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Wachstums- statt Industriepolitik

Nachdem die Schweiz die Finanz- und Wirtschaftskrise verhältnismässig erfolgreich zu überwinden vermochte, hat die starke Aufwertung des Schweizerfrankens innert Jahresfrist die Befürchtung einer übermässigen Deindustrialisierung aufkommen lassen. Die Sorge um die Perspektiven der industriellen Wertschöpfung ist zwar legitim; der Schritt hin zu einer staatlich geprägten Industriepolitik wäre aber falsch. Die mittel- und langfristigen Herausforderungen der Schweizer Volkswirtschaft liegen vielmehr bei der bescheidenen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität – insbesondere in binnenorientierten Dienstleistungssektoren. Die sektorenneutrale Wachstumspolitik des Bundes ist deshalb einer staatlichen Bevorzugung einzelner Wirtschaftsbereiche vorzuziehen.

Die Schweiz darf mit Genugtuung auf eine eine relativ gute Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise zurückblicken. Zwar konnte sich das Land als stark aussenhandelsorientierte Volkswirtschaft der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht entziehen und geriet ab Herbst 2008 in eine Rezession. Gleichwohl war der Einbruch der Wirtschaftsleistung in der Schweiz mit einer Schrumpfung des Bruttoinlandproduktes (BIP) um 1,9% deutlich weniger ausgeprägt als in vielen europäischen Ländern. Auch knapp vier Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise vermag die Schweizer Volkswirtschaft zu überraschen. Trotz Frankenaufwertung und Euro-Schuldenkrise nahm die Wirtschaftsleistung im Winterhalbjahr 2011/12 überraschend stark zu.

Ist die Angst vor einer verstärkten Deindustrialisierung begründet?


Trotz scheinbar souveräner Krisenbewältigung lasten Sorgen auf dem «Werkplatz Schweiz». Der starke reale Frankenkurs hat im vergangenen Jahr die Furcht um eine verstärkte Deindustrialisierung aufkommen lassen. Auch wegen der Konjunkturflaute in wichtigen Auslandmärkten gerieten die Margen vieler Exportunternehmen stark unter Druck. Es ist nachvollziehbar, dass sich in einem solchen Umfeld viele Firmen überlegen müssen, ihre wechselkursbedingt angeschlagene Wettbewerbsfähigkeit durch die Verlagerung einzelner oder ganzer Produktionsprozesse ins Ausland zu kompensieren. Wie andere Beiträge in dieser Ausgabe zeigen, dürfen die Befürchtungen um eine mögliche Deindustrialisierung des Wirtschaftsstandortes Schweiz nicht vergessen lassen, dass unsere Volkswirtschaft einem ständigen Strukturwandel ausgesetzt ist. Deindustrialisierung hat schon früher stattgefunden und findet auch in anderen Ländern statt. Der rückläufige Beschäftigungsanteil der Industrie war bisher in erster Linie auf den technischen Fortschritt und die starke Produktivitätszunahme in diesem Sektor zurückzuführen, was in vielen Dienstleistungsbranchen nicht in gleichem Umfang möglich ist. Ob der starke Schweizerfranken über diesen Prozess hinaus die Deindustrialisierung über Gebühr beschleunigt, ist noch nicht absehbar. Auf jeden Fall verschärft die Wechselkurssituation den ohnehin schon starken internationalen Wettbewerbsdruck. Wie sich das Wechselkursgefüge auch immer entwickelt: Falsch wäre es, aufgrund der befürchteten Deindustrialisierung nach einer staatlichen Industriepolitik zu rufen (siehe Kasten 1

Was ist unter Industriepolitik zu verstehen?


Industriepolitik ist die gezielte Förderung bestimmter Wirtschaftssektoren im Rahmen der Wirtschaftspolitik. Entgegen dem Wortlaut bezieht sich der Begriff nicht auf die Industrie im engeren Sinne (d.h. auf das Verarbeitende Gewerbe), sondern umfasst alle Massnahmen, die auf die selektive Entwicklung eines Wirtschaftszweiges einwirken. Die aktive Förderung eines Wirtschaftszweigs – wie z.B. der Finanz- oder der Informationsbranchen – kann deshalb sogar zu einer Abnahme der eigentlichen Industrie führen. Die mit der Industriepolitik verfolgten Ziele umfassen die Erhaltung inländischer Produktion, eine Abfederung struktureller Anpassungsprozesse oder die Stärkung von Branchen, die als «zukunftsträchtig» angesehen werden.

). Auch wenn die wirtschaftswissenschaftliche Forschung durchaus Gründe für industriepolitische Massnahmen – etwa im Rahmen der Entwicklung von Exportindustrien in Entwicklungsländern – herausgearbeitet hat, ist eine solche Praxis in der Realität mit etlichen Problemen behaftet. Problematisch sind etwa Verteilungsfragen, da mit Industriepolitik immer auch Benachteiligungen und Diskriminierungen verbunden sind. Überdies machen versteckte, aber der Allgemeinheit auferlegte Kosten aus der Industriepolitik eine teure wirtschaftspolitische Massnahme. Schwer wiegt auch, dass der Staat in der Regel nicht dazu in der Lage ist, ex ante die «richtigen» Industrien auszuwählen. Politisches Lobbying erschwert nicht nur die Analyse und Bezeichnung «zukunftsträchtiger Branchen», sondern auch den Ausstieg aus industriepolitischen Massnahmen, auch wenn diese hinfällig geworden oder nicht erfolgreich sind. Die Kosten des aufgeschobenen Strukturwandels fallen dann im Nachhinein oft höher aus als vermutet.

Verwischte Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungen


Die Entwicklung muss vielmehr mit Besonnenheit beurteilt werden und auf einer realistischen Einschätzung der dynamischen Entwicklung der Schweizer Volkswirtschaft beruhen. Dazu müssen wir wohl auch unser traditionelles Bild der Industrie überdenken. Macht es heute noch Sinn, unsere Politik an einer starren Unterscheidung zwischen Industrie und Dienstleistungen auszurichten, wenn die Industrieunternehmen auch zunehmend Dienstleistungsarbeitsplätze anbieten und in innovativer Weise industrielle Prozesse mit Dienstleistungen verbinden? Sowohl im Dienstleistungssektor als auch in der Industrie finden sich hochproduktive Branchen und Firmen, die auf dem Weltmarkt Erfolge erzielen und hochwertige Arbeitsplätze auf allen Qualifikationsstufen bieten. Unbestritten bleibt, dass die Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen so setzen muss, dass Unternehmen aller Branchen ihr produktives Potenzial entfalten können. Wenn der Grund für den kleiner werdenden Anteil produktiver Branchen vor allem darin liegt, dass die übrigen Branchen ihr Potenzial durch fehlgeleitete Regulierungen zu wenig nutzen, dann müssen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen dahingehend überprüft werden, dass gerade auch diese Branchen ihre Produktivität erhöhen (müssen). Dies, und nicht das Fördern «nationaler Champions», ist der Grundgedanke der Wachstumspolitik des Bundes.

Binnenorientiere Dienstleistungen mit Potenzial


Die Wachstumspolitik des Bundes geht folglich einen anderen Weg als eine Industriepolitik.
Vgl. Die Volkswirtschaft 5-2012, S. 3–41. Die Wachstumspolitik ist sektoren- und branchenneutral und geht der einfachen Frage nach, welche treibenden Kräfte des wirtschaftlichen Wachstums gestärkt werden müssen. Dabei gilt für die Schweiz nach wie vor: Unser Land scheint wettbewerbsfähig und reich, weil die hohe Erwerbsbeteiligung internationale Spitzenwerte erreicht. Demgegenüber ist die Schweiz beim Niveau und der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität als zweiter Quelle des Wachstums im Vergleich zu den fortgeschrittenen Industrienationen nur Durchschnitt. Deshalb setzt die Wachstumspolitik in den kommenden Jahren an der verhältnismässig schwachen Dynamik der Entwicklung der Arbeitsproduktivität an. Der Zuwachs der Arbeitsproduktivität ist nicht nur der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaft, sondern als Treiber der Reallohnentwicklung auch des individuellen Wohlergehens. Wie der Wachstumsbericht 2012-2015 des Bundesrates weiter zeigt, liegen die Herausforderungen vor allem bei den binnenorientierten (Dienstleistungs-)Sektoren. Der Industriesektor blieb bisher in der Schweiz zwar relativ bedeutend. Schon von den Beschäftigtenanteilen her wird aber der binnenorientierte Dienstleistungssektor einen immer höheren Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung ausüben. Ohne weitere Reformen droht sich die Dualisierung der Volkswirtschaft mit international wettbewerbsfähigen Exportzweigen einerseits und wenig produktiven Binnensektoren anderseits zu verschärfen.

Kasten 1: Was ist unter Industriepolitik zu verstehen?

Was ist unter Industriepolitik zu verstehen?


Industriepolitik ist die gezielte Förderung bestimmter Wirtschaftssektoren im Rahmen der Wirtschaftspolitik. Entgegen dem Wortlaut bezieht sich der Begriff nicht auf die Industrie im engeren Sinne (d.h. auf das Verarbeitende Gewerbe), sondern umfasst alle Massnahmen, die auf die selektive Entwicklung eines Wirtschaftszweiges einwirken. Die aktive Förderung eines Wirtschaftszweigs – wie z.B. der Finanz- oder der Informationsbranchen – kann deshalb sogar zu einer Abnahme der eigentlichen Industrie führen. Die mit der Industriepolitik verfolgten Ziele umfassen die Erhaltung inländischer Produktion, eine Abfederung struktureller Anpassungsprozesse oder die Stärkung von Branchen, die als «zukunftsträchtig» angesehen werden.

Zitiervorschlag: Eric Scheidegger (2012). Wachstums- statt Industriepolitik. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.