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Die EVD-Fachkräfteinitiative: Für eine Kohärenz von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik

Dank des EU-Freizügigkeitsabkommens konnten Schweizer Unternehmen ihren wachsenden Fachkräftebedarf in den letzten Jahren durch Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte abdecken. Es wäre aber kurzsichtig, alleine auf die Zuwanderung zu setzen. Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement (EVD) will deshalb mit einer langfristig angelegten Politik die Verfügbarkeit inländischer Fachkräfte erhöhen. Freie Potenziale in der Schweizer Erwerbsbevölkerung können durch gute Anreize und eine kontinuierliche Aktivierung noch besser ausgeschöpft werden. Die EVD-Fachkräfteinitiative schafft hierzu die nötige Kohärenz von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.
Der vorliegende Beitrag basiert auf dem EVD-Grundlagenbericht «Fachkräfte für die Schweiz» vom August 2011. Die Berechnung der hier vorgestellten Potenziale, zusätzliche grafische Umsetzungen und weiterführende Literaturangaben sind dort zu finden. Der Bericht steht auf http://www.evd.admin.ch/themen unter der Rubrik «Bildung, Forschung, Innovation» zur Verfügung.

Fachkräfte für die Schweizer Volkswirtschaft


Ein ausreichendes, den Bedürfnissen der Unternehmen angepasstes Arbeitskräfteangebot gehört mit zu den wichtigsten Standortfaktoren einer Volkswirtschaft. Die Unternehmen in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren immer stärker auf Produkte mit hoher Wertschöpfung spezialisiert. Dies hat – zusammen mit der technologischen Entwicklung – zu einem wachsenden Qualifikationsbedarf über die gesamte Breite der Produktions- und Dienstleistungstätigkeiten geführt. Die Nachfrage ist bis heute vor allem bei qualifizierten und spezialisierten Arbeitskräften gewachsen, also bei «Fachkräften». Diese Trends sind allen industrialisierten Ländern gemeinsam. Fachkräfte setzen international mobiles Wissen vor Ort in Innovationen um. Sie generieren damit einen Mehrwert für die Unternehmen, für die Volkswirtschaft und für die Gesellschaft. Innovationen sind zudem die einzige Quelle des Produktivitätsfortschritts, die nie versiegen wird.Gleichzeitig stehen die Länder Westeuropas vor der demografischen Herausforderung einer stagnierenden bis schrumpfenden Erwerbsbevölkerung. Die Demografieszenarien des Bundesamtes für Statistik (BFS) zeigen für die Schweiz, dass in den kommenden Jahren mit einem deutlich schwächeren Wachstum der Bevölkerung im Erwerbsalter gerechnet werden muss und dass ein Rückgang der Erwerbsbevölkerung ab 2020 immer wahrscheinlicher wird (siehe Grafik 1). Diese Erkenntnis behält ihre Gültigkeit auch bei sehr unterschiedlichen Annahmen zur Zuwanderung. Diese Entwicklung wird Unternehmen wie auch Volkswirtschaften vor erhebliche Probleme stellen. Unternehmen stehen international also immer stärker in einem permanenten Wettbewerb um Arbeits- und Fachkräfte, was sich in Phasen der Hochkonjunktur besonders akzentuiert.

Besondere Bedeutung der Zuwanderung für die Schweiz


Eine Besonderheit der Schweiz ist, dass unsere Unternehmen zur Deckung des wachsenden Fachkräftebedarfs in den letzten Jahren in vergleichsweise hohem Masse auf ausländische Fachkräfte zurückgreifen konnten. Die hohe Standortattraktivität, eine längere Phase mit hohem Weltwirtschaftswachstum sowie die schrittweise Öffnung unseres Arbeitsmarktes gegenüber der EU ab Mitte 2002 haben diese Tendenz begünstigt und die Versorgung der Unternehmen mit geeigneten Fachkräften hierzulande erleichtert. Die letzten Jahre haben deutlich gemacht, wie wichtig der Zugang zu internationalen Fachkräften für eine kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz ist. Für viele Branchen, in denen die Schweiz eine starke Position auf den Weltmärkten erreichen konnte (wie z.B. in der Pharmaindustrie, bei Finanzdienstleistungen oder in der Maschinenindustrie), wäre das inländische Fachkräfteangebot zu klein gewesen, um mit dem raschen technologischen Wandel wachsen zu können. Die Zuwanderung ist also eine unerlässliche Ergänzung, welche die Flexibilität des Schweizer Fachkräftemarktes erhöht. Vorhersagen über die langfristige Entwicklung der Zuwanderung sind jedoch sehr unsicher. Angesichts ähnlicher demografischer Entwicklungen in der gesamten EU ist längerfristig vermutlich eher mit einer Abschwächung der Migrationspotenziale zu rechnen. Unabhängig vom genauen Ausmass der Zuwanderung wird der Druck in den kommenden Jahren sukzessive zunehmen, das inländische Arbeitskräftepotenzial in der Schweiz noch besser als bisher zu nutzen. Fachkräfte im Inland bilden das eigentliche Fundament unserer Volkswirtschaft. Es stellt sich die Frage, wo in der Schweiz heute noch freie Fachkräftepotenziale zu finden sind und wie diese am besten entwickelt und aktiviert werden könnten. Diese Frage hat Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann an den Anfang der von ihm lancierten EVD-Fachkräfteinitiative gestellt und das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) sowie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit der Erarbeitung von vertiefenden Grundlagen beauftragt. Die Schweiz steht vor einer Herausforderung, da die Erwerbstätigenquote der 15- bis 64-jährigen hiesigen Bevölkerung europaweit bereits einen Spitzenwert von knapp 80% erreicht. Einer der Gründe dafür ist unter anderem die besonders hohe Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen. Die berufliche Grundbildung mit ihrem engen Unternehmensbezug ist dafür von zentraler Bedeutung. Eine differenzierte Betrachtung zeigt aber dennoch beträchtliche Potenziale inaktiver Fachkräfte, d.h. «freie» Potenziale, auf. Zwei Schwerpunkte sollen dies exemplarisch illustrieren.

Wesentliche freie Potenziale bei Frauen und älteren Arbeitnehmenden


Besonders bei der Bevölkerungsgruppe der 25- bis 54-jährigen Erwachsenen bestehen noch erhebliche Fachkräftepotenziale, da vor allem viele Frauen nur teilzeiterwerbstätig sind. Besonders häufig trifft dies auf diejenigen Frauen zu, welche eine Erziehungsaufgabe wahrnehmen (siehe Grafik 2). In Vollzeitäquivalenten ausgedrückt lag die Erwerbstätigenquote von 25- bis 54-jährigen Frauen mit Kindern unter 15 Jahren im Haushalt bei nur 40%. Bei gleichaltrigen Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder waren es dagegen fast 70%. Gut 743 000 Vollzeitäquivalente wäre 2009 das theoretisch verfügbare Fachkräftepotenzial von nicht- und teilzeiterwerbstätigen Personen sowie von Erwerbslosen im Alter von 25–54 Jahren gewesen, die mindestens über eine Ausbildung auf Sekundarstufe II verfügten. Geht man zur Illustration von einer Zielvorgabe der Aktivierung von 20% dieses Potenzials aus, würde dies rund 149 000 Vollzeitarbeitskräften entsprechen.Eine weitere Zielgruppe bilden die älteren Arbeitnehmenden. Hätte man das theoretisch verfügbare Potenzial von nicht- und teilzeiterwerbstätigen Personen und von Erwerbslosen im Alter von 55–64 Jahren voll ausschöpfen können, wären 2009 rund 420 000 Vollzeitarbeitskräfte zur Verfügung gestanden. Geht man wiederum vom Ziel einer Aktivierung von 20% dieses Potenzials aus, würde dies rund 84 000 Vollzeitarbeitskräften entsprechen. Nicht darin enthalten sind Personen im Pensionsalter, welche ebenfalls als Potenzialgruppe betrachtet werden können.
Siehe u.a. die Antwort des Bundesrates zur Interpellation Maximilian Reimann (11.3112) «Arbeitspotenzial älterer Menschen. Stopp der Talentverschwendung».Nicht nur die Beteiligung und Entfaltung dieser freien Potenziale am Arbeitsmarkt ist zu ermöglichen: Die Politik muss gleichzeitig auch dafür sorgen, dass die Qualifizierung der Schweizer Erwerbsbevölkerung denjenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht, welche von der Wirtschaft nachgefragt werden.

Qualifizierung auf die Anforderungen der Wirtschaft


Das Arbeitskräfteangebot hat sich den strukturellen Veränderungen der Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten insgesamt gut angepasst. Die wachsende Nachfrage nach höheren Qualifikationen schlug sich in einer Höherqualifizierung der Erwerbsbevölkerung nieder. Während sich der Anteil an Erwerbstätigen ohne nachobligatorische Ausbildung seit den 1970er-Jahren von 40% auf aktuell rund 16% zurückbildete, nahm der Anteil von Erwerbstätigen mit tertiärer Ausbildung von 13% im Jahr 1980 auf aktuell rund 32% zu.Die Fachkräftenachfrage wächst aber nicht nur – wie dies zuweilen verkürzt dargestellt wird – für akademisch ausgebildete Arbeitskräfte, sondern auch für Personen mit beruflicher Grundbildung oder mit höherer Berufsbildung. Grafik 3 zeigt, dass gerade Fachkräfte mit höherer Berufsbildung im Durchschnitt am häufigsten erwerbstätig sind. Eine vertiefte Betrachtung der Qualifizierungsstruktur deckt gleichwohl Segmente innerhalb der Schweizer Erwerbsbevölkerung auf, die über Nachholbildung, Weiterbildung und Höherqualifizierung stärker auf die Nachfrage der Wirtschaft ausgerichtet werden können.Wie die Analyse der langfristigen Entwicklungen in der Schweiz verdeutlicht, liegt ein Schlüssel des Erfolgs in einer soliden Grundausbildung der jungen Bevölkerung. Heute liegt die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II von Jugendlichen in der Schweiz bei rund 90%, was im internationalen Vergleich ein ansprechend hoher Wert ist. Bund und Kantone haben in ihrer «gemeinsamen Erklärung» zu den bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz festgehalten, diese Quote auf 95% steigern zu wollen.
EVD, EDI, EDK. Chancen optimal nutzen: Erklärung 2011 zu den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz, Bern, Mai 2011.Viele Erwachsene partizipieren wegen Qualifikationsdefiziten nicht am Arbeitsmarkt. Rund 10% der 25- bis 44-Jährigen und knapp 20% der 45- bis 64-Jährigen verfügen in der Schweiz weder über einen Lehr- noch über einen sonstigen nachobligatorischen Bildungsabschluss. Ihre Arbeitsmarkt- und Weiterbildungsfähigkeit ist stark einschränkt. Bei Personen ohne Abschluss auf Sekundarstufe II im Alter von 25–54 Jahren belief sich das theoretische, nicht ausgeschöpfte Arbeitskräftepotenzial auf 164 000 Vollzeiterwerbstätige. Diese Zahl zeigt, dass in der Nachholbildung und Höherqualifizierung dieser Gruppen ebenfalls ein Potenzial liegt. Bei der bereits aktiven Bevölkerung mit nachobligatorischen Bildungsabschlüssen geht es vor allem darum zu gewährleisten, dass sie ihre Qualifikationen durch Höher- und Weiterbildung laufend an die Anforderungen der Wirtschaft anpassen können.

Wie können freie Potenziale im Inland aktiviert werden?


Die Schweiz verfügt dank eines anpassungsfähigen Bildungssystems und eines gut funktionierenden Arbeitsmarktes über eine gute Ausgangslage. Eine wichtige Aufgabe der Politik besteht darin, die Rahmenbedingungen für die Bildung und den Arbeitsmarkt in Zukunft optimal zu halten und an sich ändernde Bedingungen – wie z.B. die schrittweise Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes gegenüber der EU – anzupassen. Die folgenden Beispiele illustrieren, wie freie Potenziale aktiviert werden können:

95% der Jugendlichen erreichen einen Abschluss auf Sekundarstufe II


Der Bildungsbericht 2010 verdeutlicht, dass es sich bei der Erhöhung der Abschlussquote weitgehend um eine Integrationsaufgabe gegenüber Jugendlichen mit Migrationshintergrund handelt.
SKBF (2010). Bildungsbericht Schweiz 2010. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. Für Jugendliche gilt die Prämisse Bildung vor Arbeit. Eine zentrale Massnahme zur Erhöhung der Abschlussquote ist beispielsweise die Stärkung des Case Management Berufsbildung. Jugendliche mit mehrfachen Schwierigkeiten nach der obligatorischen Schulzeit werden über eine fallführende Stelle in eine berufliche Grundbildung begleitet.

Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf


Bei Eltern mit Kindern besteht ein sehr grosses Arbeitskräftepotenzial, welches durch bessere Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärker ausgeschöpft werden kann. Der Bund hat durch die Veröffentlichung eines Handbuchs wichtige Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit geleistet, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu verbessern. Auf einer Internetplattform des Bundes können zudem die entsprechenden kantonalen Rahmenbedingungen verglichen werden. Im Weiteren unterstützt der Bund durch eine Anschubfinanzierung die Schaffung externer Betreuungsplätze in den Kantonen. Die Förderung von externen Betreuungsplätzen für Kinder im Vorschul- und Schulalter sowie die vermehrte Einführung von Blockzeiten und/oder Tagesstrukturen in den Schulen dürfte in den kommenden Jahren noch stärker in den Fokus der Politik kommen.

Nachholbildung für Erwachsene


Unter «Nachholbildung» sind zwei Aspekte gemeint: zum einen das Nachholen eines staatlich geregelten Bildungsabschlusses, zum anderen der Erwerb fehlender Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen). Bei Erwachsenen mit Bedarf zur Nachholbildung handelt es sich häufig um Personen mit Migrationshintergrund, wodurch ein enger Bezug zur Integrationspolitik besteht. Ein wichtiges neues Instrument wird in Zukunft das Weiterbildungsgesetz (WeBiG) sein, das Grundsätze der Weiterbildung definiert und dem Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen bei Erwachsenen einen höheren Stellenwert geben wird.

Höherqualifizierung und Weiterbildung der aktiven Erwerbsbevölkerung


Die bereits aktive Erwerbsbevölkerung wird ihre Qualifikationsstruktur permanent anpassen müssen. Dies ist in der Schweiz durchaus möglich, da Bildungswege stark arbeitsmarktorientiert sind. Die erwachsene Erwerbsbevölkerung kann der Nachfrage nach neuen Qualifikationen durch Nachholbildung, Höherqualifizierung und kontinuierliche Weiterbildung nachkommen. Die grosse Herausforderung liegt hier in der Tatsache, dass sich die aktive Erwerbsbevölkerung der Notwendigkeit permanenten, lebenslangen Lernens bewusst ist.

Arbeiten bis ins ordentliche Pensionsalter – und darüber hinaus – ermöglichen


Die Arbeitsmarktpartizipation älterer Arbeitnehmender lässt sich dann steigern, wenn es gelingt, die Anreize und Chancen zur Erwerbstätigkeit im Alter zu verbessern und den Verbleib im Erwerbsleben bis zum ordentlichen Pensionsalter – und darüber hinaus – zu ermöglichen. Diese Anreize konnten in den letzten Jahren punktuell erhöht werden. Daneben ist gerade für diese Gruppe das Aufdatieren von Fähigkeiten und Fertigkeiten zentral. Der Erwerb und Erhalt von Grundkompetenzen, die Nachholbildung sowie der niederschwellige Zugang zu Passerellen und Umschulungslehrgängen können dafür sorgen, dass die Erwerbspersonen à jour bleiben.

Ausblick


Während die Zuwanderung ein unabdingbares Instrument zur Flexibilisierung des Schweizer Arbeitsmarkts bleiben wird, werden die Aktivierung und Entwicklung der Fachkräftepotenziale in der Schweiz zunehmend an Bedeutung gewinnen. Aktivierung und Entwicklung sind eine Verbundaufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden sowie von den Organisationen der Arbeitswelt und den Unternehmen. Nur in enger Zusammenarbeit können Rahmenbedingungen und Arbeitsbedingungen derart ausgestaltet werden, dass freie Potenziale besser ausgeschöpft werden können. Der Bund hat in seinem Kompetenzbereich bereits verschiedene Massnahmen eingeleitet, und einige davon werden in den kommenden Jahren noch weiterentwickelt werden müssen. Das Weiterbildungsgesetz kann in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Pfeiler einer langfristigen Fachkräftepolitik werden.

Grafik 1: «Veränderung der ständigen Wohnbevölkerung, 1990–2030»

Grafik 2: «Erwerbstätigenquoten in Vollzeitäquivalenten, 25- bis 54-jährige Personen mit und ohne Kinder unter 15 Jahren im Haushalt, 2009»

Grafik 3: «Erwerbstätigkeit nach abgeschlossener Bildungsstufe (25- bis 64-jährige Bevölkerung), 2009»

Zitiervorschlag: Sascha Kuster, Bernhard Weber, (2011). Die EVD-Fachkräfteinitiative: Für eine Kohärenz von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.