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Zum Verhältnis der Schweiz zur EU: Ein Streitgespräch zwischen Jean-Daniel Gerber und Roger Köppel

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Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind äusserst eng und gründen auf einem Vertragsnetz, das aus rund 20 zentralen bilateralen Abkommen sowie über 100 weiteren Abkommen besteht. Gegenwärtig erörtern die Schweiz und die EU im Rahmen der institutionellen Fragen die Mechanismen, welche gemäss der Direktion für europäische Angelegenheiten (DEA) die noch effizientere Anwendung der Verträge im Marktzugangsbereich auch in Zukunft gewährleisten sollen. Im Rahmen unseres Streitgesprächs zwischen dem ex-Staatssekretär für Wirtschaft, Jean-Daniel Gerber, und dem Verleger und Chefredaktor der Weltwoche, Roger Köppel, werden grundsätzlichen Fragen, welche das Verhältnis der Schweiz zu Europa generell und speziell zur EU betreffen, diskutiert. Das spannende Gespräch zeigt, wie unterschiedlich die Leistungen der EU und die Souveränität der Schweiz und ihre Einzigartigkeit bewertet werden.

Die Volkswirtschaft: Anlass unserer Debatte sind offene institutionelle Fragen in den Beziehungen Schweiz-EU, die gegenwärtig die Verhandlungen über Sachdossiers zu blockieren scheinen. Zum Einstieg in unser Streitgespräch eine grundsätzliche Frage: Wo beginnt und wo endet Europa für Sie?Köppel: Geografisch und kulturell ist die Schweiz ein integraler Bestandteil Europas. Als Rechtsordnung beginnt hingegen Europa jenseits unserer Landesgrenzen, auch wenn leider durch gewisse Abkommen mit der EU, wie Schengen/Dublin und die Personenfreizügigkeit, unsere Grenzen sich in Auflösung befinden. Damit haben wir einen Teil unserer rechtlichen Autonomie abgegeben und uns eine Art trojanisches Pferd eingehandelt.Gerber: Wir teilen viel mehr mit Europa: Wir gehören kulturell, wirtschaftlich, wissenschaftlich und sicherheitspolitisch zu Europa. Selbst unsere Rechtsordnung ist nicht ein eigenes Produkt, sondern wurde vom Code Napoleon wesentlich beeinflusst. Zum Glück! Wir gehörten zu Europa, wir gehören zu Europa, und wir werden auch in Zukunft zu Europa gehören.Köppel: Was die Rechtsordnung betrifft, gehören wir sicher nicht zu Europa. Unsere Ordnung basiert auf der Idee der Souveränität des Bürgers. Schlussendlich hat das Volk das Sagen. In den repräsentativen Demokratien Europas verfügen hingegen die gewählten Politiker und im supranationalen Gebilde EU sogar ungewählte Funktionäre über mehr Macht. Das ist eine markante Linie, die uns vom restlichen Europa trennt.Gerber: Nicht nur die Schweiz räumt dem Bürger Rechte ein, sondern auch die andern europäischen Länder. Die direkte Demokratie geht bei uns weiter. Deshalb sind die anderen Länder aber nicht undemokratisch. Köppel: Bei der Souveränität gibt es einen kategorischen Widerspruch zwischen der direkten und der repräsentativen Demokratie: In der repräsentativen Demokratie delegiert der Bürger mehr Macht nach oben, in der direkten Demokratie behält er mehr Macht bei sich. Das hat eine enorm disziplinierende Wirkung auf die Politik. Zudem ist die EU von oben nach unten aufgebaut, die Schweiz von unten nach oben. Das ist denn auch der wesentliche Kern der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Systemen.Gerber: Herr Köppel, Sie können die Souveränität, die Ihnen so wichtig ist, nur verteidigen, wenn Sie am Verhandlungstisch sitzen und ihre Interessen wahrnehmen können. Sonst ist es eine rein fiktive Souveränität, die Ihnen nichts nützt. Die kleineren EU-Länder Europas, wie etwa Belgien oder Holland, oder das EWR-Land Norwegen, haben mehr Einfluss auf die EU als die Schweiz. Klar, wir sind souverän, wir können ja oder nein sagen. Aber bedenken Sie, dass 20% der neuen Schweizer Gesetzgebung einfach EU-Recht ist, das wir übernehmen müssen, um zu vermeiden, diskriminiert zu werden. Dies geschieht, ohne vorher konsultiert worden zu sein. Deshalb ist die Frage berechtigt: Wer verteidigt denn seine Souveränität besser: diejenigen, die am Tisch sitzen, diejenigen die konsultiert werden oder die Abwesenden? In der Theorie mögen Sie recht haben. Wir sind souverän. In der Praxis können wir aber weniger mitreden. Deshalb gilt für mich: Isolationspolitik ist Illusionspolitik!Die Volkswirtschaft: Gibt es für Sie, Herr Köppel, als Anhänger eines Europas von souveränen Staaten, überhaupt etwas Positives, was das Europa der Nachkriegszeit erreicht hat?Köppel: Für mich ist die ursprüngliche wirtschaftliche Leistung bis etwa in die 1990er-Jahre hinein das grösste Verdienst der EU. Dazu gehört insbesondere die Öffnung der Märkte – selbst wenn der Prozess, wie dies hergestellt wurde, vor allem beim Euro für einen Demokraten etwas irritierend war. Das Positive wird aber durch überzogene politische Ambitionen konterkariert. In ihrer heutigen Form ist die EU meines Erachtens dysfunktional und nicht in der Lage, nachhaltig Wohlstand zu generieren. Sie ist sogar im Begriff, ihre Raison d’être, die Friedensstiftung, für die sie gelobt wurde, zu unterlaufen. Wie wir seit der Verschuldungskrise in Europa feststellen müssen, weckt die EU zunehmend nationale Ressentiments zwischen Süd- und Nordeuropa. Auch historisch betrachtet beurteile ich die Friedensleistung der EU weniger pathetisch. Nicht die EU hat in Europa den Frieden gesichert, sondern die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Die EU ist eine Folge dieses Friedens, nicht sein Grund.Gerber: Ich schätze die Friedensleistung der EU hoch ein. Wenn Sie die europäische Geschichte anschauen, gab es nie ein halbes Jahrhundert ohne Krieg. Jetzt sind es bald 68 Jahre. Und ich gehe davon aus, dass die Kriegswahrscheinlichkeit in Europa immer noch abnimmt, weil die EU, wenn auch unter grossen Schwierigkeiten, die ehemaligen Oststaaten integriert. Den nachhaltigen Frieden kann man nicht einfach deklarieren. Dieser Friede beruht vielmehr auf Zusammenarbeit und wirtschaftlicher Integration. Das ist in Europa geschehen. Dank freiem Güter-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr ist Europa zusammengewachsen. Kriege zu führen ist fast nicht mehr möglich. Wir alle profitieren sehr von diesem europäischen Frieden. Die Volkswirtschaft: Sprechen wir über die wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz mit den EU-Ländern…Gerber: 60% unserer Importe gehen in die EU, und 80% unserer Importe kommen aus der EU. Auch wenn die Bedeutung Europas für die Schweiz etwas ab und jene der Schwellenländer etwas zunehmen wird: Europa wird mit Abstand unser wichtigster Partner bleiben. Die Entwicklung der EU ist für die Schweiz bedeutungsvoll und auf gewissen Gebieten gar ausschlaggebend. Es kann uns nicht gut gehen, wenn es unseren Nachbarn schlecht geht. Deshalb haben wir ein direktes Interesse und eine Verantwortung, bei der Lösung grosser gemeinsamer europäischer Probleme als zuverlässiger und solidarischer Partner mitzuwirken.Köppel: Die Schweiz muss sich global ausrichten. Die Verschuldungs- und Eurokrise haben uns vor Augen geführt, dass eine allzu extreme Abhängigkeit vom europä­ischen Markt gefährlich sein kann und eine globale Ausrichtung für unsere Wirtschaft überaus wichtig ist. Aber selbstverständlich werden und die USA die EU als Markt für die Schweiz vorderhand nicht ersetzen können. Für die EU ist die Schweiz heute nach den USA der wichtigste Exportmarkt. Und bei den Importen rangiert die Schweiz auf Rang 4. Das zeigt, dass ein gutes Verhältnis EU-Schweiz von gegenseitigem Interesse ist. Gerber: Wir sind europäisch ausgerichtet und global tätig. Das eine schliesst das andere nicht aus. Das gilt sogar noch ausgeprägter für gewisse EU-Länder wie Belgien und die Niederlande, die mehr Handel ausserhalb der EU treiben als die Schweiz. Wie wichtig die globale Ausrichtung ist, haben uns in der Tat die Krisenjahre 2008/09 gezeigt, als die Schwellenländer noch genügend Geld hatten, um unsere Produkte zu kaufen.Die Volkswirtschaft: Der bilaterale Weg, den die Schweiz nach Ablehnung des EWR-Beitritts vor zwanzig Jahren eingeschlagen hat, wird von Bundesrat und Parlament als ein erfolgreicher betrachtet. Wie sieht die Bilanz der Bilateralen aus Ihrer Sicht aus?Köppel: Die bilateralen Verträge werden meines Erachtens hochstilisiert. Wir schliessen seit jeher bilaterale Verträge ab. Ein unabhängiger Staat schliesst mit einem anderen Staat einen Vertrag zum wechselseitigen Nutzen ab. Nun aber wurden mit der EU Verträge abgeschlossen, die nicht im Interesse der Schweiz sind oder nur sehr bedingt, viel weniger, als uns dies seinerzeit vom Bundesrat suggeriert wurde. So wurde uns etwa bei der Abstimmung zu Schengen/Dublin gesagt, es sei ein Instrument zur Kontrolle des Asylwesens. Was ist eingetreten? Wir hatten im letzten Jahr dreimal mehr Asylgesuche als beim Abschluss des Abkommens. Mit der leichtfertigen Auflösung der Grenzen haben wir den liberalen Rechtsstaat überfordert. Als Quittung sind Volksinitiativen gegen die Masseneinwanderung seitens SVP und Ecopop hängig, welche neue Mauern gegen die Einwanderung errichten wollen. Die überstürzte Öffnung der Grenzen produziert letztlich genau das Gegenteil dessen, was wir erreichen wollten: Statt äussere Grenzen aufzulösen, werden neue innere Grenzen errichtet. Auch was Linke und Gewerkschaften als Reaktion wollen, nämlich den liberalen Arbeitsmarkt der Schweiz einschränken, ist beunruhigend. Meiner Meinung nach wäre die Schweiz deutlich besser gefahren, wenn sie nach der Ablehnung des EWR ihre wirtschaftlichen Interessen auf der Grundlage des FHA von 1972 artikuliert hätte, ohne die Zugeständnisse bei Personenfreizügigkeit und Schengen/Dublin zu machen.Gerber: Ich beurteile den Wert der bilateralen Verträge völlig anders. Wir haben über 120 Abkommen mit der EU abgeschlossen, was auf der Basis des FHA in diesem Ausmass nie möglich gewesen wäre. Das Resultat: Wir können in vielen Bereichen in der EU mit gleich langen Spiessen kämpfen und werden nicht diskriminiert. Ohne die bilateralen Verträge wäre unser Wirtschaftswachstum der letzten 10 Jahre gar nicht möglich gewesen. Dazu hat die Personenfreizügigkeit ganz wesentlich beigetragen. Probleme haben wir genau dort, wo wir keine Abkommen haben und wo die EU jetzt bremst, nämlich beim Marktzugang im Dienstleistungsbereich. Die Banken und Versicherungen lassen grüssen. Das Asylproblem, Herr Köppel, hat weniger mit Schengen/Dublin zu tun, jedoch viel mit dem Wohlstandsgefälle und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir hätten auch ohne Schengen/Dublin Probleme, denn die Grenze konnten und können wir nicht einfach dicht machen. Mit Schengen/Dublin können wir die Leute immerhin wieder ins Erstasylland zurückschicken, was vorher in diesem Ausmass nicht möglich war. Ohne diese Abkommen hätten wir noch mehr dauerhaft bleibende Asylsuchende.Die Volkswirtschaft: Herr Köppel. Sie bestreiten die positive Wirkung der Personenfreizügigkeit für die Schweiz. Warum?Köppel: Die Schweiz war immer ein offenes Land. Sie soll die besten Leute holen können, woher sie auch immer kommen mögen. Wir waren so etwas wie ein Real Madrid oder eine Harvard Universität der Staaten: Man wollte und will zu uns kommen. Niemals aber würde Harvard ein Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Clubschule Migros abschliessen. So ein Vertrag brächte der Clubschule viel, Harvard allerdings wenig. Genau das haben wir aber mit der EU getan. Alle können kommen, unser Sozialstaat steht auch Ausländern offen. Das ist nicht durchdacht und führt zu den erwähnten Phänomenen wie Ausländerfeindlichkeit, Ökonationalismus, Arbeitsmarktregulierung und Einwanderungsstopp. Wir bauen neue Mauern, weil wir leichtfertig die Grenzen eingerissen haben. Gerber: Weltoffen und Mauern bauen widersprechen sich. Die Personenfreizügigkeit hat zweifellos einen gewissen Druck ausgelöst – allerdings nicht bei den Unqualifizierten, sondern eher bei den besser Qualifizierten. Zu den politischen Initiativen: Der politische Gegendruck mit Initiativen ist nicht neu, wie es die Schwarzenbach-Initiativen und die späteren Beschränkungsinitiativen gezeigt haben. Sie sind Ausdruck der 
direkten Demokratie, die wir beide befürworten. Meistens werden sie auch aus wahltaktischen Motiven lanciert. Das Volk soll sich darüber aussprechen können, und ich setze mich dabei ein für eine Schweiz, die ihre Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt auch lebt und sich nicht gegen aussen verschliesst.Köppel: Das Schengen/Dublin-Abkommen funktioniert einfach nicht. Das sagt 
Ihnen jeder, der damit in Bern zu tun hat. Wir haben es bei der Flüchtlingskrise in Nordafrika gesehen. Die Italiener registrieren die Flüchtlinge, die dort an Land kommen, gar nicht. Sie wären ja dumm, wenn sie das machen würden. Dafür schicken sie die Flüchtlinge in Zügen in den Norden, weil die Italiener wissen, dass der Schweizer Zoll, der diese registriert, erst einmal beweisen muss, dass diese in Italien an Land gegangen sind.Gerber: Zwischenfrage: Was ist die Alternative?Köppel: Die Alternative ist die gute alte Landesgrenze. Ich bin nicht für Stacheldraht an den Grenzen und auch nicht für radikale Initiativen gegen die Einwanderung. Aber die Schweiz muss selber bestimmen, wen sie holt und darf keinen Automatismus zulassen. Gerber: Ihre Alternative wäre folglich zurück zur alten Kontingentspolitik. Finden Sie es in der Tat besser, wenn ein Beamter in Bern entscheidet, was unsere Wirtschaft braucht? Meiner Meinung nach ist das eine schlechte und ungerechte Lösung, wie die Vergangenheit, als wir ein solch autoritäres diskriminatorisches System kannten, zur Genüge gezeigt hat.Köppel: Eine Patentlösung habe auch ich nicht. Aber Ökonomen wie Hans-Werner Sinn haben ad extremis nachgewiesen, wie hoch die Kosten von Massenzuwanderung für den Sozialstaat sind. Übrigens gibt es, abgesehen von der EU und der Schweiz, kein liberales Land, das die Personenfreizügigkeit hat: Weder die USA, noch Kanada, noch Australien kennen sie.Die Volkswirtschaft: Welche Eingeständnisse sind Sie, Herr Köppel, denn bereit, im Rahmen von bilateralen Verträgen zu machen, und welche nicht?Köppel: Als liberaler Mensch ist es mir zutiefst fremd, dass, wenn ich mit einem anderen Land Handel treibe, ich auch die Rechtsordnung des anderen oder irgendwelche Vorstellungen dazu übernehmen muss. Wie wenn wir, um ein Extrembeispiel zu nehmen, nur weil wir mit China Handel treiben und einen guten Teil unserer Uhren dort verkaufen, Retorsionsmassnahmen zu befürchten hätten, weil wir etwa den Konfu­zianismus als Staatsreligion nicht übernehmen.Gerber: Wir wollen am grossen Binnenmarkt der Europäischen Union teilnehmen und haben ein grosses Interesse, dabei zu sein. Was die EU fordert ist, dass jene, die das wollen, auch die EU-Regeln übernehmen. Nehmen wir einmal an, Vorarlberg wünsche voll in den Binnenmarkt der Schweiz integriert zu werden. In diesem Fall würden auch wir sagen: Gerne, aber bitte gemäss unseren Regeln, Gesetzen und Verordnungen. Genau diese Frage ist der Auslöser des institutionellen Konflikts zwischen der EU und der Schweiz. Wie ist das Recht zu übernehmen, wie wird es umgesetzt, und wer entschiedet bei Meinungsverschiedenheiten? Hier müssen wir eine Lösung finden, welche die Interessenlage sowohl der EU und der Schweiz berücksichtigt – ein zugegebenermassen nicht einfaches Unterfangen.Köppel: Brauchen wir den Binnenmarkt? Reichen Freihandelsabkommen nicht aus? Ich gebe doch nicht meine Identität auf, wenn ich mit einem anderen ein Geschäft machen will. Sind wir schon soweit? In Bern haben wir heute eine Mentalität, die ich als Journalist seit einigen Jahren intensiv beobachte, die man als schleichende Beitrittssehnsucht, eine Art Verschmelzungswunsch, interpretieren könnte. Es geht nicht primär um die Verteidigung der eigenen Interessen, der eigenen Vorteile, der eigenen Rechts­prinzipien. Das machen wir eindeutig zu wenig.Gerber: Auch die Schweiz hat eine Verantwortung an der Entwicklung Europas. Mein Eindruck ist, dass für Sie jede Konzession am Aufbau dieses Europas eine zu viel ist. Damit sind Verhandlungen im vornherein parktisch ausgeschlossen. Meine Meinung ist: Wir müssen verhandeln, an der Weiterentwicklung teilnehmen, bei der Beurteilung der Ergebnisse eine Interessenabwägung vornehmen und, wenn die Vorteile überwiegen, ja sagen. Die Volkswirtschaft: Sie haben klar verschiedene Visionen von Europa und vom Verhältnis der Schweiz zur EU. Was sind für Sie die besten Bedingungen, damit die Schweiz und Europa in Zukunft in Frieden und Wohlstand leben können?Gerber: In wirtschaftlicher Hinsicht sicher eine gesunde Wirtschaftspolitik. Das vermindert das Wohlstandsgefälle zwischen Süd und Nord. Wir wissen, dass ein grosses Wohlstandsgefälle immer zu Schwierigkeiten führt, sei es zu Migration oder im Extremfall zu Krieg. Und Europa muss eine Stimme haben, weltweit. Wenn Europa keine Stimme hat und nicht für seine kulturellen Errungenschaften und den Weltfrieden eintreten kann, dann geraten wir in die Bedeutungslosigkeit. Deshalb ist es gut, wenn die EU eine möglichst einheitliche Aussenpolitik hat. Es wäre ideal, wenn das, was wir in Europa mit der langen Friedensperiode fertiggebracht haben, auch weltweit erreicht werden könnte.Köppel: Ich bin kein Freund der Vision eines Europas als Grossmachtfaktor in der Welt, als grosses Gebilde, das seine Stimme nachhaltig einbringen kann. Diese Grössenphantasie eines Europas als wesentlicher Machtblock ist für mich eine alarmierende Vision. Europa muss zurück zu einer überschaubaren Struktur. Ein Grosseuropa heisst für mich unkontrollierte Politik und unkontrollierte Macht. Das widerstrebt meinen demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Warum nicht zurück zu einem Europa der Vaterländer im De Gaullschen Sinne? In diesem Europa wäre die Schweiz ein ganz natürliches Mitglied. Wenn ich auch nicht weiss, wie wir diese Vision umsetzen können: Ich habe grosse Zweifel, dass eine ambitionierte Grossraum-EU ein Segen für die Welt und für Europa wäre. Ich glaube, es wäre das Gegenteil.Die Volkswirtschaft:Meine Herren, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Kasten 1: Zuwanderung

Zuwanderung


Die Volkswirtschaft:Welche Auflagen muss ein Zuwanderer konkret erfüllen, um in die Schweiz zu kommen? Gerber: Mit der Personenfreizügigkeit kann man bei uns nicht ohne Vorbedingungen zuwandern. Sie müssen einen Arbeitsplatz haben, sie dürfen nicht sozialbedürftig sein, und sie müssen eine Wohnung haben. Nochmals die positiven Wirkungen: Von 1990 bis 2003, also vor der Personenfreizügigkeit, hatte die Schweiz das zweitschlechteste Wirtschaftswachstum aller OECD-Länder. Nicht nur, aber auch wegen der Personenfreizügigkeit sind wir mittlerweile wieder bei den Wachstumsstärksten. Köppel:Die Personenfreizügigkeit ist eine Schönwetterkonstruktion in einer Zeit des Wirtschaftswachstums. Wachstum hat es in der erwähnten Periode nicht nur bei uns gegeben. Die Personenfreizügigkeit hat vielleicht mit dazu beigetragen; aber wie viel genau, das wissen wir nicht. Dafür wissen wir, dass ein beträchtlicher Teil der Zuwanderer schnell in unseren Sozialwerken auftaucht. Auch die Arbeitslosenquote in der Schweiz wird durch die Zuwanderung eher steigen.

Kasten 2: Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien

Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien


Die Volkswirtschaft: Was passiert im Falle eines Neins zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien? Ist es Schwarzmalerei zu sagen, dass die Schweiz damit den Zugang zum Binnenmarkt in der EU aufs Spiel setzt? Gerber:Es gilt zu unterscheiden zwischen den rechtlichen Aspekten und dem, was effektiv in der Praxis passiert. Rechtlich hat aufgrund der Guillotine-Klausel die EU das Recht, die Bilateralen I zu künden. Das hätte sehr ungünstige Auswirkungen auf die Schweiz. Ob die EU diese Klausel tatsächlich anwenden wird, ist eine andere Frage. Wie Herr Köppel gesagt hat: Die EU hat auch ein Interesse an der Schweiz. Vermutlich würden wir gebeten, noch einmal über die Bücher zu gehen, wie man das normalerweise mit Vertragspartnern macht und es die EU in der Vergangenheit schon mit ihren Mitgliedern gemacht hat. Köppel:Ich sehe das ganz entspannt. Wenn die Schweiz das Abkommen ablehnt, tritt es einfach nicht in Kraft. So wurde uns das Abkommen damals ja auch verkauft, etwa von Bundesrat Joseph Deiss. Die EU wird nicht so verrückt sein, das Verkehrsabkommen mit der Schweiz aufzulösen. Ich kann mir auch keine Retorsionsmassnahmen vorstellen.

Zitiervorschlag: Spescha, Geli (2013). Zum Verhältnis der Schweiz zur EU: Ein Streitgespräch zwischen Jean-Daniel Gerber und Roger Köppel. Die Volkswirtschaft, 01. Januar.