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Spitzeneinkommen im internationalen Vergleich

Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise hat Fragen zur gerechten Einkommensverteilung und Einkommenskonzentration in ­einer Volkswirtschaft ins Zentrum des Interesses von Politik und Wissenschaft gerückt. So wird die Höhe der Einkommen und deren Besteuerung häufig diskutiert. In den USA waren höhere Steuern für Reiche ein Hauptthema des Präsidentschaftswahlkampfs. Amtsinhaber Barack Obama fordert, dass Einkommensmillionäre in Zukunft mindestens 30% Steuern im Jahr zahlen sollen. Ähnliche Bestrebungen sind auch in Frankreich im Gange, wo die Regierung unter François Hollande eine Reichensteuer von 75% für Einkommen über 1 Mio. Euro im Jahr plant. In der Schweiz will die Volksinitiative «1:12 – Für ­gerechte Löhne» die Spitzengehälter beschränken.

Vor der Behandlung eines Problems stellt sich die Frage der Diagnose. Wie lässt sich objektiv bestimmen, welchen Verlauf die hohen und höchsten Einkommen in einem Land genommen haben? Einen entscheidenden Beitrag zur Beantwortung dieser Frage wurde von Piketty (2001) geliefert. Er nutzte – wie zuvor Kuznets (1953) – Daten der ­offiziellen Einkommensteuerstatistik und kombinierte diese mit geschätzten Bevölkerungszahlen sowie dem geschätzten Gesamteinkommen aller Privathaushalte, um die obersten Einkommensanteile zu ermitteln. Häufig liegen jedoch Einkommensteuerstatistiken nicht als Individualdaten vor, sondern nur die Zahl der Steuerpflichtigen und deren kumuliertes Einkommen für die einzelnen Einkommensklassen – meistens in unregelmässigen Intervallen.
Ein Vorteil von Einkommensteuerstatistiken gegenüber Umfragedaten liegt in der langen Verfügbarkeit der ­Daten. So reichen zum Beispiel offizielle Einkommensteuerstatistiken in Norwegen bis ins Jahr 1875 und in Japan bis ins Jahr 1886 zurück. Somit kann nicht direkt auf die gesuchten Einkommensanteile geschlossen werden. Eine häufig in der Literatur verwendete Methode zur Schätzung der höchsten Einkommen geht auf den Lausanner Ökonomen Vilfredo Pareto (1886, 1896–1897) zurück. Dabei werden die entsprechenden Einkommensanteile durch Unterstellung einer Pareto-Verteilung der Einkommen und durch Interpolation zwischen den Einkommensklassen geschätzt. Gegenwärtig gibt es 26 Länderanalysen, welche ­dieses Vorgehen nutzen, um die Entwicklung der Einkommenskonzentration über das 20. Jahrhundert abzubilden.
Vgl. Atkinson, Piketty und Saez (2011) sowie Alvaredo, Atkinson, Piketty und Saez (2012).

Internationale Entwicklung der Einkommenskonzentration im 20. Jahrhundert


In Grafik 1 wird die Einkommenskonzentration der obersten 1% der Einkommensbezüger für die USA, Grossbritannien, Kanada, Frankreich, Deutschland, Schweden, Japan und die Niederlande über das 20. Jahrhundert dargestellt. Die angelsächsischen Länder kannten eine hohe Einkommenskonzentration zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bis Ende der 1970er-Jahre nahm diese stark ab, während ab den 1980er-Jahren und insbesondere ab den 1990er-Jahren die Einkommenszuwächse der hohen und höchsten Einkommen weit stärker ausfielen. Für diese Länder lässt sich demnach ein U-förmiger Verlauf feststellen. Interessant ist, dass dies auch für Schweden beobachtet werden kann, das traditionell eher als egalitäre Gesellschaft gilt. Werden die Länder Deutschland, Frankreich, Japan und die Niederlande betrachtet, wird ein L-förmiger Verlauf über das 20. Jahrhundert deutlich. Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern erholten sich die Spitzeneinkommen in den letzten Jahren weit weniger, so dass von einer relativ stabilen Entwicklung der Einkommenskonzentration seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Grundsätzlich lässt sich für die hier betrachteten Länder jedoch feststellen, dass die Einkommensanteile der obersten 1% der Einkommensbezüger zu Beginn des 20. Jahrhunderts höher waren als heute. Für andere Einkommensanteile wird ein sehr ähnlicher Verlauf deutlich. So bezogen die obersten 10% der Einkommensbezüger in Schweden in den letzten Jahren durchschnittlich 28% des Gesamteinkommens, während es in den USA 46% waren.

Gründe für die unterschiedliche Entwicklung der Einkommensanteile


Die relative Verarmung der obersten Einkommensbezüger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich mit den zwei Weltkriegen und der damit einhergehenden direkten Zerstörung von physischem Kapital begründen. Piketty (2003) stellt für Frankreich fest, dass während dem Ersten Weltkrieg ein Drittel und während des Zweiten Weltkriegs über zwei Drittel an physischem Kapital zerstört wurden. Auch die Vernichtung von Finanzkapital durch die hohe Inflation in den Zwischenkriegsjahren trug zur Reduktion der Einkommen bei. Ein naheliegender weiterer Einfluss auf die Einkommenskonzentration wird in der Steuerpolitik – speziell in der progressiven Einkommensbesteuerung – gesehen. War die Besteuerung von Spitzeneinkommen vor dem Ersten Weltkrieg noch vergleichsweise gering, änderte sich dies nach dem Zweiten Weltkrieg. Anfang der 1980er-Jahre lag die Grenzsteuerbelastung in Ländern wie Frankreich, Grossbritannien und den USA zwischen 60% und 70%. Evidenz für den Einfluss von Steuern 
auf die Einkommenskonzentration wurde für Schweden von Roine und Waldenström (2008) untersucht. Sie kommen zum Schluss, dass die progressive Besteuerung einer der wichtigsten Faktoren bei der Entwicklung der höchsten Einkommen in Schweden nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Atkinson und Leigh (2010) können mittels ökonometrischer Panel-Analyse für fünf angelsächsische Länder (Australien, Kanada, Neuseeland, Grossbritannien und die USA) zeigen, dass eine Reduzierung der Steuersätze bis zur Hälfte des Anstiegs der Einkommenskonzentration bei den obersten 1% der Einkommensbezüger erklärt. Der Grund für das erhebliche Ansteigen der Einkommenskonzentration im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts – besonders in den USA – lässt sich nach Piketty und Saez (2006) nicht allein mit einem Wiedererstarken von Kapitaleinkommen erklären. Vielmehr hat eine erhebliche Zunahme der Lohneinkommen und der Kapitalgewinne dazu geführt, dass die Spitzeneinkommen wieder gestiegen sind. Zusätzlich sind im angelsächsischen Raum die Internationalisierung des Arbeitsmarktes und die Verringerung der Gewerkschaftsmacht verantwortlich für den Anstieg der Einkommenskonzentration. Für Japan, die Niederlande, Kanada und Frankreich zeigt sich ein ähnlicher Verlauf der Kapitaleinkommen über das 20. Jahrhundert. Schweden bietet ein differenzierteres Bild. Waren die Kapitaleinkommen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weniger wichtig für die höchsten Einkommen, änderte sich dies ab den 1970er-Jahren.
Vgl. Roine und Waldenström (2008). Allerdings gilt ganz allgemein, dass Kapitaleinkommen, Kapitalgewinne und Gewinne aus unternehmerischer Tätigkeit mit zunehmenden Einkommen an Bedeutung gewinnen. Stellt im obersten Dezil noch das Lohneinkommen die wichtigste Einkommensquelle dar, sinkt dieser Anteil in den höheren Einkommensklassen. Neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass auch die generelle Staatsaktivität, das Wirtschaftswachstum sowie die Entwicklung des Finanzmarktes wichtige Determinanten bei der Entwicklung der Einkommenskonzentration sind. Konkret dämpft eine Ausdehnung der Staatsausgaben die Einkommensanteile der oberen Mittelschicht (unterste 9% der obersten 10% der Einkommensbezüger), während die Anteile für die obersten 1% der Einkommensbezüger un­beeinflusst bleiben.
Vgl. Roine, Vlachos und Waldenström (2009). Interessant ist weiter, dass die obersten Einkommen überproportional partizipieren. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung des Finanzmarkts, der eine signi­fikante Hebelwirkung für die oberen Einkommen entfaltet. Einen entgegengesetzten Einfluss üben Finanzkrisen aus.

Stabile oberste Einkommen in der Schweiz


Grafik 2 macht deutlich, dass die Einkommenskonzentration in der Schweiz von 1933 bis 2008 im Vergleich zu anderen Ländern erstaunlich konstant verlief. Weder wird ein deutlicher Einbruch der Einkommenskonzentration während und nach den Kriegsjahren ersichtlich, noch ist ein starkes Anschwellen der Einkommenskonzentration im 20. Jahrhundert zu beobachten. Dies gilt sowohl für die obersten 10% der Einkommensbe­züger als auch für die obersten 5%, 1%, 0,5%, 0,1% oder 0,01%. Betrachtet man 
den Verlauf der Einkommenskonzentration der obersten Mittelklasse (unterste 4% der obersten 5%), ist die Stabilität besonders stark ausgeprägt. Daraus resultiert, dass sich die Schweiz relativ stark von den angelsächsischen Ländern unterscheidet, aber auch zu Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden. Die Einkommenszuwächse verteilen sich in der Schweiz relativ gleichmässig und kommen auch in den letzten Jahren nicht nur den obersten Einkommen zu Gute.Was ist eine mögliche Erklärung für diesen stabilen Verlauf? Ein nicht unwesentlicher Punkt ist darin zu finden, dass die Schweiz in den letzten 90 Jahren von keinem Krieg direkt betroffen war und es zu keiner direkten Zerstörung von physischem Kapital kam. Die Schweiz konnte somit auf ihre Produktionsstätten zurückgreifen, was dazu führte, dass die Wirtschaftsgeschichte eine auffällige Konstanz ausweist. Aber auch die exportorientierten Branchen, die Industrieproduktion und die Finanzdienstleistungen haben sich über das 20. Jahrhundert als sehr anpassungsfähig erwiesen. Entscheidend für die konstante Entwicklung der Einkommenskonzentration dürfte nicht zuletzt die politische und wirtschaftliche Stabilität in der Schweiz sein.

Unterschiedliche Entwicklung in den Kantonen


Der föderalistische Staatsaufbau der Schweiz lässt zu, dass die Einkommenskonzentration auf Ebene der 26 Kantone stark variiert. Zwischen den Kantonen bestehen grosse Unterschiede sowohl im Niveau als auch in der Entwicklung der obersten Einkommen (siehe Grafik 3). Ein direkter Vergleich der Einkommensjahre 1975/76 und 2008 zeigt, dass die Einkommensanteile der obersten 1% der Einkommensbezüger, ausgehend von einem unterschiedlichen Niveau, in der Mehrzahl der Kantone eher gefallen als gestiegen ist. Das Schlusslicht im Jahr 2008 bildet dabei der Kanton Uri. Ausgehend von einem Einkommensanteil von knapp 8% hat das oberste 1% der Einkommensbezüger knapp 3 Prozentpunkte verloren. Eine eher konstante Entwicklung vollzog sich im bevölkerungsreichen Kanton Zürich mit einer stabilen Einkommenskonzentration von etwa 10% für die obersten 1% der Einkommensbezüger. Zu den grössten Gewinnern zählen die Einkommensbezüger in den Kantonen Schwyz, Zug und Nidwalden, wo die durchschnittlichen Spitzeneinkommen in diesem Zeitraum am stärksten zugenommen haben. So ist der Einkommensanteil der obersten Einkommensbezüger im Kanton Schwyz zwischen 1975/76 und 2008 um über 10 Prozentpunkte gestiegen.

Fazit


Die Schweiz zeichnet sich durch eine bemerkenswert stabile Entwicklung der höchsten Einkommen – und damit auch der Einkommenskonzentration – über das 20. Jahrhundert aus. Im Gegensatz zu anderen Ländern blieb die Schweiz von der Zerstörung von physischem Kapital während den Weltkriegen verschont. Zudem verfügt sie über eine – damals wie heute – robuste und anpassungsfähige Wirtschaft. Die langfristige moderate Entwicklung der Spitzeneinkommen bestätigt damit den Einfluss der hohen wirtschaftlichen und politischen Stabilität in der Schweiz. Im Unterschied insbesondere zu den angelsächsischen Ländern kommen die Einkommenszuwächse in der Schweiz nicht zunehmend den obersten Einkommen zu Gute. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte das fein austarierte föderale System sein, das eine hohe fiskalpolitische Autonomie bei den Kantonen mit einigen zentralstaatlichen Elementen der Umverteilung vereinigt.

Grafik 1: «Entwicklung der Einkommensanteile der obersten 1% der Einkommensbezüger, 1900–2010»

Grafik 2: «Entwicklung der Einkommensanteile der Top-Einkommensbezüger in der Schweiz, 1933–2008»

Grafik 3: «Kantonaler Vergleich der Einkommenskonzentration der obersten 1% Einkommensbezüger, 1975/76 und 2008»

Kasten 1: Literatur

Literatur


− Atkinson, A. B. (2007): The Distribution of 
Top Incomes in the United Kingdom 1908–2000. In Atkinson, A. B. und Piketty, T. Top 
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− Alvaredo, F., Atkinson, A. B., Piketty, Th. und Saez, E. (2012): The World Top Incomes Database, http://g-http://mond.parisschoolofeconomics.eu/topincomes.

− Atkinson, A. B., und Leigh, A. (2010): 
The Distribution of Top Incomes in Five Anglo-Saxon Countries over the Twentieth Century, IZA ­Discussion Paper Nr. 4937, Mai 2010.

− Atkinson, A. B., Piketty, T. und Saez, E. (2011): Top Incomes in the Long Run of History, Journal of Economic Literature, 49(1), S. 3–71.

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− Pareto, V. (1896): La courbe de la repartition de la richesse, Écrits sur la courbe de la repartition de la richesse, Hrsg. G. Busino, Librairie Droz, 1965, S. 1–15.

− Pareto, V. (1896–1897): Cours d’Economie ­Politique (2 Bände), Hrsg. G. Busino, Librairie Droz, 1964.

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− Piketty, T. und Saez, E. (2007): Income and Wage Inequality in the United States 1913–2002. In Atkinson, A. B. und Piketty, T. Top 
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− Roine, J., und Waldenström, D. (2008). The Evolution of Top Incomes in an Egalitarian ­Society: Sweden, 1903–2004, Journal of Public Economics 92(1–2), S. 366–87.

− Roine, J. und Waldenström, D. (2010): Top ­Incomes in Sweden over the Twentieth ­Century. In Atkinson, A. B. and Piketty, T. 
Top Incomes: A Global Perspective, Oxford ­University Press, Kapitel 7.

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the Twentieth Century. A Contrast Between Continental European and English-Speaking Countries, Oxford University Press, Kapitel 6.

− Salverda, W. und Atkinson, A. B. (2007): Top Incomes in the Netherlands over the Twentieth Century. In Atkinson, A. B. und Piketty, T. Top Incomes over the Twentieth Century. A Contrast Between Continental European and English-Speaking Countries, Oxford University Press, Kapitel 10.

− Schaltegger, C. A. und Gorgas, Ch. (2011): 
The Evolution of Top Incomes in Switzerland over the 20th Century, Swiss Journal of Economics and Statistics 147 (4), S. 479–519.

Zitiervorschlag: Christoph A. Schaltegger, Christoph Gorgas, (2012). Spitzeneinkommen im internationalen Vergleich. Die Volkswirtschaft, 01. Dezember.