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Der Atomausstieg muss zwingend vors Volk

Die Energiestrategie 2050 ist für den Souverän in ihren Konsequenzen nicht leicht zu verstehen. Vereinfacht gesagt ist sie ein Konglomerat von drei Energiepolitiken: Mobilität, Wärme und Strom. In prinzipieller Hinsicht unstrittig sind Mobilität und Wärme. Es geht hier um Reduktionen des Verbrauchs fossiler Energieträger und deren teilweisen Ersatz durch Solarthermie, Biomasse, Geothermie und Strom. Die dafür vorgesehenen Massnahmen sind denn auch einfach zu verstehen. Diametral anders verhält es sich mit der Strom-Strategie, die eine radikale Umkehr will: weg von der Kernkraft, hin zu Gaskombikraftwerken, Importen und neuen erneuerbaren Energien. Hier muss das Volk mitreden können.

Der Atomausstieg muss zwingend vors Volk

Der fundamentale Unterschied der Strom- zur Mobilitäts- und Wärme-Energiepolitik besteht darin, dass, wenn ein Atomausstieg beschlossen werden sollte, eine Umkehr schwierig, in Teilen sogar unmöglich wird. Ist der Industriestandort einmal geschwächt und sind wesentliche Produktionsanlagen ins Ausland verlegt, ist dies irreparabel. Unumkehrbar sind auch langfristige Finanzierungen und Finanzierungszusagen für sich als unrentabel erweisende Infrastrukturen und Stromproduktionsarten wie Photovoltaik und Wind.Für politische Regelungen, die für ein Land geradezu schicksalshaft sind, ist eine Frage zentral: Wann sind durch wen welche Entscheide zu treffen? Die Frage nach einem Atomausstieg ist so fundamental, dass über sie in einem Grundsatzentscheid vor irgendwelchen Einzelbeschlüssen – aber in deren Kenntnis – zu entscheiden ist. Eine solche Fundamentalentscheidung indirekt über die Abstimmung von Einzelbeschlüssen umgehen zu wollen, ist nicht statthaft. Angesichts der Fülle und Variabilitäten möglicher Folgemassnahmen müssen nämlich auch solche, die den Ausstieg ablehnen, das Recht behalten, gegebenenfalls an der Gestaltung einer kernkraftfreien Stromzukunft mitzuwirken.

Entscheid auf Verfassungsstufe


Der Ausstiegs-Grundsatzentscheid muss auf Verfassungsstufe fallen. Nebst verfassungsrechtlichen Gründen gebietet dies auch die «politische Weisheit». Nur so kann eine Akzeptanz erreicht werden, welche erst eine befriedete Energiezukunft zu gewährleisten vermag. Daran müssten eigentlich auch Bundesrat, Parlament und Kernkraftgegner interessiert sein. Einer Grundsatzentscheidung ausweichen zu wollen, mit der Begründung, ein Ausstieg entspreche offenkundig einer klaren Mehrheitsmeinung, wäre nur dann nicht opportunistisch, wenn von einem solchen Mehrheitswillen mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden könnte. Allein schon Plausibilitätsüberlegungen sind es, die einen solchen Wahrscheinlichkeitsgrad ausschliessen:− Die uns wirtschaftlich konkurrierende Welt setzt grösstenteils weiterhin auf die Kernkraft. Die dort lebenden Menschen sind ja nun aber nicht à priori dumm und verantwortungslos. Vielmehr entscheiden sie sich für die Kernkraft, weil sie wissen, so bessere Chancen im weltweiten Wirtschaftswettbewerb zu haben.

− Die Stromproduktion mit Kernkraftwerken ist finanziell, bezüglich Versorgungssicherheit wie auch hinsichtlich des Klimas, der Landschaftsbelastung und den Infrastrukturerfordernissen zusammen mit der Wasserkraft (und eventuell der Geothermie) den Alternativen weit überlegen. Ihr Haupteinwand betrifft die Sicherheit. Diese in einem rational erfassbaren Vergleich zu anderen Risiken zu relativieren, ist bei einer umfassenden Aufklärung durchaus realistisch und möglich.

− Von den heutigen Kernkraft-Ländern will vor allem Deutschland aussteigen. Dessen Kernkraftanteil betrug (2007) 22,5%, der schweizerische dagegen 40%. Zudem hat Deutschland Kohle. Wir haben keine fossilen Rohstoffe. Obwohl somit weniger gefordert als die Schweiz, hat sich Deutschland mit der Neuausrichtung seiner Stromversorgung desaströse, schon jetzt jährlich rund 25 Mrd. Franken kostende Probleme aufgeladen.

Gravierende negative Folgen zu
befürchten


Meine Ausführungen lassen erahnen, dass ich – anders als bei der Wärme- und Mo­bilitätsenergiepolitik – im Strombereich an das Funktionieren der Energiestrategie 2050 nicht glaube. Zumindest aber beurteile ich deren negative Folgen als so gravierend, dass die Schweiz bei einem Ausstieg wirtschaftlich ein anderes (ärmeres) Land würde. In solchen Schicksalssituationen haben wir einen durch nichts zu ersetzenden Vorteil: dass nämlich Volk und Stände darüber befinden können. Auch die Energiestrategie 2050 muss deshalb einen Weg hierfür aufzeigen und dabei unser direktdemokratisches Selbstverständnis hochhalten. Vorab und prioritär haben Bundesrat und Parlament eine klar formulierte Verfassungsbestimmung vorzuschlagen. Diese hat zu gewährleisten, dass Volk und Stände sich unzweideutig zur Frage äussern können, ob wir eine schweizerische Stromzukunft mit oder ohne Kernkraft wollen.

Zitiervorschlag: Rolf Schweiger (2012). Der Atomausstieg muss zwingend vors Volk. Die Volkswirtschaft, 01. November.