Die Regulierung des schweizerischen Strommarktes ist im internationalen Vergleich weniger effizienzorientiert
Mit den regulatorischen Veränderungen zur Gestaltung des Strommarktes werden die Komponenten des Endkundenpreises auf den verschiedenen Wertschöpfungsstufen direkt und indirekt beeinflusst. Keystone
Das Regulierungsumfeld wird sich wandeln
Im Vergleich zum europäischen Umfeld befindet sich die Strommarktöffnung in der Schweiz im Rückstand. Während in zahlreichen EU-Ländern seit mehreren Jahren alle Verbraucher ihren Stromlieferanten frei wählen können, ist dies in der Schweiz gemäss Stromversorgungsgesetz (StromVG) erst seit 2009 und nur für Grossverbraucher möglich. Verschiedene Faktoren führen dazu, dass sich der regulatorische Rahmen in
der Schweiz verändern wird. Dazu gehören etwa die vom Bundesrat geplante zweite Stufe der Marktöffnung, die Umsetzung der Energiestrategie 2050 oder die verstärkte Einbindung der Schweiz in das europäische Stromversorgungskonzept (Stichwort Energieabkommen). Mit den regulatorischen Veränderungen zur Gestaltung des Strommarktes werden die Komponenten des Endkundenpreises auf den verschiedenen Wertschöpfungsstufen direkt und indirekt beeinflusst. Grundsätzlich können vier relevante Komponenten des Strompreises identifiziert werden (vgl. Grafik 1). Der Preis für die Elektrizität (Energiepreis) ergibt sich zweistufig über den Gross- und Detailhandelspreis. Im Bereich des Grosshandels ist zudem die Nutzung von Übertragungskapazitäten an den Landesgrenzen für die Preisbildung relevant (Grenzkapazitätspreis). Der Regelenergiepreis bildet sich in der Regel zwischen Erzeugern als Anbieter und dem Systemdienstleister als Nachfrager. Das Netznutzungsentgelt – der Preis für die Nutzung der Infrastruktur zum Transport und zur Verteilung von Elektrizität – ergibt sich aufgrund des jeweiligen Regulierungsrahmens für das Netz als «monopolistisches Bottleneck».Im Hinblick auf eine effiziente Stromversorgung ist es wichtig, dass die Preise den Akteuren die «richtigen» Knappheitssignale senden. Um die Funktionsfähigkeit des Preismechanismus zu untersuchen, hat das Seco Polynomics beauftragt, die aktuelle Strommarktregulierung der Schweiz auf Basis eines ökonomisch fundierten Referenzmodells zu beurteilen und mit anderen Ländern zu vergleichen.[1]
Regulierung wo nötig und Markt wo möglich
Im Endkundenpreis sind Abgeltungen für die in Grafik 1 aufgeführten Wertschöpfungsstufen enthalten. Für die Preisbildung ist auf jeder einzelnen Stufe mit einem Referenzmodell zu prüfen, ob es aufgrund technischer oder ökonomischer Restriktionen einen Regulierungsbedarf gibt, und wenn ja, welche Regulierungsausgestaltung sich aus Effizienzoptik als zielführend erweist. Um die erforderlichen Massnahmen abschätzen zu können, sind Ziele zu formulieren, an denen sich ein regulatorischer Eingriff in die Preisbildung zu orientieren hat. Dem Referenzmodell liegen folgende grundsätzlichen Annahmen zu Grunde:− Eine wettbewerbliche Marktorganisation ergibt sich auf einer Wertschöpfungsstufe ohne Regulierungseingriffe, wo weder ökonomische noch technische Restriktionen Marktversagen begründen. − Verhindern ökonomische oder technische Restriktionen eine wettbewerbliche Marktorganisation, sind auf die Behebung des Marktversagens zugeschnittene Regulierungen notwendig. Aus ökonomischer Sicht sind diese Regulierungen positiv zu beurteilen, falls zu erwarten ist, dass sie zu einer effizienteren Allokation der Ressourcen einer Volkswirtschaft führen. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn die Regulierung dazu beiträgt, externe Kosten der Stromproduktion zu internalisieren, oder wenn sie verhindert, dass Monopolpreise zu ineffizientem Konsum führen. Die Regulierung soll dabei einen volkswirtschaftlich effizienten Mitteleinsatz sichern und nicht selbst zu Ineffizienzen führen (Regulierungsversagen). Das übergeordnete Effizienzziel kann zudem hinsichtlich weiterer Regulierungsziele – wie der Sicherung der langfristigen Versorgungssicherheit oder der Sicherstellung der kurzfristigen Versorgungsqualität – konkretisiert werden.
Identifikation von Best-Practice durch einen Vergleich mit dem Referenzmodell
Basierend auf der ökonomischen Analyse des Regulierungsbedarfs bei den verschiedenen Preiskomponenten lassen sich insgesamt 24 relevante Regulierungsfragen identifizieren (vgl. Tabelle 1). Unterschieden werden dabei regulatorische Eingriffe beim Energiepreis (Grosshandels- und Detailhandelspreis sowie dem Preis für die Nutzung von knappen Grenzkapazitäten), beim Preis für die Regelenergie sowie bei den Netznutzungsentgelten. Jede dieser Regulierungsfragen lässt sich unter Berücksichtigung der dem Referenzmodell zugrundliegenden Annahmen hinsichtlich Effizienz- und Verteilungskriterien beantworten.Um die Schweiz im internationalen Vergleich zu positionieren, wurde die konkrete Regulierungsumsetzung der Regulierungsfragen in Deutschland, Österreich, Norwegen, den Niederlanden und Kalifornien untersucht. Damit wurden bewusst Länder ausgewählt, die entweder eine zur Schweiz vergleichbare Erzeugerstruktur oder Marktgrösse aufweisen, über mehrjährige Erfahrungen mit alternativen Regulierungssystemen verfügen, vielfach als Vorbild für die Schweiz dienen oder negative Erfahrungen mit Regulierungsfehlern gemacht haben. Um die Best Practice zu erkennen, wurden die konkreten Regulierungsumsetzungen in den Ländern mit dem Referenzmodell verglichen. Zur Beurteilung der Regulierungsumsetzung wurde zudem die konkrete Vorgehensweise im Quervergleich mit anderen Ländern und im Vergleich zum Referenzmodell anhand der Regulierungsfragen beurteilt. Steht die Effizienzwirkung analog zum Referenzmodell im Fokus der Regulierungsumsetzung, wurde diese für das betreffende Land mit 1 bewertet. Weicht dagegen die Regulierungsumsetzung von der im Referenzmodell vorgeschlagenen Umsetzung ab, wurde entweder der Wert 0,5 oder 0 vergeben. Je stärker die Verteilungswirkungen bei der Regulierungsumsetzung angestrebt werden, desto eher liegt die Beurteilung bei 0. Die einzelnen bewerteten Regulierungsfragen wurden anschliessend entsprechend dem Anteil der einzelnen Preiskomponenten am gesamten Strompreis (in der Schweiz) gewichtet und zu einem Index zusammengefasst. Von den betrachteten Ländern zeichnet sich das derzeit gültige Regulierungssystem in der Schweiz (Stand Frühjahr 2012) durch die geringste Effizienzausrichtung aus. Am stärksten ist die Effizienzorientierung in Norwegen. Auch in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Kalifornien ist das Regulierungssystem stärker auf die Effizienzwirkung ausgerichtet als in der Schweiz (vgl. Grafik 2). Analysiert man die Regulierung der einzelnen Wertschöpfungsstufen, so ist in den betrachteten Ländern insbesondere die Regulierung der Grenzkapazitäts- und der Regelenergiepreise stark auf die Effizienz ausgerichtet. In der Schweiz ergeben sich vor allem bei der Regulierung der Grenzkapazitäten Defizite in der Effizienzausrichtung, da keine impliziten Auktionen – d.h. Koppelung der Kapazitäten an konkrete Transporte – durchgeführt werden. Überdies schränken die Langfristverträge, welche in der Schweiz noch bestehen, die Effizienz der Allokation von Grenzkapazitäten teilweise ein. Auch bei der Regulierung der Regelenergiepreise positioniert sich die Schweiz bezüglich Effizienzorientierung im Mittelfeld der betrachteten Länder. Einschränkungen ergeben sich bezüglich der Weitergabe der Abgeltungen für die Vorhaltung von Regelleistung, die heute als Systemdienstleistungsentgelt in Abhängigkeit vom Energieverbrauch – d.h. unabhängig von der Prognosegenauigkeit – verrechnet werden.
Starke Verteilungsoptik beim Gross-/ Detailhandelspreis und bei Netznutzungsentgelten
Deutlich weniger effizienzorientiert ist in den betrachteten Ländern die Regulierung der Gross- und Detailhandelspreise sowie der Netznutzungsentgelte. Eine Ausnahme bildet die Regulierung der Grosshandelspreise in Norwegen. Der Unterschied zwischen Norwegen und den übrigen betrachteten Ländern liegt in der Art der Förderung der erneuerbaren Energien, die zur Internalisierung externer Effekte der Stromproduktion und des Stromtransports praktiziert wird. Anstelle der in den übrigen Vergleichsländern praktizierten Einspeisevergütungen, die zu Marktverzerrungen führen können, besteht in Norwegen ein Zertifikathandel ohne Bindung an bestimmte Produktionstechnologien. Die Schweiz weist sowohl bei der Grosshandels- als auch bei der Detailhandelspreisregulierung im Ländervergleich die geringste Effizienzorientierung auf. Hauptsächlich verantwortlich hierfür sind auf der Grosshandelsstufe die «Gestehungskostenregulierung» und die Nicht-Teilnahme am europäischen CO2-Zertifikatehandel. Beim Detailhandel ist aus Effizienzoptik ausserdem die Teilmarktöffnung negativ zu beurteilen. Bei der Regulierung der Netznutzungsentgelte ist die Effizienzorientierung in allen betrachteten Ländern vergleichsweise schwach ausgeprägt. Die Schweiz und Kalifornien schneiden bezüglich der Effizienzorientierung der Netznutzungsentgelte im Vergleich mit den anderen Ländern schlechter ab. Mitverantwortlich ist die kosten- statt anreizbasierte Netzentgeltregulierung. Auf die Investitionsanreize wirkt sich diese jedoch positiv aus. In Kalifornien schliesslich stehen relativ starke Eingriffe in die Struktur der Netznutzungsentgelte der Effizienzorientierung entgegen.
Massnahmen im Hinblick auf eine stärkere Effizienzausrichtung
Die Analyse zu den Regulierungen der verschiedenen Preiskomponenten kommt zum Schluss, dass folgende Anpassungen der Strommarktregulierung in der Schweiz zu einer stärkeren Effizienzausrichtung führen:− Vollständige Marktöffnung und damit verbunden eine Abschaffung der Grundversorgungsregulierung mit der heute angewandten «Gestehungskostenregulierung».− Einführung einer Anreizregulierung mit individuellen Anreizen zur Belohnung vergangener Effizienzanstrengungen sowie zur Sicherstellung genügender Investitionsanreize für den zukünftigen Um- und Ausbau der Netze. Hier wäre z.B. denkbar, dass ein Effizienzvergleich auf Basis der durchschnittlichen einer vergangenen Zeitperiode als Indikation für individuelle Effizienzvorgaben dient. Während der Regulierungsperiode sollten die Plankosten von Investitionen direkt in der Erlösvorgabe berücksichtigt werden. Am Ende eines Jahres wird dann über ein entsprechendes Regulierungskonto ein Abgleich der Plan- mit den effektiven Investitionskosten vorgenommen. − Weitergehende Abkehr vom Ausspeisemodell, um die Kosten des Netzum- und -ausbaus verursachergerechter zu finanzieren. Dabei könnte ein grösserer Teil der zusätzlichen Netzkosten, welche auf den Anschluss neuer Erzeugungskapazitäten zurückzuführen sind, von den Erzeugern getragen werden.− Stärkere Beteiligung der Verursacher von Fahrplanabweichungen an den Kosten für die Vorhaltung der Regelleistung. − Teilnahme am europäischen CO2-Handel und verstärkter Einsatz von technologieneutralen Instrumenten bei der Förderung von erneuerbaren Energien. Zu denken wäre etwa an eine möglichst technologieneutrale Quotenregulierung in Bezug auf den Anteil erneuerbarer Energieformen am gesamtschweizerischen Strommix bei gleichzeitiger Installation eines entsprechenden gesamtschweizerischen Zertifikathandels für erneuerbare Energien.
- Vaterlaus S., Berner S., Fischer B., Widmer P., Worm H. (2012): Länderstudie zu den Erfahrungen im Bereich Strommarktliberalisierung: Effizienzsteigerung durch verbesserte Angebotsorientierung. Studie im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). []
Zitiervorschlag: Vaterlaus, Stephan; Worm, Heike (2012). Die Regulierung des schweizerischen Strommarktes ist im internationalen Vergleich weniger effizienzorientiert. Die Volkswirtschaft, 01. November.