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Die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf 
die Löhne in der Schweiz

Das im Juni 2002 in Kraft getretene Personenfreizügigkeitsab­kommen (FZA) zwischen der Schweiz und den EU/Efta-Staaten markiert einen Meilenstein in der Zuwanderungspolitik unseres Landes. Nach einer fünf Jahre dauernden Übergangsphase erhielten die Staaten, welche das FZA unterzeichnet haben, freien Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. Eine Studie des Obser­vatoire Universitaire de l’Emploi (OUA) der Universität Genf hat die Auswirkungen auf die Löhne in der Schweiz untersucht. Die Personenfreizügigkeit hat nicht nur zu einer starken und ­beschleunigten Zuwanderung von hoch qualifizierten Personen geführt, sondern auch die Struktur des Arbeitsangebots bezüglich Berufserfahrung verändert. ­Insgesamt blieben die beobach­teten Effekte eher bescheiden, variieren jedoch nach Ausbildung, Berufserfahrung und Nationalität.

Die vorliegende Analyse der Auswir­kungen des FZA basiert auf den Daten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) und beschränkt sich auf die Jahre 1996 bis 2010 sowie auf die Erwerbstätigen im ­Privatsektor, mit Ausnahme der Landwirtschaft. Es handelt sich um eine umfangreiche Erhebung, die detaillierte und genaue Analysen ermöglicht. Allein die Erhebung 2010 erfasst beinahe 2 Mio. Personen, was der Hälfte aller Beschäftigten in der Schweiz entspricht. Die Erhebung schliesst auch Grenzgängerinnen und Grenzgänger mit ein, während selbstständig erwerbende Schweizerinnen und Schweizer sowie ausländische Dienstleistungserbringer (selbstständig erwerbende und entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) nicht berücksichtigt sind. Der Ausländeranteil unter den Beschäftigten betrug im Jahr 1996 30,0% und blieb bis 2002 konstant; danach nahm er bis 2010 auf 31,8% zu. Bezogen auf die Gesamtbeschäftigung erhöhte sich zwischen 1996 und 2010 der Anteil der Aufenthalterinnen und Aufenthalter mit Ausweis B von 5,2% auf 7,7% und jener der Grenzgängerinnen und Grenzgänger von 5,6% auf 7,2%. Fast der gesamte Zuwachs fand im Zeitraum zwischen 2004 und 2010 statt, dessen Beginn mit einer wirtschaftlichen Erholungsphase nach dem Abschwung 2002/03 und dem Inkrafttreten der flankierenden Massnahmen zusammenfiel. Während im Jahr 2002 noch fast jeder sechste Erwerbstätige im Besitz einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) war, so traf dies 2010 nur noch auf jeden siebten Erwerbstätigen zu. Dass die Einführung der Personenfrei­zügigkeit von einem starken Anstieg des ­prozentualen Anteils von hoch qualifizierten Zuwanderern begleitet war, ist allgemein 
bekannt. Die Zuwanderung hat aber auch die Struktur des Arbeitsangebots in Bezug auf die Berufserfahrung verändert. So nahm der Ausländeranteil mit Ausbildung auf 
Ter­tiärstufe
Die tertiäre Ausbildungsstufe umfasst folgende drei Kategorien: Universität, Fachhochschule und Meisterprüfung/höhere Berufsausbildung. zwischen 2002 und 2010 hauptsächlich in den Kategorien der weniger 
Erfahrenen (unter 15 Jahre Berufserfahrung) zu, während er bei den älteren Arbeitskräften unverändert blieb. Dagegen traf im gleichen Zeitraum bei auf Primarstufe
Zur Primarstufe gehören Personen ohne abgeschlossene Berufslehre (obligatorische Schulpflicht) und jene mit einer unternehmensinternen Ausbildung. ausgebildeten Personen genau das Gegenteil ein: Der Ausländeranteil nahm am markantesten in der Kategorie der erfahrensten Arbeitskräfte zu, während er bei den unerfahrensten abnahm.

Zerlegung der Veränderung der ­Lohnverteilung


Die Entwicklung der Lohnverteilung seit dem Inkrafttreten des FZA wird mittels einer Zerlegungsmethode detailliert untersucht. Diese ermöglicht es zu bestimmen, inwiefern die Entwicklung der Lohnverteilung auf ­Veränderungen in der Zusammensetzung der erwerbstätigen Bevölkerung (Kompositionseffekt) oder auf Veränderungen bei den Bildungs- und Erfahrungserträgen (Ertragseffekt) zurückzuführen ist. Im weiteren Verlauf der Untersuchung gilt unser Interesse der Rolle, welche die Zuwanderung bei der Entwicklung der Lohnstruktur spielt. Die Entwicklung der Reallöhne aller Beschäftigten zwischen 2004 und 2010 ist in den 6 Jahren durch eine leichte Erhöhung des Medianlohnes von 2,6% sowie durch eine Zunahme der Ungleichheit vor allem im oberen Bereich der Verteilung gekennzeichnet. Während sich die Reallöhne des neunten Dezils um ungefähr 7% erhöhten, betrug der Anstieg der Reallöhne zwischen dem ersten Dezil und dem Median lediglich 1% bis 2,5% (siehe
). Zu den wichtigsten Ergebnissen der Zerlegung (siehe
) gehört folgende Erkenntnis: Allein durch den Kompositionseffekt der erwerbstätigen Bevölkerung lässt sich grösstenteils die Erhöhung des Medianlohns und zumindest teilweise die Zunahme der Ungleichheit erklären. Beides ist in erster Linie auf das höhere Bildungsniveau sowie auf den Anstieg des Anteils von hoch qualifizierten einheimischen und vor allem ausländischen Arbeitskräften zurückzuführen. Aus unseren Ergebnissen wird ersichtlich, dass die Bildungs- und Erfahrungserträge stärker an den Enden als in der Mitte der Verteilung zugenommen haben. In der Tat ist im unteren Bereich der Verteilung der Reallohn 
(Ertragseffekt) zwischen 2004 und 2010 um ungefähr 2% gestiegen, während der Medianlohn praktisch stagniert hat. Die hohen Löhne haben dagegen um ungefähr 3% – 4% zugelegt. Der Ertragseffekt ist sowohl bei schweizerischen als auch bei ausländischen Angestellten im Wesentlichen der gleiche.

Einfluss des FZA


Hat die Personenfreizügigkeit bei der Entwicklung der Lohnverteilung eine entscheidende Rolle gespielt? Um diese Frage beantworten zu können, wird die Veränderung der Bildungs- und der Erfahrungserträge von Schweizer Beschäftigten (siehe
) der Veränderung der Ausländeranteile ­innerhalb der Lohnperzentile von einhei­mischen Arbeitskräften (siehe
) gegenüber­gestellt. Falls das FZA die Löhne von einheimischen Arbeitskräften entscheidend beeinflusst hätte, müsste eine Verringerung (oder ein geringerer Anstieg) der Bildungs- und Erfahrungserträge feststellbar sein in jenen Bereichen der Verteilung, in denen sich die Konkurrenz durch ausländische Arbeitskräfte am meisten verschärft hat. Betrachtet man die Veränderung des Ausländeranteils zwischen 2004 und 2010, ist zu erkennen, dass die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer prozentual am stärksten im oberen Bereich der Lohnverteilung von Schweizerinnen und Schweizern zugenommen hat. Ebenfalls in diesem Bereich sind die einheimischen Löhne am meisten angestiegen. Eine Abnahme des Ausländeranteils lässt sich einzig und allein zwischen dem zweiten und dem dritten Dezil der Lohnverteilung von Schweizerinnen und Schweizern feststellen. Die deskriptive Analyse liefert also keinen Hinweis darauf, dass das FZA eine wichtige Rolle bei den Veränderungen der Verteilung der Löhne von einheimischen Beschäftigten gespielt hat. Der technologische Wandel liefert eine plausiblere Erklärung für die beobachteten Lohnänderungen. Zwei Faktoren sind für die Polarisierung der Beschäftigungsstruktur und der Lohnverteilung hauptverantwortlich:

  • der technische Fortschritt (Skill-Biased Technological Change, SBCT), der für die stärkere Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften verantwortlich ist;
  • das Phänomen der Routinisierung, d. h. das Ersetzen von Arbeitnehmenden, welche Routineaufgaben erledigen, durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien.


Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zuwanderung keinerlei Auswirkung auf die Löhne hat. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Zuwanderung dazu beigetragen hat, dass die Löhne im mittleren Bereich der ­Verteilung gesunken sind. Dies lässt sich mit Hilfe der ökonometrischen Analyse beantworten.

Ökonometrische Analyse


Wir orientieren uns an der jüngsten Literatur und verfolgen einen strukturellen Ansatz, um die Auswirkungen des FZA auf die Löhne in der Schweiz zu beurteilen.
Die Studie von Gerfin und Kaiser beruht auf einem ähnlichen Ansatz. Dieser Ansatz legt den Schwerpunkt auf die Tat­sache, dass sich die Zuwanderung einer Arbeitskräftekategorie nicht nur auf die Löhne dieser Beschäftigtengruppe, sondern auch auf die Löhne von anderen Angestellten ­auswirkt. Durch diese Komplementaritäts- und Substituierbarkeitsbeziehungen zwischen den Arbeitnehmenden erhält man ­einen umfassenden Überblick über die 
Auswirkungen der Zuwanderung auf die Löhne. Im vorliegenden Modell wird die Schweizer Wirtschaft vereinfacht anhand einer aggregierten Produktionsfunktion dargestellt. Das strukturelle Modell basiert auf zwei grundlegenden Annahmen, die eine Analyse der Auswirkungen der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt ermöglichen.

  • Auf der einen Seite wird jeder Arbeitnehmende durch den jeweiligen Bildungsstand sowie durch die Berufserfahrung gekennzeichnet. Diese beiden Dimensionen des Humankapitals widerspiegeln die Heterogenität der Qualifikationen der Arbeitskräfte und erlauben eine differenzierte Analyse der Auswirkungen der Zuwanderung auf die Löhne.
  • Auf der anderen Seite geht man davon aus, dass einheimische und ausländische Arbeitskräfte nicht unbedingt die gleichen beruflichen Tätigkeiten ausüben und dass deshalb diese beiden Arbeit­nehmerkategorien gegenseitig nur als unvollkommener Ersatz betrachtet werden können.


In diesem Zusammenhang entscheidend ist die Frage, ob beim Bildungsniveau und einer bestimmten Erfahrungsklasse die ein­heimischen und die ausländischen Arbeitskräfte in direkter Konkurrenz zueinander auf dem Arbeitsmarkt stehen bzw. ob sie ohne Schwierigkeiten gegeneinander ausgetauscht werden können. Sollte dies der Fall sein, entwickeln sich die Löhne dieser beiden Gruppen parallel und werden durch die Ankunft von Zuwanderern, die vergleichbare Quali­fikationen besitzen, negativ beeinflusst. Sind hingegen die beiden Arbeitnehmerkate­gorien nur unvollkommene Substitute, dann verursacht die Zuwanderung tendenziell das Sinken der Löhne von ausländischen, aber nicht unbedingt von einheimischen Arbeitskräften. Aus unseren Schätzungen ziehen wir die Schlussfolgerung, dass im Produktionsprozess einheimische und ausländische Arbeitskräfte nur begrenzt austauschbar sind. Ausserdem stellt sich heraus, dass es viel schwieriger ist, eine einheimische Arbeitskraft mit einer zugewanderten zu ersetzen, wenn deren Bildungsniveau niedrig ist. 
Wenig qualifizierte Zugewanderte stellen 
daher keine direkte Konkurrenz für Schweizerinnen und Schweizer dar. Diese Tatsache wurde bei der Analyse der Auswirkungen 
der Zuwanderung auf die Löhne berücksichtigt.Zur Simulation der Auswirkungen des FZA vergleichen wir im Folgenden die Entwicklung des Arbeitsangebots mit und ohne Personenfreizügigkeit. Da es schwierig ist, die Auswirkungen des FZA auf die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz genau zu beurteilen, bedienen wir uns einer einfachen und klaren Hypothese: Wir nehmen an, dass ohne FZA der Ausländeranteil konstant geblieben wäre. Hierbei handelt es sich um eine sehr konservative Annahme, da die Zuwanderung aller Wahrscheinlichkeit nach selbst ohne FZA nicht stagniert hätte. Somit zeigen unsere Simulationen die maximale Auswirkung des FZA auf die Löhne; die tatsächliche Auswirkung ist wahrscheinlich von geringerem Ausmass.

Hauptergebnisse der ökonometrischen Analyse


Zu den wichtigsten Ergebnissen der ökonometrischen Analyse gehört die Erkenntnis, dass alle beobachteten Auswirkungen auf die Löhne zwar von geringem Ausmass sind, dass es aber Gewinner und Verlierer gibt. Zu den grössten Verlierern gehören junge (einheimische oder ausländische) tertiär gebildete Arbeitskräfte, die bereits über eine gewisse Berufserfahrung (10 –15 Jahre) verfügen. Ohne FZA wären ihre Reallöhne im Jahr 2010 ca. 1,6% höher ausgefallen. Ein vergleichbarer Verlust (–1,4%) ist bei älteren ausländischen Arbeitskräften (mit mehr als 35 Jahren Berufserfahrung) mit Primarschulbildung (siehe
) erkennbar. Interessanterweise kann man feststellen, dass die Reallöhne von jungen tertiär gebildeten Arbeitskräften seit Inkrafttreten des FZA gesunken sind. Für niedrig qualifizierte einheimische Arbeitskräfte erweist sich das FZA eher von Vorteil, denn ihre Reallöhne sind um 1,1% gewachsen. Einerseits können sie aufgrund der Komplementarität zwischen ansässigen und neu zugewanderten höher qualifizierten Personen aus anderen europäischen Staaten profitieren, durch deren Ankunft die Nachfrage nach niedrig qualifizierten Arbeits­kräften tendenziell gesteigert wird. Andererseits sind sie teilweise vor der direkten Konkurrenz zu den niedrig qualifizierten neu zugewanderten Arbeitskräften geschützt, da sie auf jene Tätigkeitsbereiche spezialisiert sind, in denen es kaum ausländische Konkurrenz gibt. Auf Erwerbstätige, die über einen Sekundarabschluss
Der Sekundarabschluss beinhaltet die Ausbildungskategorien: Eidg. anerkannte Lehre, Matura und Lehrerpatent. verfügen, hat das FZA nur geringfügige Auswirkungen: Sowohl die Erfahrensten als auch die Jüngsten können davon profitieren, während die Löhne der anderen Angehörigen dieser Gruppe leicht gesunken sind.

Fazit


Die Ergebnisse der Simulationen sind einerseits von Annahmen abhängig, die für die ökonometrische Schätzung verwendet wurden, und andererseits von einem Szenario, das die Entwicklung der Zuwanderung ohne FZA abbildet. Was den ersten Punkt betrifft, war es wichtig, den vorherrschenden Ansatz in der jüngsten ökonomischen Literatur zu wählen und sicherzustellen, dass sich die Schätzungen der kritischen Werte des Modells nicht ändern, wenn verschiedene Modellspezifikationen zur Anwendung kommen. Bezüglich des zweiten Punkts wurde von der konservativen Annahme ausgegangen, dass der Ausländeranteil ohne FZA konstant geblieben wäre. Die Simulationen neigen demnach dazu, die Auswirkungen des FZA auf die Löhne übertrieben wiederzugeben. Zudem ist zu beachten, dass die ökonometrischen Modellsimulationen Ergebnisse zu Gruppen von Erwerbstätigen liefern, die über ein ähnliches Bildungsniveau sowie über vergleichbare Erfahrungen verfügen. Es ist daher möglich, dass die Auswirkungen des FZA auf die Löhne je nach Wirtschaftszweig unterschiedlich ausfallen. Dieser Frage mit einer ökonometrischen Analyse nachgehen zu wollen, ist jedoch wegen der auftretenden Endogenitätsprobleme (die Zuwanderer können die Branche auswählen, in der sie arbeiten möchten) äusserst problematisch.Schliesslich sind zwei Aspekte der vorliegenden Studie zu erwähnen, für die sich eine vertiefte Analyse lohnen würde: Erstens hat die Entwicklung der Lohnverteilung gezeigt, dass unter den Ausländerinnen und Ausländern mit beruflicher Grundbildung die Gefahr eines Downgrading besteht. Dies bedeutet, dass einige ausländische Arbeitskräfte eine Beschäftigung ausüben, die insbesondere in Bezug auf ihre Berufserfahrung nicht den beobachtbaren Qualifikationen entspricht. Zweitens konnten wir feststellen, dass im obersten Lohnbereich der Ausländeranteil am stärksten gewachsen ist. Es wäre interessant, die möglichen positiven externen Effekte der Ankunft von sehr hoch qualifizierten Ausländerinnen und Ausländern auf die Gesamtwirtschaft genauer zu untersuchen.

 

 

 

 

 

Kasten 1: Literatur

Literatur

  • Gerfin, Matthias und Kaiser, Boris, Auswirkungen der Immigration der Jahre 2002 bis 2008 auf die Löhne in der Schweiz, in: Die Volkswirtschaft 6-2010, S. 4–6.
  • Müller, Tobias, Asensio, Noé und Graf, Roman (2013): Les effets de la libre circulation des personnes sur les salaires Suisse. Laboratoire d’économie appliqueé, LEA, Observatoire Universitaire de l’Emploi, OUE, Université de Genève. Internet: www.seco.admin.ch, Dokumentation, Publikationen und Formulare, Studien und Berichte, Arbeit.

Zitiervorschlag: Noe Asensio, Roman Graf, Tobias Mueller, (2013). Die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf 
die Löhne in der Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.