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Wachstumspolitik der Schweiz: Wer rastet, rostet

Wachstumspolitik der Schweiz: Wer rastet, rostet

Grundlegende Reformen haben lange Inkubationszeiten. Die vergleichsweise gute Situation der Schweiz im Jahr 2012 ist wesentlich auf richtige wirtschaftspolitische Weichenstellungen während der letzten zwei Jahrzehnte zurückzuführen. Entsprechend legen die Entscheidungen von heute die Basis für das volkswirtschaftliche Wachstum in fünf, zehn oder mehr Jahren. Es sind genau diese langen Zyklen, die der Politik – aufgrund der Wahlperioden naturgemäss auf kürzere Zeithorizonte ausgerichtet – grosse Schwierigkeiten bereiten. Die Wachstumspolitik des Bundes darf nicht zur Alibiübung verkommen. Damit die Schweizer Wirtschaft auch in Zukunft innovativ sein und den Wohlstand der Schweiz erhalten kann, ist der Wachstumspolitik wieder die nötige Priorität einzuräumen. Auch heisse Eisen – wie das Freihandelsabkommen im Agrar- und Lebensmittelbereich mit der EU – gilt es anzupacken.

Die Schweiz rühmt sich, Innovationsweltmeister zu sein. Die Arbeitslosenquote ist vergleichsweise tief; dasselbe gilt für die Staatsverschuldung. Die Kaufkraft der Bevölkerung ist hoch, und die Hochschulen haben ein ansprechendes Niveau. Trotzdem sind die Steuersätze moderat. Sind wir eine Insel der Glückseligen? Im internationalen Vergleich steht die Schweiz aktuell gut da, weil sie in der Vergangenheit einige richtige wirtschaftspolitische Entscheide gefällt hat. Seit dem EWR-Nein im Jahr 1992 hat sich in einigen Bereichen etwas bewegt. So hat die Schweiz die bilateralen Verträge mit der EU gutgeheissen, der Einführung einer Schuldenbremse für den Bund zugestimmt und Steuersenkungen auf kantonaler und nationaler Ebene beschlossen. Auch die Einführung des Kartellrechts, die (leider teilweise auf halbem Wege steckengebliebene) Liberalisierung von Infrastrukturmärkten (Telekom, Energie), neue Freihandelsabkommen und die Übernahme der Resultate der Uruguay-Runde haben das Wachstum positiv beeinflusst. Während die Notwendigkeit von Reformschritten in der Schweizer Wirtschaftspolitik in den 1990er-Jahren offensichtlich war, sind die Anstrengungen nach der Jahrtausendwende erlahmt und drohen nun in einer Situation des Erfolgs ins Gegenteil zu kehren. Es besteht die ernste Gefahr, dass sich die Politik in falscher Sicherheit wiegt und es deshalb verpasst, die richtigen wachstumsrelevanten Entscheide zu fällen. Es stehen sogar etliche Begehren auf der politischen Agenda, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Standortattraktivität der Schweiz führen würden.

Für eine kohärente und mutige Wachstumspolitik


Für eine kohärente Wachstumspolitik ist es daher zunächst entscheidend, mögliche Fehlentwicklungen zu vermeiden. So darf die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes nicht eingeschränkt werden. Die Personenfreizügigkeit mit der EU oder Kontingente für Drittstaaten werden von verschiedenen Organisationen in Frage gestellt und müssen daher – weil sie in Bezug auf das Wachstum zentral sind – gesichert werden. Zudem sind Abgaben- oder Steuererhöhungen zu vermeiden, und die erst gerade umgesetzte Unternehmenssteuerreform II darf nicht schon wieder in Frage gestellt werden. Generell gilt es, unternehmerische Freiräume möglichst zu erhalten. Zu einer kohärenten Wachstumspolitik gehört es aber auch, die Rolle des Staates immer wieder kritisch zu hinterfragen. Seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise wird verschiedentlich gefordert, der Staat müsse stärker in das Wirtschaftsgeschehen intervenieren. Eine Wachstumspolitik muss hier Einhalt gebieten: Jedes staatliche Eingreifen – und nicht die wirtschaftliche Freiheit – muss gerechtfertigt werden.

Weitere Verbesserungen sind notwendig


Neben dem Vermeiden von «Wachstumsbremsen» sind aber auch wirtschaftspolitische Entscheide nötig, wie die Schweiz ihre Wettbewerbsfähigkeit über den Status quo hinaus verbessern kann. Erstens sind Massnahmen zu ergreifen, damit sich die Produktivität der binnenwirtschaftlichen Aktivitäten erhöht. In den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Verkehr und Energie sind Liberalisierungsschritte überfällig, damit sich diese Sektoren am Markt orientieren und ihre Produktivität steigern. Zweitens sind die generellen Standortfaktoren zu verbessern, indem die Unternehmenssteuerreform III entschieden vorangetrieben und in Bildung und Forschung investiert wird; dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu legen. Drittens ist der internationale Marktzugang für Schweizer Waren und Dienstleistungen zu verbessern, indem neue Freihandelsabkommen mit wichtigen Schwellenländern – wie China und Indien – und mit dem Haupthandelspartner ausserhalb Europas, den USA, geschlossen werden.

Zitiervorschlag: Rudolf Minsch (2012). Wachstumspolitik der Schweiz: Wer rastet, rostet. Die Volkswirtschaft, 01. Mai.