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Handel im Wandel: Die Schweiz braucht eine Aussenwirtschaftsethik

Menschenrechtsfragen dürfen in Freihandelsabkommen nicht ausgeklammert werden. Diese Einsicht scheint sich auch beim Bundesrat langsam durchzusetzen. Noch fehlt es ihm jedoch am notwendigen Mut, den Schutz von Arbeits- und Menschenrechten mit griffigen und verbindlichen Bestimmungen einzufordern. Besonders wichtig wäre dies für Handelsverträge mit asiatischen Ländern, die hier oft noch grosse Defizite aufweisen. Speziell auch im Hinblick auf die aktuellen Verhandlungen mit China ist zu hoffen, dass die Schweizer Regierung ihre zögerliche Haltung endlich aufgibt und für eine kohärentere und ethischere Aussenwirtschaftspolitik sorgt.

Handelspolitik ist immer auch Menschenrechtspolitik. Davon wollte die Schweizer Regierung bis vor wenigen Jahren aber noch nichts wissen. Vehement verteidigte sie – und mit ihr das federführende Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) – ihre sogenannte «sektorielle Politik». So rief die damalige Wirtschaftsministerin Doris Leuthard bei der Debatte zum Freihandelsabkommen (FHA) mit Kolumbien im Frühjahr 2009 in den Nationalratssaal: «Wenn Sie eine neue Handelspolitik etablieren wollen, indem Sie zuerst Kategorien von Ländern machen wollen, die für die Schweiz noch menschenrechts- oder umweltunwürdig sind, dann bin ich gespannt, was Sie bei den Verträgen mit Indien und mit China vorhaben. (…) Die sektorielle Politik der Schweiz war bisher ein Erfolg, und andere Staaten folgen uns.»
Freihandelsabkommen zwischen den Efta-Staaten und der Republik Kolumbien. Genehmigung. Amtliches Bulletin. Die Wortprotokolle (09.030): Nationalrat, Sommersession 2009, erste Sitzung. Heute ist Frau Leuthard nicht mehr Wirtschaftsministerin. Ihr Nachfolger, Johann N. Schneider-Ammann, tat der vor Ort versammelten Medienschar bei seinem China-Besuch kürzlich kund, er habe bei seinen Treffen mit chinesischen Ministern auch die Menschenrechte angesprochen.

Kommissionsauftrag und NGO-Druck


Sie bewegt sich also doch, die politische Schweiz. Geholfen dabei hat offenbar gezielter zivilgesellschaftlicher Druck. Bundesrat Schneider-Ammann hat nämlich konzediert, dass er mit der Thematisierung der Menschenrechte in China der Aufforderung von Schweizer Hilfswerken und Entwicklungsorganisationen gefolgt ist. Aber auch von der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N) erhielt der Wirtschaftsminister den klaren Auftrag, ein Nachhaltigkeitskapitel ins angestrebte Abkommen mit China zu integrieren, das insbesondere Vereinbarungen über die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beinhaltet.Diese ILO-Normen sind die Essenz des internationalen Arbeitsrechts und legen Mindeststandards bezüglich dem Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, der Beseitigung von Zwangsarbeit und Kinderarbeit sowie dem Diskriminierungsverbot fest. Sie gelten deshalb zurecht als grundlegende Menschenrechte. Auch Staaten, die nicht alle acht Normen ratifiziert haben, müssen sich an ihnen orientieren. Im Bereich der Zwangsarbeit und Gewerkschaftsfreiheit gibt es auch Berührungspunkte mit den UNO-Menschenrechtspakten. Doch genau diese Kernarbeitsnormen lehnt das offizielle China immer noch ab. Noch während seiner jüngsten China-Reise hat Schneider-Ammann klargestellt, dass es kein in das FHA integriertes Nachhaltigkeitskapitel geben wird. Dies ist doppelt inakzeptabel. Erstens ist das Nachhaltigkeitskapitel – inkl. ILO-Normen – integraler Bestandteil des 2011 unterzeichneten FHA zwischen der Efta und Montenegro und damit verbindlich. Oder möchte die Schweiz je nach Vertragspartner und wirtschaftspolitischer Opportunität unterschiedliche menschen- und arbeitsrechtliche Mindeststandards festlegen? Und zweitens hat China gerade in Bezug auf Gewerkschaftsfreiheit und Zwangsarbeit einen miserablen Leistungsausweis. Gemäss der renommierten Laogai Research Foundation verrichten derzeit in über 1000 Lagern mehrere Millionen Chinesen und Chinesinnen Zwangsarbeit – und dies oft ohne gerichtliches Urteil und aus Gesinnungsgründen.
Vgl. The Laogai Research Foundation: Laogai Handbook 2007–2008. LRF, Washington, DC. 2008 (http://www.laogai.org/system/files/u1/handbook2008-all.pdf).

Moralischer Imperativ


Die Mustervorlage des erwähnten Nachhaltigkeitskapitels enthält auch einen Artikel zum Verhältnis von FHA zu anderen internationalen Abkommen. Dieser soll sicherstellen, «dass das Freihandelsabkommen den anderen internationalen Abkommen, einschliesslich der Abkommen auf dem Gebiet der Menschenrechte, der Umwelt und der Arbeitsnormen nicht entgegensteht».
Seco, Abschluss der Arbeiten der EFTA zu Handel, Umwelt und Arbeitsnormen. Presserohstoff, 15.6.2010 (http://www.seco.admin.ch, Themen, Aussenwirtschaft, Freihandelsabkommen). Verpasst es die Schweiz, das Verbot von Zwangsarbeit im FHA verbindlich festzuschreiben, verstösst sie gegen den Geist dieses Artikels und würde die eklatante Missachtung arbeitsrechtlicher Mindeststandards seitens China sanktionieren – und damit ein bedenkliches Präjudiz für FHA anderer Länder mit China schaffen.Im letzten Staatenberichtsverfahren zur Schweiz hat der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unserer Regierung empfohlen, die menschenrechtlichen Verpflichtungen von Partnerstaaten zu berücksichtigen, mit denen sie FHA verhandelt und abschliesst. Auch daran sollte sich die Schweiz halten und die Auswirkungen ihrer Handelspolitik auf die Menschenrechtssituation im Partnerland genau prüfen.Auf eine Frage im Nationalrat zu den Zwangsarbeitslagern in China antwortete der Bundesrat kürzlich: «Die Schweiz engagiert sich sowohl bilateral als auch auf multilateraler Ebene für die Respektierung der Menschenrechte und der Sozial- und Arbeitsstandards sowie insbesondere für die Abschaffung und das Verbot der Zwangsarbeit.»
Bundesversammlung. Freihandelsabkommen mit China. Zwangsarbeitslager. Frage eingereicht von NR Martin Naef, 29.02.2012 (12.5050). Es gibt wohl keine passendere Gelegenheit als die laufenden FHA-Verhandlungen mit China, um die Ernsthaftigkeit des schweizerischen Engagements gegen die Zwangsarbeit unter Beweis zu stellen.

Rechtlicher Imperativ


Die Verpflichtungen, die ein Staat für den Menschenrechtsschutz eingegangen ist, enden nicht an seinen Landesgrenzen. Immer wieder weisen UNO-Menschenrechtsgremien die Staaten auf ihre internationalen Pflichten hin. Heute besteht weitgehender Konsens, dass rechtskräftige Menschenrechtsverträge den Unterzeichnerstaaten auch extraterritoriale Verpflichtungen auferlegen. Diese haben eine solide Grundlage im allgemeinen Völkerrecht und werden laufend konkretisiert. Mit der Ratifizierung der Menschenrechtspakte besteht auch für die Schweiz die Verpflichtung, in ihren FHA den Schutz und die Respektierung der Menschenrechte im Partnerland zu berücksichtigen.Zu diesem Schluss kommt auch ein Rechtsgutachten des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) zum FHA zwischen der Schweiz und China. Demnach besteht eine sich sowohl aus dem innerstaatlichen als auch aus dem Völkerrecht ergebende Pflicht der Schweiz, die menschenrechtlichen Auswirkungen eines solchen FHA abzuklären. Das Gutachten spricht sogar von einer «Pflicht zur menschenrechtssensiblen Verhandlungsführung» und meint damit die «grundsätzliche Verpflichtung» der Schweiz, die Ergebnisse der Abklärungen in die Verhandlungen mit China einfliessen zu lassen.
Vgl. Niedrig J. und C. Kaufmann: Menschenrechtssensible Bereiche im Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China. Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte und Kompetenzzentrum Menschenrechte der Universität Zürich, 2011 (http://www.skmr.ch, Themenbereiche, Menschenrechte und Wirtschaft, News, Studie zu Freihandelsabkommen mit China).

Wirtschaftlicher Imperativ


Solange in China fundamentale Arbeitsrechte wie die Gewerkschaftsfreiheit und das Zwangsarbeitsverbot nicht respektiert werden, besteht die Gefahr, dass der wirtschaft-liche und handelspolitische Wettbewerb zu einer Abwärtsspirale bei den Arbeitsbedingungen führt – zu einem Race to the Bottom. Davor hat in dieser Zeitschrift vor 10 Jahren schon der damalige stellvertretende Leiter für Internationale Arbeitsfragen beim Seco und heutige FDP-Generalsekretär gewarnt und festgehalten: «Die unsichtbare Hand des Marktes alleine verhilft allerdings nicht zur Wahrung der Menschenrechte.»
Vgl. Brupbacher S. «Menschenrechte und Wirtschaft – Wirklichkeit und Utopie». In: Die Volkswirtschaft 01/2002 Spezialausgabe «Globalisierung», S. 54–58.Es darf nicht sein, dass Schweizer Produkte – oder solche aus anderen Ländern – auf dem heimischen Markt durch menschenrechtswidrig produzierte Güter und Dienstleistungen aus China konkurrenziert werden, die gleichzeitig von den Vorzugsbedingungen eines FHA profitieren. Verhindert werden muss im Rahmen des FHA auch, dass Schweizer Unternehmen, die in China produzieren (lassen), von dessen Vorzugsbedingungen profitieren, aber nicht ausschliessen können, dass sie dabei Zwischenprodukte aus Arbeitslagern verwenden.

Mauern oder Windmühlen?


Nach den ersten Bemühungen der Schweizer Regierung, den mit einer kohärenten und ethischen Aussenpolitik inkompatiblen Ansatz der sektoriellen Politik zu überwinden, muss der Bundesrat nun den Mut aufbringen, zukunftsweisende Freihandelsabkommen auszuhandeln, die möglicherweise nicht vollständig mit kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen zu vereinbaren sind. Dazu gehören griffige und verbindliche Bestimmungen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte. Dies wäre nicht nur ein starkes Signal an China und die übrige Welt, dass die Schweiz Zwangsarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen nicht toleriert. Es wäre auch der Tatbeweis, dass der Bundesrat gewillt ist, Windmühlen statt Mauern zu bauen. Denn der chinesische Volksmund weiss: «Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.»

Zitiervorschlag: Thomas Braunschweig (2012). Handel im Wandel: Die Schweiz braucht eine Aussenwirtschaftsethik. Die Volkswirtschaft, 01. September.