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Klasse statt Masse: Eine Qualitätsstrategie für den Lebensmittelsektor

Die Schweizer Landwirtschaft produziert Kalorien auf historischer Rekordhöhe. Die Menge ist somit nicht das Problem, die Wertschöpfung und die Nachhaltigkeit der Produktion hingegen sehr wohl. Eine Qualitätsstrategie soll nun auf Basis von gemeinsamen Werten das Problem angehen und gleichzeitig Land- und Ernährungswirtschaft näher zusammen rücken lassen.



Einmal im Monat – noch bis Anfang April 2012 – führen lokale Bäuerinnen in der «La Scala»-Küche Regie. Das Restaurant La Scala gehört zum Hotel Schweizerhof auf der Lenzerheide. Fünf Heidner Bäuerinnen, die eigentlich aus anderen Schweizer Kantonen und anderen Berufen stammen, kooperieren mit einem Südtiroler Küchenchef. Sie vertiefen damit die von Claudia und Andreas Züllig (Schweizerhof-Besitzer) gelebte Kooperation mit lokalen Lieferanten und der Landwirtschaft. Eine Kooperation, die offensichtlich Spass macht und kulinarisch überzeugt, wie sich der Autor dieses Artikels in Frontrecherche überzeugen konnte. Hat der Bundesrat am 1. Februar 2012 bei der Veröffentlichung der Botschaft zur Agrarpolitik 2014–2017 (AP 14–17) an die Zülligs und die Heidner Bäuerinnen und Bauern gedacht? Bundesrat Schneider-Ammann gab damals nämlich bekannt, dass der Bund gedenke, «Massnahmen zu treffen, um angesichts der stetigen Öffnung der Märkte die Ausrichtung der Land- und Ernährungswirtschaft mit einer gemeinsamen Qualitätsstrategie zu unterstützen.» Lokale oder regionale Wertschöpfung beginnt immer mit Beziehungen zwischen Menschen. Gute Beziehungen zwischen lokalen Produzenten und Produzentinnen mit Küchenchefs oder Hotelmanagerinnen sind die beste Voraussetzung, um für die Gäste einzigartige und attraktive Angebote zu schaffen, die sich herumsprechen und die gebucht werden. Die vom Bundesrat angedachte Qualitätsstrategie ist ohne die Kooperation zwischen Menschen nicht zu realisieren.

Beziehungsarbeit


Will die Schweizer Landwirtschaft nicht zum austauschbaren Rohstofflieferanten werden, muss sie sich stärker bei den Konsumenten verankern und in der Wertschöpfungskette vernetzen. Wer als Unternehmen gut in Wertschöpfungsketten eingebettet ist, hat die besseren Überlebenschancen. Die gemeinsame Bewährung am Markt durch Kooperation muss zu der Kernkompetenz der Schweizer Ernährungswirtschaft werden. Hier kann die Qualitätsstrategie ansetzen. Die Charta zur Qualitätsstrategie der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft (vgl. Kasten 1

Charta


Die «Charta zur Qualitätsstrategie der Schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft» wurde mit Vertretern der gesamten Wertschöpfungskette erarbeitet. Gemeinsam festgelegte Werte wie Marktorientierung, Genuss, Authentizität oder ein hohes Niveau bei Tierwohl und Umweltschutz sollen die Basis für die Weiterentwicklung der Food-Branche schaffen. Die Charta (ausdrücklich kein Papier des Bundes) wird zurzeit redaktionell überarbeitet und soll im Sommer 2012 von den Akteuren in der Wertschöpfungskette unterzeichnet werden.

) versucht erstmals, gemeinsame verbindende Werte zu formulieren. Sie hält unter anderem fest: «Wir denken unternehmerisch und suchen langfristige Zusammenarbeitsformen, die auf einer partnerschaftlichen Marktorientierung basieren und die die Entwicklung spezifischer Zusatznutzen fördern.» Kritiker sehen in solchen Formulierungen schöngeistige Leerformeln. Doch was ist die Alternative? Zudem: Zusammenarbeitsformen, wie in der Charta beschrieben, werden bereits erfolgreich gelebt. Labels wie AOC, Alpinavera, Culinarium, Das Beste, IP Suisse, Knospe, Naturabeef, Naturaplan, Naturafarm oder TerraSuisse sind Ausdruck davon. Gelebt werden Kooperationen aber auch von Hoteliers wie den Zülligs, von Branchenorganisationen oder von Bauern mit lokalen Verarbeitern. Gerade der Schweizer Lebensmittelmarkt ist geeignet, Qualitätspartnerschaften und Marktkooperationen (vgl. Grafik 1) zu suchen.

Kooperationen statt Marktkampf


Ziel einer Qualitätsstrategie muss sein, möglichst wenig Produkte über den Preis zu verkaufen. In den Agrarmärkten ist dies leider nicht so einfach: Grosse Mengen gelangen als Rohstoffe ohne Identität auf den Markt. Nicht alle Produkte sind über Labels oder Marken bis in die Herzen der Konsumenten verankerbar. Kooperationen können aber auch auf Märkten mit anonymen Rohstoffen einen Mehrwert schaffen. Durch Kooperationen senken sich die Transaktionskosten und die Preise stabilisieren sich. Transparenz über benötigte Qualitäten und Mengen helfen allen Akteuren in der Vermarktungskette. Liefersicherheit, Nähe und Mechanismen zur Abstimmung von Angebot und Nachfrage: diese Begriffe sollten zur Kernkompetenz der Schweizer Wertschöpfungsketten werden.Der Schweizer Markt mit Industriemilch zeigt aktuell, dass noch viel Arbeit in verlässliche Kooperationen gesteckt werden muss – sowohl auf der Seite der Milchverarbeiter und des Handel als auch der Milchproduzenten selbst. Die Branchenorganisation Milch findet keinen gemeinsamen Nenner, und die Dachorganisation «Schweizer Milchproduzenten» wird von den BIG-M-Produzenten durch die Milchzimmer gehetzt. BIG-M nennt sich «die Bäuerliche Interessen-Gruppe für Marktkampf». Allein der Sprachgebrauch (Marktkampf) lässt vermuten, dass die vom Bundesrat gewünschte Qualitätsstrategie hart erarbeitet werden muss. Der Milchmarkt zeigt im Übrigen exemplarisch: Die Schweizer Landwirtschaft hat ein Wertschöpfungsproblem. Es wird auf einigen Märkten sogar zu viel produziert. Bei Schweinefleisch, Butter oder Industriemilch ist die zu viel produzierte Menge zum Dauerproblem geworden.

Schweizer Landwirtschaft produziert auf historischer Rekordhöhe


Noch nie hat die Schweizer Landwirtschaft so viele Kalorien produziert wie in jüngster Vergangenheit. Die Statistik des Schweizerischen Bauernverbandes liefert dazu den Beweis (vgl. Tabelle 1). Die Produktion an Schweizer Lebensmitteln hat von 2008 auf 2009 um 1000 Terajoules (TJ) zugenommen. Es handelt sich dabei nicht um eine einmalige Rekordernte, sondern um einen langfristigen Trend. Der Vergleich der Jahre 2000/02 mit der Periode 2007/09 ergibt eine konsolidierte Steigerung der Bruttoinlandproduktion um 6,8%. Die Nettoproduktion (Produktion mit inländischen Futtermitteln) stieg in der gleichen Periode um 4,1%. Der Selbstversorgungsgrad blieb trotz Bevölkerungswachstum auf stabilem Niveau (ca. 62%). Angesichts des beträchtlichen Verlusts an guten, produktiven Böden durch Überbauung in der gleichen Periode sind die hohen Produktionszahlen schlicht erstaunlich.

Die Fakten zur Produktion von Kalorien


− Die Schweizer Bauern sind produktiv und nutzen clever den technischen sowie züchterischen Fortschritt.− Eine Extensivierung der Schweizer Landwirtschaft existiert nicht.− Die Versorgungssicherheit ist gegeben.− Das Wachstum der tierischen Produktion beruht mehrheitlich auf importierten Futtermitteln.Diese Fakten wurden bisher von der Politik zu wenig zur Kenntnis genommen. Das ist gefährlich. Denn sie bilden die Ausgangslage für die Weiterentwicklung der agrarpolitischen Rahmenbedingungen. Die Schweizer Landwirtschaft hat nicht das Problem, mengenmässig zu wenig zu produzieren. Sie hat aber Probleme mit der Wertschöpfung, und sie hat zunehmend ein Problem mit den steigenden Futterimporten. Die Nettoinlandproduktion von tierischen Lebensmitteln ist rückläufig, wie die Tabelle 1 zeigt. Zwischen 2000/02 und 2007/09 nahm die Produktion, die mit inländischen Futtermitteln produziert wurde, um 5,2% ab.Diese Futtermittelimporte belasten durch tierische Ausscheidungen unsere Böden und Gewässer. Der steigende Kraftfutterimport gefährdet mittlerweile auch die Glaubwürdigkeit der Schweizer Milchproduktion. Gemäss einer Studie von Agrofutura entsprechen die gesamten Futtermittelimporte der Schweizer Landwirtschaft (1 Mio. Tonnen pro Jahr) einer zusätzlichen virtuellen Anbaufläche im Ausland von ca. 250 000 ha, was praktisch einer Verdoppelung des aktuellen offenen Schweizer Ackerlandes entspricht. Der Import von Soja-Futtermitteln nahm von 2008 bis 2011 um 15% von 250 000 Tonnen auf 288 000 Tonnen zu. Mit Schweizer Eiern, Fleisch und Milch essen wir also auch brasilianische Soja. Wahrlich kein Ansatz für die Qualitätsstrategie.

Agrarreform auf Walliser Art?


Mit einer Zahlung von 900 000 Franken greift der Kanton Wallis den Milchbauern unter die Arme, die Industriemilch liefern. Wie am 1. Februar 2012 bekannt gegeben wurde, will der Kanton pro Kilogramm 15 Rappen für diese Milch bezahlen, ungeachtet, ob es dafür einen Markt gibt. Mit sinnvollen Direktzahlungen oder gar einer Qualitätsstrategie hat diese Walliser Aktion nichts gemeinsam. Zahlungen des Bundes (oder der Kantone) sollen Innovation und Wertschöpfung am Markt ermöglichen, nicht zerstören. Auf der Basis von Direktzahlungen für konkrete Leistungen wie Kulturlandschaft, Tierwohl, Biodiversität, Ressourcenschonung und – wenn notwendig – auch die Versorgungssicherheit soll Wertschöpfung entstehen. Direktzahlungen, die undifferenzierte Produktionsanreize darstellen sowie Märkte und Preise negativ beeinflussen, müssen aufgegeben werden. Die Agrarallianz (vgl. Kasten 2

Porträt Agrarallianz


Die 17 Trägerorganisationen der Agrarallianz (http://www.agrarallianz.ch) vereinigen Konsumentinnen und Konsumenten, 25 000 Bäuerinnen und Bauern sowie 500 000 Mitglieder der in Natur-, Umwelt-, Landschaft- und Tierschutz aktiven Organisationen. Das Denken in der ganzen Wertschöpfungskette steht im Vordergrund. Schon 2007 hielt die Agrarallianz in ihrem Porträt fest: «Wir verfolgen eine von den Chancen und einem positiven Bild der Zukunft ausgehenden Qualitätsstrategie.» Die Agrarallianz unterstützt die AP 14–17 ohne Wenn und Aber und lehnt alle Verwässerungsversuche auf Gesetzes- oder Verordnungsebene ab.

) befürwortet daher und aus Gründen des Umweltschutzes, dass pauschale Tierbeiträge durch zielorientierte Direktzahlungen ersetzt werden. Genau dies ist die wichtigste Stossrichtung der AP 14–17. Die Abschaffung der Tierbeiträge nimmt Druck weg, möglichst viele Tiere pro Fläche zu halten. Damit ist der Umwelt und dem Tierwohl gedient und die Marktpreise werden nicht länger verzerrt. Neue Programme wie «graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion» stärken die Positionierung der Schweizer Landwirtschaft in Richtung Natürlichkeit und Authentizität. Auf Basis dieser Zahlungen wird der Import von Soja aus Brasilien für die Milchviehfütterung reduziert. Das dient der Glaubwürdigkeit der Schweizer Milchproduktion und stärkt zudem Produkteinnovationen wie die 2011 lancierte Wiesenmilch. Die Direktzahlungen können so eine Wertschöpfungsstrategie der Ernährungswirtschaft ermöglichen und nicht wie bisher durch Anreize zur Massenproduktion eher behindern. In der Umsetzung der Qualitätsstrategie sind die Akteure zwischen der Heu- und der Essgabel gefragt. Der Staat gehört dabei in den Hintergrund – auch im Wallis.

Grafik 1: «Wirkung der Qualitätsstrategie»

Tabelle 1: «Übersicht der Nahrungsmittelversorgung, verwertbare Energie Terajoule (TJ), 1986–2009»

Kasten 1: Charta

Charta


Die «Charta zur Qualitätsstrategie der Schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft» wurde mit Vertretern der gesamten Wertschöpfungskette erarbeitet. Gemeinsam festgelegte Werte wie Marktorientierung, Genuss, Authentizität oder ein hohes Niveau bei Tierwohl und Umweltschutz sollen die Basis für die Weiterentwicklung der Food-Branche schaffen. Die Charta (ausdrücklich kein Papier des Bundes) wird zurzeit redaktionell überarbeitet und soll im Sommer 2012 von den Akteuren in der Wertschöpfungskette unterzeichnet werden.

Kasten 2: Porträt Agrarallianz

Porträt Agrarallianz


Die 17 Trägerorganisationen der Agrarallianz (http://www.agrarallianz.ch) vereinigen Konsumentinnen und Konsumenten, 25 000 Bäuerinnen und Bauern sowie 500 000 Mitglieder der in Natur-, Umwelt-, Landschaft- und Tierschutz aktiven Organisationen. Das Denken in der ganzen Wertschöpfungskette steht im Vordergrund. Schon 2007 hielt die Agrarallianz in ihrem Porträt fest: «Wir verfolgen eine von den Chancen und einem positiven Bild der Zukunft ausgehenden Qualitätsstrategie.» Die Agrarallianz unterstützt die AP 14–17 ohne Wenn und Aber und lehnt alle Verwässerungsversuche auf Gesetzes- oder Verordnungsebene ab.

Zitiervorschlag: Christof Dietler (2012). Klasse statt Masse: Eine Qualitätsstrategie für den Lebensmittelsektor. Die Volkswirtschaft, 01. April.