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Deindustrialisierung – eine politische Tretmine

Deindustrialisierung – eine politische Tretmine

Es gibt für den wissenschaftlichen Ökonomen wirtschaftspolitische Begriffe, die deshalb problematisch sind, weil sie vieldeutig und somit letztlich nichtssagend daher kommen. Dazu zähle ich etwa den Service Public, die gleich langen Spiesse, die Nachhaltigkeit oder alle Bindestrich-Gerechtigkeiten. Leider muss ich auch die Deindustrialisierung dieser Kategorie zuteilen. Sie scheint wie das Bauernsterben gefühlsmässig negativ besetzt zu sein und daher nach staatlichen Eingriffen zu verlangen. Für Politiker, Gewerkschafter und Interessengruppen sind theoretisch unscharfe, aber emotional attraktive Problemetikettierungen begehrt, weil die Eingriffsphantasie gross ist und das Eingriffsinstrumentarium fast alles zulässt. Wettbewerbsbeschränkende Praktiken im Inland und protektionistische Massnahmen gegenüber dem Ausland stehen dabei im Vordergrund, um den – aus Interessensicht oder ideologischer Perspektive – unerwünschten Strukturwandel zu bremsen.

Die sektorspezifische Politikorientierung dominiert bekanntlich im Primärsektor, wo die herrschende Planwirtschaft den volkswirtschaftlichen Schaden nur deshalb in Grenzen hält, weil die Landwirtschaft schon fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft ist. Im Zeitalter der Globalisierung und nachindustriellen Revolution in Robotik, Informatik, Kommunikation sind die Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungen nur noch willkürlich zu ziehen. Fabrikhallen, Montagestrassen oder Grosswerkstätten voller Blue Collar Workers sind in der Schweiz fast vollständig verschwunden. Der industriell-gewerbliche Sekundärsektor ist weitgehend tertiarisiert, extrem spezialisiert und internationalisiert worden. Hinzu kommt die die globale Bedeutung schweizerischer Multis im Pharma-, Chemie- und Maschinenbereich. Der dritte Sektor der Dienstleistungen ist gegenüber den ersten beiden Sektoren heterogener und nimmt eine dualistische Zwischenstellung ein: Auf der einen Seite haben wir die international ausgerichteten und wettbewerbsfähigen Finanzdienstleister wie Banken und Versicherungen und auf der anderen Seite die national operierenden und wenig kompetitiven Detailhändler. Ebenso unscharf ist schliesslich die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Sektor mit einem rasch wachsenden Graubereich – insbesondere im Gesundheits- oder Sozialwesen – geworden.Die überkommene Dreisektoren-Betrachtung der Volkswirtschaft macht deshalb sowohl theoretisch wie empirisch keinen Sinn mehr. Statt sektor- oder gar branchenspezifisch müsste die Politik ordnungspolitisch konsequent auf gute allgemeine Rahmenbedingungen ausgerichtet werden. Industriepolitik ist so betrachtet a priori falsch – sicher wenn sie strukturerhaltend wirkt, aber leider auch dann, wenn sie strukturgestaltend sein will, wie beispielsweise im Falle der Cleantech- oder Alternativenergie-Förderung. Picking Winners muss den Finanz- und Absatzmärkten vorbehalten sein und darf daher keine Aufgabe von Bürokraten oder Interessenvertretern werden. Die wahre Triebkraft des produktivitätssteigernden Strukturwandels innerhalb und zwischen Unternehmen ist der Druck des internationalen Wettbewerbs, der durch die Aufwertungstendenz des Frankens noch verstärkt wird. Leider scheint sich mit der grossspurig angekündigten Energiewende eine Trendumkehr bei der staatlichen Innovationsförderung abzuzeichnen, die es zu bekämpfen gilt. Der technologische Innovationsprozess wird weiter laufen und sich eher noch beschleunigen. Doch in welche Richtungen und welchen Formen entzieht sich unserem Wissen. Was nicht voraussehbar ist, sollte auch nicht im Voraus verplant oder gar reguliert oder normiert werden. Der Markt ist und bleibt – trotz möglicher Mängel – nicht nur das beste, sondern auch das einzige Entdeckungsverfahren für erfolgreiche Innovationen. Die steuerlichen Rahmenbedingungen sind für den Unternehmensstandort Schweiz nach wie vor gut bis sehr gut. Sorge bereitet hingegen die Regulierungsflut oder -wut in funktional vitalen Bereichen wie Kommunikation, Verkehr, Energie oder Finanzen. Neben der ökonomisch ohnehin unseligen Preisüberwachung bewegen sich unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit immer mehr Regulatoren in Richtung bereichsspezifischer Diktatoren. Sie greifen häufig in einer Art und Weise in die private Vertragsautonomie, in Marktverhältnisse und Preisstrukturen ein, die weit stärker verzerrt als Steuern. Wenn die Schweiz in den letzten Jahren wieder an Wachstumsdynamik gewonnen hat, so dürfen wir uns darüber freuen. Wir müssen nur aufpassen, dass Politiker und Regulierungsbehörden dieses gute Resultat nicht ihren Taten zuschreiben und noch bestehende echte und vermeintliche Probleme als Marktversagen deklarieren, um ihren Einflussbereich auszudehnen. Wir sind so gut gefahren, weil wir so wenig gemacht haben!

Zitiervorschlag: Silvio Borner (2012). Deindustrialisierung – eine politische Tretmine. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.