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Wachstumsstrategien der Kantone: Von den Determinanten der regionalen Wettbewerbsfähigkeit zum Wachstumsprogramm

Wachstumsstrategien der Kantone: Von den Determinanten der regionalen Wettbewerbsfähigkeit zum Wachstumsprogramm

In den vergangenen 15 Ausgaben wurden im Rahmen der Serie in diesem Heft die kantonalen Wachstumsstrategien vorgestellt. Zum Abschluss der Serie liefert der Autor eine Einordnung der kantonalen Strategien in den Kontext der nationalen Wachstumspolitik. Nach der Beant­wortung der Frage, weshalb kantonale Wachstumsstrategien aus ökonomischer und institutioneller Sicht sinnvoll sind, wird ­erklärt, worauf sie beruhen und wie sie ausgestaltet sein müssen, um den grösstmöglichen Effekt zu erzielen.

Wie Silvan Lipp (2012) ausführt, erfolgte in der Schweiz ab Beginn der 1990er-Jahre eine Hinwendung zum Konzept der Wettbewerbsfähigkeit als Leitidee der nationalen Wirtschaftspolitik. Neu sollte mehr «Wettbewerbsfähigkeit nach aussen durch mehr Wettbewerb im Innern» angestrebt werden. Diese grundsätzliche Neuorientierung der Wirtschaftspolitik geschah in einem Moment, als in den Wirtschaftswissenschaften der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit schärfere Konturen gewann und damit einen analytischen Rahmen anbot, der auch An­leitung für die praktische Wirtschaftspolitik zu liefern vermochte.
Vgl. z.B. Porter (1990), Borner et al. (1990). Gleichzeitig begannen die sich beschleunigende Globalisierung – angestossen durch Ereignisse wie der Fall der Berliner Mauer, die fortschreitende Integration Chinas, Indiens und weiterer aufstrebender Volkswirtschaften in den Weltmarkt – sowie die Verbreitung und steigende Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien die wirtschaftlichen Realitäten fundamental zu verändern. Als Reaktion darauf wurden auf Bundesebene mehrere wirtschaftspolitische Initiativen lanciert. Dazu gehörten namentlich das Revitalisierungsprogramm im Nachgang zur Ablehnung des EWR-Beitritts 1992, welches eine marktwirtschaftliche Erneuerung ein­leiten und in vielen Bereichen auch Europakompatibilität herstellen sollte, die Einführung einer regelgebundenen Ausgabenpolitik mit der Schuldenbremse im Jahr 2003 sowie die Formulierung einer expliziten Wachstumspolitik. Letztere war insbesondere als strategische Antwort auf die anhaltende Wachstumsschwäche der Schweiz seit Beginn der 1990er-Jahre gedacht. Der entsprechende Bericht aus dem Jahr 2002
Vgl. Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement (2002). hielt fest, dass «in einem dynamischen Sinn […] unter der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit […] Produktivitätswachstum» zu verstehen sei. Sowohl das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit wie auch jenes des Produktivitätswachstums wurden dabei nicht als Selbstzweck verstanden, sondern als Instrumente zur Haltung bzw. Steigerung des Wohlstandes und zur Wahrung des hohen Beschäftigungsniveaus. Der Hauptteil des Berichtes war verschie­denen wirtschaftspolitischen Ansatzpunkten gewidmet, wie ein höheres Produktivitätswachstum erreicht werden kann. Besondere Bedeutung kam dabei der Erhaltung der hohen Arbeitsmarktflexibilität, der Steigerung der Wettbewerbsintensität auf dem Binnenmarkt sowie der Sanierung und Optimierung der Staatsfinanzen zu.
Vgl. Interdepartementale Arbeitsgruppe «Wachstum» (2004).Viele Kantone haben sich bei der Festlegung ihrer Wirtschaftspolitik von diesem bundesrätlichen Wachstumspaket inspirieren lassen und selbst Programme zum wirtschaftlichen Wachstum lanciert. Diese Programme tragen teilweise unterschiedliche Bezeichnungen: Wachstumsstrategie, Wachstumspolitik oder wirtschaftliche Entwicklungsstrategie mit dem Ziel der Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie – ausgehend vom Konzept der regionalen Wettbewerbs­fähigkeit – strategische Zielsetzungen für die kantonale Wirtschaftsentwicklung formulieren und Massnahmen ableiten, die zur Stärkung der regionalen Standortattrakti­vität, zur Erhaltung oder Steigerung des Wohlstandes und zur Sicherung der Beschäftigung der Bewohner des jeweiligen Kantons beitragen sollen.

Nutzen und Risiken von Wachstumsstrategien für Politik und Gesellschaft


Es ist davon auszugehen, dass die Politik und ebenso die Verwaltung als Initianten ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu einer konkret ausformulierten Wachstumsstrategie haben, während für die Gesellschaft eher ein Nutzen resultieren dürfte. Einerseits erleichtert eine Wachstumsstrategie den Behörden und der Politik die (wirtschafts-)politische Führung und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Sie bündelt auch konzeptionell unterschiedliche, wirtschaftspolitische Initiativen, gibt im Vollzug von Bundesgesetzen eine klare Orientierung vor und schafft letztlich ordnungspolitisch einen kohärenteren Rahmen, indem sie bestehende wirtschaftspolitische Zielkonflikte transparent macht. Andererseits nimmt eine solche Strategie die Politik und die Verwaltung ­gegenüber der Gesellschaft in die Pflicht und fordert von diesen Rechenschaft. Denn die wirtschaftspolitische Arbeit wird damit überprüfbarer; Politik und Verwaltung lassen sich nun an den selbst gesetzten strategischen Zielen messen. Der bisherige Erfolg der Wachstumsstrategie des Bundesrates und auch die vielen kantonalen Initiativen lassen den Schluss zu, dass der Nutzen einer explizit formulierten wirtschaftspolitischen Strategie die Risiken übersteigt. Folgende Faktoren dürften dabei für die erfolgreiche Erarbeitung solcher Strategien ausschlaggebend sein: Eine Wachstumsstrategie sollte möglichst einfach aufgebaut und formuliert sein. Dazu gehört insbesondere, dass sie auf nur wenige, dafür aber wichtige – und idealerweise überprüfbare – Ziele und Massnahmen fokussiert. Sie sollte ferner zeitlich auf die Legislatur­planung abgestimmt sein und innerhalb der Verwaltung sowie zwischen den politischen Departementen breit abgestützt und koordiniert werden. Dadurch ­erhöht sich die politische Akzeptanz, was eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg darstellt.

Ökonomische und institutionelle ­Voraussetzungen für kantonale ­Wachstumsstrategien


Die Erarbeitung einer Strategie und die Formulierung von strategischen Zielsetzungen setzt sinnvollerweise voraus, dass zum einen die Wachstumsprozesse wesentlich regional determiniert und daher auch regional beeinflussbar sind. Zum anderen sollen die relevanten Akteure institutionell über entsprechenden Handlungs- und Gestaltungsspielraum verfügen, um Ressourcen und Mittel zur Zielerreichung mobilisieren zu können. Erstens ist folglich eine kantonale Wachstumsstrategie nur sinnvoll, wenn die ­wichtigsten Wachstumsdeterminanten und Standortfaktoren auch überwiegend auf ­regionaler Ebene wirksam sind. Würden das regionale Wertschöpfungs- und Be­schäftigungswachstum sowie die wichtigsten Standortfaktoren überwiegend von ­nationalen oder gar globalen Faktoren de­terminiert, erübrigte sich eine regionale beziehungs­weise kantonale Wachstumsstrategie. Wenn demnach auf regionaler Ebene auf die wichtigen Wachstumsdeterminanten kein Einfluss genommen werden könnte, müsste konsequenterweise die wirtschaftspolitische Steuerung auf den nächst höheren Ebenen angesiedelt werden. Shift-Share-Analysen zeigen jedoch, dass das regionale Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum wesentlich durch die regionale Wirtschaftsstruktur – namentlich die Branchenstruktur – und regionalspezifische Effekte (Standortfaktoren) bestimmt werden, während na­tionale oder gar globale Faktoren einen ­vergleichsweise geringeren Einfluss haben.
Vgl. Müller und Eichler (2008), Eichler et al. (2006), ­Kitson et al. (2004).Somit ist eine erste zentrale Voraussetzung für die Formulierung regionaler beziehungsweise kantonaler Wachstumsstrategien erfüllt, nämlich die wesentlich regionale Determiniertheit und Beeinflussbarkeit des regionalen Wachstumsprozesses oder der Wettbewerbsfähigkeit. Eine zweite wichtige Voraussetzung ist, dass auf regionaler Ebene institutionell ­wirtschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten existieren. Auch hier würde sich eine kantonale Wachstumsstrategie erübrigen, wenn die relevanten Akteure politisch und institutionell über keinerlei Gestaltungsspielräume haben würden. In der Tat verfügen die Kantone im Rahmen des föderalen Systems aber über weitreichende Zuständigkeiten und Kompetenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik. Die Kantone vollziehen beispielsweise Bundesrecht, wobei ihre Gestaltungsspielräume hinsichtlich der Vollzugsorganisation und -prozesse teilweise sehr gross sind (Vollzugsföderalismus). Mit der Steuerhoheit verfügen sie auch in der Fiskalpolitik über ein wichtiges Instrument zur Gestaltung der fiskalischen Standortattraktivität. Als weitere wichtige Aufgabenbereiche sind die Bildungspolitik, die Bau- und Raumordnungspolitik oder die Gewerbepolizei zu nennen, die ebenfalls in die kantonale Zuständigkeit fallen. Und ferner können Kantone – solange dies nicht in Widerspruch zur Wirtschaftsfreiheit steht – strategische Beteiligungen an Unternehmen eingehen. Viele Kantone verfügen über substanzielle Beteiligungen an den Kantonalbanken oder an Infrastrukturunternehmen (Transport, Energie, Abfallentsorgung usw.). Somit erscheint es auch aus politischer und institutioneller Sicht sinnvoll, kantonale Wachstums- oder Wirtschaftsstrategien zu entwickeln.

Von der regionalen Wettbewerbsfähigkeit zur regionalen Wachstumsstrategie


Auf Ebene von Ländern gibt es eine grosse Zahl von theoretischen und empirischen Studien, die sich mit Fragen des Wirtschaftswachstums, der Wettbewerbsfähigkeit und deren Einflussfaktoren auseinandersetzen. Demgegenüber sind die theoretischen und empirischen Grundlagen zur Erklärung des regionalen Wachstums, der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und der Standortfaktoren nach wie vor dünn gesät. In der Regionalökonomie hat sich daher ein sehr eklektischer Ansatz durchgesetzt, der einerseits auf Erklärungsmodelle verschiedener theoretischer Richtungen der Wachstumsökonomie und andererseits auf empirische Analysen rekurriert. Letztere basieren etwa auf regionalen Wachstumsregressionen oder auf regionalen Benchmarkanalysen, also dem systematischen Vergleich und Monitoring der Standortfaktoren zwischen vergleichbaren Konkurrenzstandorten.
Siehe z.B. Martin (2002).Im regionalen Kontext wird Wirtschaftspolitik automatisch zu Standortpolitik. Die herkömmlichen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Technologie sind dabei nicht mehr Ausgangspunkt, sondern das Resultat oder die Ernte einer erfolgreichen Standortpolitik. Erfolgreich ist eine Standortpolitik dann, wenn es ihr gelingt, Wertschöpfungsprozesse zum Nutzen der Bewohner an den Standort anzuziehen. Für die Schweiz haben sich im Zusammenhang mit der regionalen Wettbewerbs­fähigkeit und Standortattraktivität folgende Themenfelder als wichtig herausgestellt:
Vgl. Müller und Eichler (2008).

  • Wissen und Innovation (Ausbildungs­infrastruktur, F&E-Ausgaben usw.);
  • nationale, internationale und interkontinentale Erreichbarkeit;
  • Steuerbelastung von Unternehmen und qualifizierten Arbeitskräften;
  • Regulierung (Arbeitsmarkt, Gütermärkte, Branchen);
  • Lebensqualität (kulturelle Angebote, Naherholungsgebiete usw.).


Daneben existieren natürlich weitere ­Determinanten der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität. Die in der Aufzählung genannten Faktoren vermögen aber zu einem wesentlichen Teil die regionale Wachstumsperformance zu erklären (siehe Grafik 1).Die Analyse und Identifikation der Standort- oder Wachstumsfaktoren bildet einen ersten Schritt auf dem Weg zur Formulierung einer kohärenten Wachstumspolitik. Geeignete Wachstumsstrategien sind immer auch kontextspezifisch und basieren letztlich auf unterschiedlichen Kombinationen der genannten Standortfaktoren und Rahmenbedingungen. Da es keine für alle Regionen gleichermassen optimale Kombination von solchen Rahmenbedingungen gibt, muss sich letztlich jede Region beziehungsweise jeder Kanton mit ihren/seinen komparativen Vor- und Nachteilen im Standortwettbewerb eigens positionieren. So ist die spezifische Branchenstruktur einer Region oder eines Kantons oft das Resultat einer historischen Entwicklung mit ausgeprägter Pfadabhängigkeit. Es leuchtet deshalb ein, dass etwa für eine Tourismus­-
region andere Standortfaktoren relevant sind als für eine Region mit hohem Anteil an Finanzdienstleistungen. Das Konzept der regionalen Wettbewerbsfähigkeit ist deshalb in der Praxis um die räumliche beziehungsweise die geografische Dimension zu ergänzen. Diese Ergänzung lässt sich exemplarisch in einem ersten Schritt am einfachsten entlang von zwei Achsen darstellen, mit je einer Achse für die Bevölkerungsdichte und einer für das Niveau oder Wachstum des BIP pro Kopf der Bevölkerung (siehe Grafik 2). Ein Kanton oder eine Region innerhalb eines Kantons kann sich nun in diesem Koordinatensystem strategisch positionieren. Je nach Regionstyp sind dann in einem weiteren Schritt entsprechende Entwicklungsstrategien zu erarbeiten. Letztlich sind also zwei Elemente zur Formulierung einer Strategie wichtig: zuerst die Identifikation der relevanten Rahmenbedingungen und Standortfaktoren und anschliessend die Analyse der strategischen Handlungsoptionen auf der Basis eines konkreten räumlichen Kontexts.

Fazit


Das föderale System der Schweiz eignet sich bestens zur Untersuchung der relevanten Standortfaktoren. Einerseits stehen die Kantone im Wettbewerb um die mobilen Standortfaktoren zueinander. Weil die natürlichen beziehungsweise funktionalen Grenzen oft nicht mit den politisch-administrativen Grenzen zusammenfallen, sind die Kantone anderseits auch angehalten, eng zu kooperieren, um positive externe Effekte und Spillovers nutzen zu können. Grundsätzlich gilt dabei, was oft schon gesagt wurde: Das föderale System der Schweiz bildet ein interessantes Labor, in dem sich gute Lösungen im Wettbewerb durchsetzen und allenfalls nachgeahmt werden können. Dass die Kantone explizite Wachstums- und Wirtschaftsentwicklungsstrategien formulieren, kann diesen Prozess nur befruchten.

Grafik 1: «Regionaler Wertschöpfungsprozess»

Grafik 2: «Regionstypen nach Einkommensniveau und -entwicklung sowie nach Bevölkerungsdichte»

Kasten 1: Literatur

Literatur

  • Borner, S., Brunetti, A. und Straubhaar, T. (1990): Die Schweiz AG – vom Sonderfall zum Sanierungsfall. Zürich.
  • Eichler, M., Grass, M., Blöchliger, H. und Ott, H. (2006): Research Program «Policy and Regional Growth» Determinants of Productivity Growth. BAK Report 2006/1. Basel.
  • Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement (2002): Der Wachstumsbericht. Determinanten des Schweizer Wirtschaftswachstums und Ansatzpunkte für eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik.
  • Interdepartementale Arbeitsgruppe «Wachstum» (2004): Das Wachstumspaket des Bundesrates: Detaillierte Beschreibung und Stand der Umsetzung Ende 2004.
  • Kitson, M., Martin, R. und Tyler, P. (2004): Regional Competitiveness: An Elusive yet Key Concept?, in: Regional Studies 38.9.
  • Lipp, S. (2012): Standort Schweiz im Umbruch. Etappen der Wirtschaftspolitik im Zeichen der Wettbewerbsfähigkeit. Zürich.
  • Martin, R.L. (2002): A Study on the Factors of Regional Competitiveness – A draft final report for the European Commission Directorate-General Regional Policy. Cambridge.
  • Müller, U. und M. Eichler (2008): Wettbewerbsfähigkeit von Regionen, in: Die Volkswirtschaft 3–2008.
  • Porter, M. (1990): The Competitive Advantage of Nations. Harvard Business Review.

Zitiervorschlag: Boris Zürcher (2013). Wachstumsstrategien der Kantone: Von den Determinanten der regionalen Wettbewerbsfähigkeit zum Wachstumsprogramm. Die Volkswirtschaft, 01. März.