Suche

Abo

Die Schweizer Geldpolitik im Spannungsfeld der Finanzkrise

Die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) hatte sich bis zur Finanzkrise am ­«IS-LM-Modell» aus der Volkswirtschaftslehre orientiert. Durch die Krise waren neue Konzepte gefragt; unkonventionelle Massnahmen verschafften Handlungsspielraum. Zur wichtigsten Massnahme der SNB wurden Wechselkursinterventionen. ­Dahinter steht die Theorie, dass die Geldpolitik nicht nur über das Zinsniveau auf den gesamtwirtschaftlichen Output wirkt, sondern auch über den Wechselkurs. Vereinfacht gesagt hat die SNB das IS-LM-Modell um die Komponente «Aussenwirtschaft» erweitert. Die Neujustierung des geldpolitischen Kompasses auf den Wechselkurs zeigt Wirkung, hat aber auch Nebenwirkungen.

Krise bedingt unkonventionelle ­Massnahmen


Die Finanzkrise hat der SNB grosse Herausforderungen beschert. Um die Preisstabilität zu wahren, musste sie mehrmals von ihrem seit der Jahrtausendwende praktizierten Konzept zur Implementierung der Geldpolitik (siehe Kasten 1

Konzept zur Implementierung der Geldpolitik vor der Krise


Bis dato hatte die SNB den Referenzzinssatz jeweils gesteuert, indem sie den Banken besicherte Kredite über eine Woche günstiger oder teurer anbot (1-Wochen-Repo-­Geschäft). Als Referenzzinssatz verwendet die SNB dabei den Dreimonats-Libor und ­damit denjenigen Zinssatz, zu dem sich Banken unbesicherte Kredite in Franken über 3 Monate vergeben.

) abweichen und zu sogenannt unkonventionellen Massnahmen greifen. Nach dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers Ende 2008 waren die Verwerfungen auf dem Interbankenmarkt derart gross, dass die SNB Volumen, Frequenz und Laufzeiten der Repo-Geschäfte (besicherter Kredit an Banken) ausdehnte und zusätzlich Devisenswaps (Termingeschäft mit zwei Währungen) in Dollar und Euro anbot. Rasch erweisen sich diese Massnahmen als unzureichend. Anfang 2009 sah sich die SNB angesichts der Tiefe der Rezession veranlasst, direkt auf dem Devisenmarkt zu intervenieren und Anleihen privater Schuldner zu kaufen. Diese Interventionen zeigten zunächst Wirkung, stiessen aber ebenfalls bald an Grenzen. Im Juni 2010 stellte die Nationalbank die Devisenmarktinterventionen ein. Als Folge der massiven Interventionen zu Beginn 2010 stand ab Ende 2010 die Geldpolitik Kopf. Die SNB hatte im Zuge ihrer Devisenmarktinterventionen dermassen viele Franken verkauft, dass die Banken nicht mehr Liquidität bei der SNB beziehen mussten. Im Gegenteil: Das Finanzsystem verfügte aus Sicht der SNB über zu viel Liquidität. Deshalb trat die SNB als Schuldner auf dem Geldmarkt auf und nahm bei Banken zeitlich begrenzte verzinste Kredite auf; entweder gegen Sicherheit (Reverse-Repo) oder ohne Sicherheit (SNB-Bill). Anfang 2011 hatte die SNB rund zwei Drittel der zuvor durch die Devisenmarktinterventionen geschaffenen Geldmenge wieder abgeschöpft. «Abgeschöpft» deshalb, weil die Banken nicht mehr frei über das entsprechende Geld verfügen konnten, da sie es ja bei der SNB für eine vorgegebene Dauer angelegt hatten. Mitte 2011 bewegte der «Sommer-Schock» – bestehend aus konjunktureller Abkühlung und Aufwertung des Schweizer Frankens bis zur Parität zum Euro – die SNB zu einer abermaligen Kehrtwende. Sie löste ihre Positionen zur Abschöpfung von Liquidität auf und flutete den Markt statt dessen erneut mit Liquidität. Faktisch kehrte sie im August 2011 vorübergehend zu einem Geldmengenziel zurück, wie sie es in den 1990er-Jahren verwendet hatte. Dank zusätzlicher Liquiditätsinjektionen mittels erneuter Devisenswaps brachte die SNB sogar das Kunststück fertig, den nominalen Zins ins Negative zu drücken. Dennoch reichten die Anreize auf dem Geldmarkt alleine nicht, um den Franken zum Euro zu stabilisieren. Erst die Androhung direkter Interventionen unter dem Austauschverhältnis von 1,20 stabilisierte den Markt.

Theorie und Praxis


Vor der Finanzkrise entsprach die gelpolitische Realität der Theoriewelt des einfachen IS-LM-Modells. Die SNB reagierte auf eine Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Outputs mit einer Ausweitung der Geldmenge; in Abschwungphasen senkte sie das Zinsniveau jeweils. Das IS-LM-Modell wurde vom Nobelpreisträger John Hicks und Alvin Hansen Ende der 1930er-Jahren entwickelt. Es basiert weitgehend auf den Theorien von John Maynard Keynes. Zwar wurde das IS-LM-Modell mehrmals überarbeitet und erweitert; der Grundmechanismus blieb aber immer derselbe (siehe Grafik 1): Die IS-Kurve repräsentiert alle Punkte, in denen sich die Realwirtschaft in einem Gleichgewicht befindet und die Investitionen mit den Ersparnissen finanziert werden können. Die LM-Kurve entspricht allen Punkten, in denen die Geldnachfrage dem Geldangebot entspricht – und damit dem Gleichgewichtszustand des Finanzsystems. Der Schnittpunkt der beiden Kurven stellt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht dar. Im IS-LM-Modell kann eine Zentralbank über die Veränderung des Geldangebots die LM-Kurve verschieben und damit den gesamtwirtschaftlichen Output bestimmen. Erhöht eine Zentralbank das Geldangebot bei gegebener Geldnachfrage, so verschiebt sich die LM-Kurve nach rechts. Dass Zinsniveau sinkt und der gesamtwirtschaftliche Output nimmt zu. Basierend auf dem IS-LM-Modell hat der Ökonom John B. Taylor 1993 eine Regel entwickelt, welche beurteilt, ob das von der Zentralbank gewählte Zinsniveau dem Umfeld angemessen ist.
Vgl. John B. Taylor (1993): Discretion versus policy rules in practice, Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy 39, S.195–214. Auf die Schweiz angewendet
Für die Schweiz wird eine Zielinflation von 2% sowie eine inflationsneutrale Arbeitslosenquote von 2,5% unterstellt. Als Inflationsmass dient die «Dynamic Factor ­Inflation» der SNB. Inflation und Arbeitsmarkt fliessen gleichgewichtet in die Berechnung ein. zeigt die parallele Entwicklung des Zinssatzes gemäss Taylor-Regel und des Dreimonats-Libors, dass sich die Geldpolitik der SNB bis 2009 tatsächlich an den Faktoren orientierte, die auch der Taylor-Regel zugrunde liegen (siehe Grafik 2). Mit Andauern der Finanzkrise war es um die einfache Theorie geschehen. 2009 erreichte das Zinsniveau die Nulllinie und damit ein Niveau, auf dem gemäss herkömmlicher volkswirtschaftlicher Theorie die Geldpolitik unwirksam wird. Sind nämlich die Zinsen an der Nullgrenze angelangt, ist die LM-Kurve eine waagrechte Linie. Eine waagrechte Linie kann nicht nach rechts verschoben werden, weshalb eine Zentralbank den Schnittpunkt der IS-Kurve mit der LM-Kurve nicht verändern kann. Die erste Phase der unkonventionellen geldpolitischen Massnahmen machte sich zu nutzen, dass es nicht einfach einen Zinssatz gibt, sondern zahlreiche unterschiedliche Zinssätze. Angesichts des Umstands, dass es nicht mehr möglich war, die Zinssätze von kurzlaufenden Krediten zu senken, zielten die meisten Massnahmen darauf ab, die Zinssätze von länger laufenden Krediten zu senken. Die wichtigste Massnahme der SNB sind aber Wechselkursinterventionen geworden. Tatsächlich ist der Wechselkurs für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie die Schweiz eine wichtige Determinante der Geldpolitik. Der Monetary Conditions Index (MCI)
Der Monetary Conditions Index wurde in den 1990er-Jahren von der kanadischen Zentralbank entwickelt. Der MCI setzt sich aus dem Realzins und dem handelsgewichteten Wechselkurs (jeweils als Abweichung vom langfristigen Mittelwert) zusammen. Die Gewichtung der beiden Komponenten beträgt in Anlehnung an die OECD 3:1. beurteilt analog der Taylor-Regel die geldpolitischen Rahmenbedingungen. Doch während die Taylor-Regel aussenwirtschaftliche Entwicklungen nur indirekt erfasst, bezieht der MCI den Aussenwert der Währung explizit mit ein. Dahinter steht die Theorie, dass geldpolitische Massnahmen nicht nur über die Höhe des Zinsniveaus auf den gesamtwirtschaftlichen Output wirken, sondern auch über den Wechselkurs. Vereinfacht gesagt wird das IS-LM-Modell um die Komponente «Aussenwirtschaft» erweitert. Der MCI ist so konstruiert, dass Werte grösser als null restriktivere geldpolitische Bedingungen und Werte kleiner als null expansivere Bedingungen widerspiegeln. Aus Grafik 3 sticht hervor, wie stark die Aufwertung des Frankens bis beinahe zur Parität zum Euro im Sommer 2011 die gelpolitischen Bedingungen in der Schweiz gestrafft hat. Die bremsende Wirkung der massiven Frankenaufwertung machte den stimulierenden Einfluss des tiefen Zinsniveaus mehr als zunichte. Erst durch die Stabilisierung des Wechselkurses wurde die Geldpolitik wieder expansiv.

SNB schultert hohe Risiken


Die unkonventionellen Massnahmen sind nicht ohne Risiken zu haben und können hohe Kosten mit sich bringen. Seit 2007 hat sich die Bilanzsumme der SNB auf rund 500 Mrd. Franken beinahe verfünffacht. Mit mehr als 420 Mrd. machen die Devisenanlagen den Grossteil des Bestandes und der Zunahme aus. Vor der Krise hatte die SNB noch Devisenreserven von rund 50 Mrd. Franken. 90% der Anlagen der SNB sind in Fremdwährungen angelegt. Damit hat die Schweiz mittlerweile anteilsmässig einen der weltweit höchsten Fremdwährungsbestände. Im globalen Durchschnitt werden rund 16% des Bruttoinlandprodukts in Devisenanlagen gehalten; in der Schweiz sind es knapp 70%. Nur in einigen erdölexportierenden (Saudiarabien, Libyen usw.; je um 100%) sowie asiatischen Ländern (Singapur, Thailand) liegt der Anteil höher als hierzulande; in China ist er sogar tiefer (45%). Entsprechend gross ist das kurzfristige Wechselkursrisiko bzw. die Anfälligkeit der SNB-Bilanz auf Entwicklungen jenseits der Landesgrenze. Dennoch ist die Schieflage der Bilanz kein Risiko, das die Preisstabilität in der Schweiz unmittelbar gefährden würde. Eine reelle Gefahr würde erst im Falle wiederholter massiver Verluste entstehen. Eine Zentralbank muss zwar keine Gewinne erwirtschaften und ist selbst ohne Eigenkapital handlungsfähig; ein eigenmittelloser Zustand wäre jedoch längerfristig problematisch. Der Präsident der SNB, Thomas Jordan, hat jüngst eingeräumt, dass eine Zentralbank die Kontrolle über die Geldpolitik verlöre, wenn sie zur Deckung ihrer laufenden Kosten Geld drucken müsste.
Referat von Thomas Jordan, Statistisch-Volkswirtschaftliche Gesellschaft Basel, 28.September 2011: Braucht die Schweizerische Nationalbank Eigenkapital? In diesem Falle könnte sie die Preisstabilität nicht mehr gewährleisten. Hingegen sind die Nebenwirkungen der Wechselkursuntergrenze sowie das Schadenspotenzial der aufgrund der unkonventionellen Massnahmen massiv aufgeblähten Geldmenge mögliche Risiken für die Preisstabilität. Schliesslich bleibt die Aussage des Monetaristen Milton Friedman gültig, wonach Inflation ein monetäres Phänomen ist. Laut Theorie steigen die Preise, wenn die umgesetzte Geldmenge grösser ist als das reale Angebot. Derzeit wird die Liquidität aber grösstenteils gehortet – dies einerseits als Folge des Misstrauens auf dem Interbankenmarkt und andererseits als Folge der sehr tiefen Opportunitätskosten. Die «Umlaufgeschwindigkeit» des Geldes – und damit der Inflationsdruck – sind entsprechend tief.

Nebenwirkungen der Wechselkurs­untergrenze


Durch die Wechselkursuntergrenze hat die SNB aber die Kontrolle über das hiesige Zinsniveau aus der Hand gegeben. Denn zu den wenigen unumstösslichen Gesetzen der Geldpolitik gehört die Unmöglichkeit der Dreieinigkeit. Gemeint ist das Trilemma, dass von den drei Zielen – stabile Wechselkurse, autonome Kontrolle über das Zinsniveau, freier Kapitalverkehr – nur zwei gleichzeitig erfüllt werden können. Die Gründe dafür haben die Nobelpreisträger Robert Mundell und Marcus Fleming bereits in den 1960er-Jahren beschrieben. Solange der Franken – in Anbetracht der ungelösten Eurokrise eine realistische Annahme – unter Aufwertungsdruck steht, entspricht die Untergrenze faktisch einer Anbindung des Schweizer Frankens an den Euro. Wendet man die Mundell-Fleming-Theorie auf diese faktische Anbindung des Frankens an den Euro an und geht von weiterhin freiem Kapitalverkehr aus, hat die SNB die Kontrolle über das hiesige Zinsniveau aufgeben müssen. Das Zinsniveau in der Schweiz wird faktisch durch dasjenige im Ausland bestimmt.
Die geldpolitische Autonomie hat sie aber weiterhin, ­solange sie die Untergrenze jederzeit aufheben kann.Dieser Kontrollverlust ist nicht ungefährlich: Ein zu tiefes Zinsniveau kann zu Überinvestitionen verleiten. Besonders ausgeprägt ist der Effekt tiefer Zinsen im Immobilienbereich, weil hier mit relativ viel Fremdkapital finanziert wird. Tatsächlich steigen die Häuserpreise mit Teuerungsraten von deutlich über 2% aktuell rasant an. Die Immobilienpreise werden jedoch nicht in den zur Feststellung der Preisstabilität verwendeten Teuerungsmassen berücksichtigt, weshalb die SNB auf dem Papier ihren primären Auftrag der Gewährleistung der Preisstabilität aktuell trotzdem erfüllt. Die Frage, ob es sinnvoll ist, dass die Immobilienpreise nicht berücksichtigt werden, wird in der ökonomischen Lehre kontrovers diskutiert. Die Debatte ist jedoch insofern müssig, als die SNB das Risiko einer Immobilienblase gemäss ihrem primären Auftrag ohnehin nicht eingehen darf. Denn spätestens wenn eine solche Blase platzt, 
wäre aufgrund der dadurch ausgelösten Rezession die Preisstabilität gefährdet.

Glaubwürdigkeit ist entscheidend


Ungeachtet der Massnahme, welche die SNB ergreift, ist entscheidend, dass es ihr gelingt, das Vertrauen in ihre auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik zu erhalten. Dies ist aktuell zweifellos der Fall (siehe Grafik 4). Als Glaubwürdigkeitsmass dient ein Indikator, den wir in Anlehnung an Laxton/N’Diaye (2002)
Vgl. Laxton, D. und N’Diaye, N. (2002): Monetary Policy Credibility and the Unemployment-Inflation Trade-Off: Some Evidence from 17 Industrial Countries, IMF-­Working Paper, Nr. 02/220. für die Schweiz berechnet haben. Der Indikator schwankt definitionsgemäss auf einer Skala zwischen 0 (geringe Glaubwürdigkeit) und 1 (hohe Glaubwürdigkeit). Die Glaubwürdigkeit einer Zentralbank ist kein Naturgesetz, sondern sowohl von strukturellen Faktoren als auch von endogenen Faktoren abhängig. Der wichtigste strukturelle Faktor ist die Unabhängigkeit. Zahlreiche empirische Studien belegen, dass unabhängige Zentralbanken tiefe Inflationsraten erzielen und diese nicht auf Kosten des Wirtschaftswachstums gehen.
Vgl. Klomp und de Haan (2010): Inflation and Central Bank Independence: A Meta-Regression Analysis in Journal of Economic Surveys, Nr. 24/4, S. 593–621. Sie fanden in einer Meta-Analyse über 59 Studien einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Unabhäng­igkeit einer Zentralbank und der Inflation. Bei den endogenen Faktoren ist der Erfolgsausweis einer Zentralbank zentral. Primär werden Zentralbanken anhand der bisherigen Preisstabilität beurteilt. In Zukunft wird wohl zusätzlich die Wirkung der unkonventionellen Massnahmen bewertet werden, die sie in der Finanzkrise ergriffen haben.

Grafik 1: «Schematische Darstellung des IS-LM-Modells»

Grafik 2: «Taylor-Regel Zins und Zinsniveau, 2000–2012»

Grafik 3: «Monetary Conditions Index, 2009-2012»

Grafik 4: «Teuerung und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik, 1974–2012»

Kasten 1: Konzept zur Implementierung der Geldpolitik vor der Krise

Konzept zur Implementierung der Geldpolitik vor der Krise


Bis dato hatte die SNB den Referenzzinssatz jeweils gesteuert, indem sie den Banken besicherte Kredite über eine Woche günstiger oder teurer anbot (1-Wochen-Repo-­Geschäft). Als Referenzzinssatz verwendet die SNB dabei den Dreimonats-Libor und ­damit denjenigen Zinssatz, zu dem sich Banken unbesicherte Kredite in Franken über 3 Monate vergeben.

Zitiervorschlag: Claude Maurer, Maxime Botteron, (2013). Die Schweizer Geldpolitik im Spannungsfeld der Finanzkrise. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.