa-Vorschriften – lässt sich hinreichend darlegen, weshalb Migrationsbewegungen (zu welchem Zeitpunkt, auf welchen Routen und in welche Regionen und Staaten) beobachtet werden können.

Zunahme der Einwanderung und Folgen für die Schweiz


Der Runde Tisch Migrationspolitik 2030
Teilnehmende am Runden Tisch waren Vertreter der vier Bundesratsparteien, die Sozialpartner sowie Experten von Bund, Kantonen und NGO. hat sich dieser Frage angenommen. Er gelangte in seinem Bericht vom Juni 2011 – basierend auf Prognosen der OECD und des Bundesamtes für Statistik (BFS) sowie nach Prüfung verschiedener Szenarien – zur Auffassung, dass die Einwanderung in die Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit gegenüber heute zunehmen wird. Dabei könne auch in Zukunft am bewährten Zwei-Kreise-Modell festgehalten werden: nicht-kontingentierte Zuwanderung von Erwerbstätigen aus der EU und kontingentierte Zulassung von Arbeitskräften aus Drittstaaten. Auf längere Sicht werde sich die Zuwanderung aus der EU wegen der ähnlichen demografischen Situation in den meisten EU-Staaten wie in der Schweiz vermutlich abschwächen. So lässt sich bereits heute darüber diskutieren, wie die Schweiz 2030 ihren absehbaren Personalbedarf für bestimmte Branchen – wie etwa in der Pflege – auch aus Drittstaaten wird decken können bzw. müssen.Aufgrund dieses hochwahrscheinlichen Szenarios soll sich die Politik nach Auffassung des Runden Tisches schon heute mit den absehbaren Folgen der Zuwanderung befassen, namentlich mit den Herausforderungen in den Bereichen Integrationsfähigkeit und -bereitschaft, Arbeitsmarkt, Asylpolitik oder irreguläre Migration. Dabei sei auch eine aktive Migrationsaussenpolitik gefordert. Weitere Fragen betreffen unter anderem die Raumplanung oder die Infrastruktur. Der Bundesrat hat am 4. Mai 2011 eine interdepartementale Arbeitsgruppe zu den Themen Personenfreizügigkeit und Zuwanderung eingesetzt, welche u.a. jene Fragen behandeln soll, die auch der Runde Tisch gestellt hat. Die Arbeitsgruppe soll eine vertiefte Analyse der Chancen und Risiken vornehmen, die sich aus der aktuellen schweizerischen Zulassungspolitik ergeben, und Vorschläge für kurz- und mittelfristige Verbesserungs- und Korrekturmassnahmen unterbreiten. Dazu gehören Politikbereiche wie Integration, Arbeitsmarkt, Aus- und Weiterbildung, Diplomanerkennung, Raumplanung, Wohnungs- und Immobilienmarkt, Energieverbrauch, Verkehr, Umwelt, innere Sicherheit sowie das Verhältnis der Schweiz zur EU.

Migrationsaussenpolitische Ziele des Bundesrates


Ohne den Ergebnissen der Arbeitsgruppe vorzugreifen, bin ich überzeugt, dass die Ziele in der Migrationsaussenpolitik keiner fundamentalen Änderung bedürfen. Sie basieren auf den drei Werten Wohlstand, Solidarität und Sicherheit, die unserer Migrationspolitik zugrunde liegen. Die schweizerische Migrationspolitik soll:− die für den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wohlstand der Schweiz erforderliche Zuwanderung gewährleisten;− einen Beitrag zum Wohlstand der Herkunfts- und Transitländer leisten, indem die Synergien zwischen Migration und Entwicklung vermehrt ausgeschöpft werden;− die humanitäre Tradition der Schweiz widerspiegeln, indem Personen auf der Flucht vor Verfolgung Schutz gewährt wird;− die Sicherheit der Schweizer Bürgerinnen und Bürger sowie der Migrantinnen und Migranten garantieren, indem die Integration eingewanderter Personen gefördert, die irreguläre Migration und der Menschenhandel bekämpft sowie Personen mit irregulärem Status eine Rückkehr in Würde und Sicherheit gewährleistet wird.Mit einem konsequenten migrationsaussenpolitischen Engagement achtet die Schweiz darauf, den Druck auf ihre Grenzen und ihr Gebiet einzudämmen sowie das Potenzial der Migration für ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft zu optimieren, ohne dabei die Interessen der anderen beteiligten Parteien ausser Acht zu lassen. Jede Verbesserung im internationalen Migrationsmanagement stellt einen Mehrwert für die Schweiz dar.
Vgl. Aussenpolitischer Bericht des Bundesrates (2010).

Aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze


Seit Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens (FZA) im Jahre 2002 konzentrieren sich die Bemühungen der Schweiz zur Steuerung der Migration hauptsächlich auf die Migration aus Drittstaaten. Denn EU- und Efta-Staatsangehörige (Bulgarien und Rumänien noch mit Bedingungen) sind frei, in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit auszuüben und sich hier aufzuhalten. Überdies wird durch bestimmte Instrumente – z.B. die Schengen/Dublin-Abkommen – die innere Sicherheit der Schweiz erhöht. Zusätzlich zu den bereits getroffenen Massnahmen bezüglich FZA wird sich der Bundesrat wie erwähnt zu den Auswirkungen des freien Personenverkehrs und zu allfälligen weiteren Verbesserungen noch äussern. Zu den Herausforderungen – insbesondere in Bezug auf die Drittstaaten – gehört die Wahrnehmung der Migration, die nach wie vor hauptsächlich als Problem und selten als Chance wahrgenommen wird. Die Migration muss in der Öffentlichkeit und von der Politik differenzierter betrachtet werden. Es ist richtig, die negativen Aspekte der Migration zu vermindern. Gleichzeitig ist aber auch das Potenzial der Migration – z.B. für die wirtschaftliche Entwicklung – zu verbessern. Bei der regulären Migration wird eine Herausforderung für die Schweiz darin bestehen, trotz des sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs um qualifiziertes Personal die für das Wirtschaftswachstum nötigen Arbeitskräfte zu rekrutieren. Die irreguläre Migration verhindert, dass Staaten auf Grundlage ihres souveränen und legitimen Rechts entscheiden können, welche Personen sich in ihrem Staat aufhalten können und welche nicht. Diese mangelnde Kontrolle hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf eine Vielzahl von Politikbereichen, wie z.B. Sicherheit, Schulwesen oder Arbeitsmarkt. Zudem sind Personen, die sich irregulär in einem Land aufhalten, oft in einer verletzlichen Position (etwa aufgrund von Menschenhandel). Effiziente Strategien gegen irreguläre Migration können darin bestehen, dass in den Herkunftsländern Alternativen – sprich: Arbeitsplätze für junge Leute – angeboten werden. Für die Rückkehr sind Rückübernahmeabkommen nach wie vor richtig; vermehrt sind aber die Reintegration und die Anliegen der Herkunftsstaaten in einem breiteren Kontext mit einzubeziehen. Auch die Gewährung von Schutz vor Ort ist ein wichtiges Anliegen, insbesondere für Flüchtlinge, die in ihrer Herkunftsregion keinen Schutz erhalten. Der Konnex zwischen Migration und Entwicklung wird zunehmend zu beachten sein: Das Potenzial der Migration für die Entwicklung kann noch stärker ausgeschöpft werden. Die Migration müsste etwa bei der Ausarbeitung sektorieller Politiken oder der regionalen und lokalen Entwicklungsstrategien systematischer berücksichtigt werden. Schliesslich ist nach wie vor die globale Gouvernanz der internationalen Migrationsströme zu nennen: Auf internationaler Ebene wächst das Bewusstsein, dass die Migration ein transnationales Phänomen ist, das eine regionale und internationale Zusammenarbeit erfordert, damit angemessene Lösungen gefunden und die verschiedenen Interessen gewichtet werden können. Die meisten Staaten sind heute gleichzeitig Einwanderungs-, Auswanderungs- und Transitstaaten.

Instrumente der schweizerischen Migrationsaussenpolitik


Die Instrumente stützen sich auf die folgenden Grundsätze: − einen umfassenden Ansatz der Migration im Sinne der Berücksichtigung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Chancen als auch der Herausforderungen. − einen partnerschaftlichen Ansatz im Sinne einer engen Zusammenarbeit zwischen den Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten sowie mit anderen Akteuren (internationale Organisationen, Privatwirtschaft, NGO). − einen Gesamtregierungsansatz im Sinne einer sehr engen interdepartementalen Zusammenarbeit.Der Bundesrat hat im Februar 2011 einen Bericht der Verwaltung über die internationale Migrationszusammenarbeit zustimmend zur Kenntnis genommen und die erwähnten Grundsätze gutgeheissen wie auch die Instrumente konkretisiert. Zu den wichtigsten Instrumenten gehört der internationale und regionale Migrationsdialog. Als Beispiel sei der diesjährige Vorsitz der Schweiz beim Globalen Forum für Migration und Entwicklung genannt: An dieser informellen Plattform beteiligen sich ca. 150 Staaten, um konkrete Erfahrungen auszutauschen und Partnerschaften im Migrations- und Entwicklungsbereich zu entwickeln. Der intensive regionale Dialog mit der EU – FZA, Schengen, Dublin, Frontex etc. – ist bekannt, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen wird. Bilaterale Migrationsabkommen regeln die Zusammenarbeit in Bereichen wie Rückkehr (bisher 47 Abkommen), Visa oder Austausch von Stagiaires. Aufgrund meiner Funktion als Sonderbotschafter habe ich in zahlreichen bilateralen und multilateralen Gesprächen die Erfahrung gemacht, dass es zunehmend schwierig ist, die vielfältigen Interessen der Partnerstaaten in ein Abkommen einzubeziehen, das sich auf einen einzigen Bereich der Migrationszusammenarbeit konzentriert. Neben der Rückübernahme sind auch Visafragen, Grenzüberwachung, Rückkehrhilfe, Bekämpfung des Menschenhandels, Synergien zwischen Migration und Entwicklung (z.B. Diaspora, Remissen) oder Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten wichtige Themen, die mit dem betreffenden Partnerstaat unter Berücksichtigung beider Interessen einbezogen werden sollen. Zu diesem Zweck wurde die Migrationspartnerschaft geschaffen (Art. 100 Ausländergesetz); bis heute hat die Schweiz mit Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo und Nigeria solche Partnerschaften geschlossen. Die bisherigen Erfahrungen sind positiv. Weitere Instrumente sind Projekte zur Prävention der irregulären Migration und solche zum Schutz in der Herkunftsregion, die sogenannte Protection in the Region. Dabei geht es um den verstärkten Schutz von Flüchtlingen in den Erstaufnahmeländern (nahe der Krisenregionen), was zur Verringerung der sekundären, irregulären Migrationsströmen beiträgt. Zahlreiche parlamentarische Vorstösse bestärken den Bundesrat in seiner Absicht, diese Instrumente noch effizienter einzusetzen, insbesondere was den Schutz vor Ort, aber auch die Verringerung der irregulären Migration betrifft. Um die Wirksamkeit der Migrationsaussenpolitik zu verstärken, hat der Bundesrat im Februar 2011 überdies einer Verbesserung der Struktur der interdepartementalen Zusammenarbeit beschlossen. Präsidiert wird das Plenum der interdepartementalen Arbeitsgruppe Migration vom Direktor des Bundesamtes für Migration (BFM) und vom Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA (Staatssekretär und Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza). Ebenfalls vertreten sind das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und der Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit. Zur Umsetzung wurde ein Ausschuss eingesetzt, in dem weitere interessierte Amtsstellen mitwirken.

Fazit und Ausblick


Nach meiner persönlichen Einschätzung ist folgendes Szenario am wahrscheinlichsten:– Das Produktionswachstum geht mittel-und langfristig weiter; der Wirtschaftsstandort Schweiz bleibt attraktiv und der Strukturwandel – vor allem hin zum Dienstleistungssektor – setzt sich fort. Die Wirtschaft ist auf Zuwanderung angewiesen.– Es wird einen markanten Anstieg von Personen über 65 Jahren geben.– Infolge der Alterung der Schweizer Bevölkerung dürfte es zu einem Mangel an Arbeitskräften in gewissen Branchen kommen, insbesondere im Gesundheitswesen.– Die demografische Situation in Europa entspricht jener in der Schweiz; d.h. der Einwanderungsdruck aus den EU-Staaten in die Schweiz klingt ab, und die Schweizer Firmen stehen in einem starken internationalen Wettbewerb um Arbeitskräfte. Hingegen bleibt die Schweiz als Einwanderungsland für Personen aus Nicht-EU-Staaten weiterhin attraktiv (Arbeitsbedingungen, Lebensqualität, soziale Sicherheit).– Der Migrationsdruck auf die Schweiz nimmt zu, weil Migrationsursachen – wie Kriege, Umweltzerstörungen oder Klimawandel – zunehmen werden.Was heisst dies für die migrationsaussenpolitische Zukunft der Schweiz? Wie der Bundesrat in letzter Zeit immer wieder betont hat, ist eine noch aktivere Migrationsaussenpolitik gefragt. Mit dem Fokus allein auf einer innenpolitischen Steuerung der Migration können aktuelle Migrationsprobleme nicht gelöst werden. Selbstverständlich sind bei einer kohärenten Politik auch die Bedürfnisse der Schweizer Wirtschaft, die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie Sicherheitsfragen in der Schweiz zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: keine schrankenlose Zuwanderung. Es bedarf nationaler und internationaler Instrumente zur Lenkung von legalen und irregulären Migrationsbewegungen. Eine bilaterale, regionale und multilaterale Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten von Migranten ist unabdingbar zur Handhabung der mit Migration verbundenen Probleme und Chancen.Die Schweiz hat in der Vergangenheit eine hohe Aufnahmekapazität und Integrationskraft unter Beweis gestellt. Die Bilanz lässt sich – auch im Vergleich mit den EU-Staaten – sehen. Bundesrat und Parlament haben in den letzten Jahren einige Verbesserungen in der Migrationsaussenpolitik eingeführt, die es nun umzusetzen gilt. Ich bin überzeugt, dass wir inmitten von Europa unsere Zusammenarbeit mit der EU und den EU-Staaten weiterführen müssen. Aufgrund der voraussichtlichen demografischen Entwicklung, des Arbeitskräftebedarfs und des grossen Migrationsdrucks aus Nicht-EU-Staaten empfiehlt es sich, in Zukunft vermehrt mit Staaten ausserhalb der EU Migrationspartnerschaften abzuschliessen – im Interesse der Schweiz und unter Einbezug der Interessen des betreffenden Herkunftsstaats. Ebenso ist es richtig, dass sich die Schweiz wie bisher am internationalen Migrationsdialog aktiv beteiligt.

Grafik 1: «Entwicklung der aktiven Bevölkerung der Welt, 1980–2020»

Zitiervorschlag: Gnesa, Eduard (2011). Globale Migration und die schweizerische Migrationsaussenpolitik. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.