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Personenfreizügigkeit: Dringende Standortbestimmung nötig

«Die gesamte Wirtschaft wird von den Abkommen profitieren – keine massive Einwanderung zu befürchten – die bilateralen Abkommen stärken den Wirtschaftsstandort Schweiz». Diese Aussagen des Bundesrates stehen im Abstimmungsbüchlein vom 21. Mai 2000. Wo stehen wir heute? Die Bürgerinnen und Bürger können in vielen Lebensbereichen selbst wahrnehmen, dass die bilateralen Verträge und insbesondere die Personenfreizügigkeit nicht das gebracht haben, was versprochen und prognostiziert wurde. Der Handlungsbedarf ist mehr als ausgewiesen. Neuverhandlungen bis zur Kündigung der bilateralen Verträge müssen Optionen sein und bleiben. Wer von Beginn weg eine Option ausschliesst, steckt bereits in der Sackgasse.

Hat das Wachstum stattgefunden?


Immer wieder wird behauptet, die EU-Personenfreizügigkeit stütze die Exportwirtschaft. Tatsache ist, dass der Schweizer Export in die EU27 von rund 63,5% in den 1990er-Jahren auf aktuell 58,6% gesunken ist. Und das Handelsbilanzdefizit zwischen der Schweiz und der EU27 hat sich seit Inkrafttreten der Bilateralen um rund 5,6 Mrd. Franken erhöht. Auf den Punkt gebracht: Wir finanzieren mit dem Handelsbilanzdefizit Arbeitsplätze im EU-Raum und schwächen den Finanz- und Werkplatz Schweiz. Das Wachstum hat ausserhalb des EU-Raumes stattgefunden.
Vgl. Aussenhandelsbilanz, Bundesamt für Statistik (BFS).

Hat die administrative Entlastung stattgefunden?


Den Schweizer Unternehmen versprach der Bundesrat, der freie Personenverkehr erleichtere die Anstellung von ausländischen Fachkräften, indem der administrative Aufwand reduziert werde. Untersuchte Fälle belegen, dass sich die Bürokratie und der administrative Aufwand mit Einführung der flankierenden Massnahmen vervierfacht hat. Es hat also belegbar keine Entlastung unserer Wirtschaft stattgefunden. Im Gegenteil: Neue Gesetze und Auflagen bringen neue Kosten und schwächen täglich unsere Wirtschaft.
Vgl. auch Untersuchung des Schweizerischen Gewerbeverbandes (SGV).

Hat die massvolle Einwanderung stattgefunden?


In den letzten fünf Jahren sind gegen 400 000 Personen netto in unser Land eingewandert. Bald wird die Bevölkerungszahl die 8-Mio.-Grenze knacken. Kommt hinzu, dass zwischen 2002 und 2010 «lediglich» 256 000 neue Vollzeitarbeitsstellen geschaffen wurden, davon über 46% – also rund 119 000 – in den Bereichen öffentliche Verwaltungen, Erziehung und Bildung und Gesundheit. Diese Fakten führen zur Tatsache, dass die einzelnen Bürgerinnen und Bürger immer weniger am vielbeschworenen Wohlstand partizipieren können. Das BIP pro Kopf stagnierte in den letzten paar Jahren (vgl. Grafik 1).

Hat der notwendige Ausbau der Infrastruktur stattgefunden?


Im Jahr 2010 beförderte die Schiene 82 Mio. und der motorisierte Verkehr 341 Mio. Personen mehr als 2005. Obwohl immer mehr Lücken im schweizerischen Autobahnnetz geschlossen werden, steigt die Zahl der Staustunden unaufhörlich (im Jahr 2009 um 18%). Laut Prognosen wird der Personenverkehr auf der Strasse bis 2030 um 20%, auf der Schiene um 45% zunehmen. Bereits wird der Ausbau des Schienen- und Strassennetzes gefordert. Die Kosten werden massiv steigen. Die Personenfreizügigkeit wurde forciert und eingeführt, ohne die Folgen zu Ende zu denken.

Hat die Sicherung der AHV stattgefunden?


Immer wieder wird festgestellt, die ausländischen Arbeitskräfte würden 19% der AHV-Beiträge bezahlen und nur 15% der Leistungen beziehen. Tatsache ist, dass 2010 die ausländischen Arbeitskräfte rund 5,22 Mrd. Franken in die AHV-Kasse einbezahlt, aber gegen 5,36 Mrd. Franken Renten bezogen haben. Mit anderen Worten: Die Personenfreizügigkeit und das Umlagerungsverfahren der AHV vertragen sich nicht. Wer nicht während der ganzen Erwerbstätigkeit voll einzahlt, verursacht ab Erhalt seiner Rente eine Deckungslücke. Es bräuchte also immer noch mehr Nettoeinwanderung, um die AHV langfristig zu sichern.

Grafik 1: «BIP pro Kopf der Schweiz, 1990-2010»

Zitiervorschlag: Pirmin Schwander (2011). Personenfreizügigkeit: Dringende Standortbestimmung nötig. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.