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Lebensraum Schweiz heute – Ordnung und Chaos

Wir leben in einer neuen «Gründerzeit». Die Anforderungen an den Lebensraum Schweiz haben sich geändert. Es gilt ihn neu zu gestalten. Nachhaltige und vielfältige Lebensformen in Siedlungen mit hoher Lebensqualität sind gefragt, dies in Harmonie und im Austausch mit Natur und Landschaft. Das Raumkonzept Schweiz weist einen Weg aus dem heutigen Wildwuchs in eine gezielte Gestaltung unseres Lebensraums. Der folgende Artikel beleuchtet das Konzept aus städtebaulicher und raumplanerischer Perspektive.

Vom sanften Wandel zum ­radikalen ­Umbruch


Über Jahrhunderte eignete sich die Bevölkerung Lebensraum an und gestaltete ihn für die sich im Laufe der Zeit ändernden ­Bedürfnisse. Die Industrialisierung brachte grosse Veränderungen. Jedoch wurden Eisenbahn, Infrastrukturen und Siedlungen so gebaut, dass sie landschaftlich, städtebaulich, ortsbaulich und architektonisch hohen Ansprüchen genügen. Die Dörfer und Städte waren noch verhältnismässig kompakt und homogen.Nach dem 2. Weltkrieg ermöglichten Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt neue Formen und Dimensionen der Besiedlung. Der Bau des Nationalstrassennetzes und der flächige Ausbau des Strassennetzes veränderten die Standortbedingungen radikal. Später kamen die Netze des öffentlichen Verkehrs hinzu mit Hauptachsen und S-Bahnnetzen. Der überwiegende Teil der heutigen Bausubstanz entstand in den letzten 50 Jahren.Harmonische Landschafts-, Orts- und Stadtbilder werden überlagert und zerschnitten durch den Ausbau des Verkehrsnetzes sowie Über- und Anlagerungen von Baustrukturen, die oft wenig mit dem Ort oder der spezifischen Landschaft zu tun haben. Die forcierte Bautätigkeit führt zu heterogenen, oft gesichtslosen Orten. Anders als zum Beispiel in den Niederlanden oder in den skandinavischen Ländern gelang es in der Schweiz nicht, das Nachkriegswachstum der Siedlungen zu lenken; vielmehr herrscht in weiten Teilen Wildwuchs. Lage, Zuordnung und Dichte stimmen nicht; die orts- und stadtgestalterischen Qualitäten fehlen.

Vollzugsnotstand


Seit Jahrzehnten gibt es in unserem Land Erkenntnisse, Visionen, Konzepte, Gesetze und Verordnungen. Bislang fehlte es einfach an einer flächendeckenden Umsetzung. Es besteht Vollzugsnotstand. Entsprechend gross ist denn auch die Spannweite von hervorragenden, nachhaltigen Planungen und Realisierungen einerseits sowie raumplanerisch fragwürdigen Entwicklungen andererseits. Dabei ist oft ein Stadt-Land oder Zentrum-Peripherie-Gefälle feststellbar. In einzelnen Städten, Agglomerationen und Gemeinden haben die Verantwortlichen gehandelt. Die gestalterischen Bestrebungen sind nun spürbar und Resultate sichtbar in Form von aufgewerteten urbanen Lebensräumen mit Bezug zu spezifisch entwickelten Landschaften.

Hoffnung auf Raumkonzept Schweiz


Das Raumkonzept Schweiz zeigt die unter den heutigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen vorstellbaren Konturen einer solchen Entwicklung. Es ist das bisher konkreteste raumplanerische Konzept für die Schweiz. Qualitative Anforderungen werden definiert und Formen einer nachhaltig gestalteten, vernetzten Siedlungsstruktur skizziert. Diese werden auf die Handlungsräume der geografisch äusserst vielfältigen Schweiz heruntergebrochen. Letztlich umfasst das Raumkonzept Schweiz auch Empfehlungen für die Umsetzung auf den drei Staatsebenen Bund, Kanton und Gemeinden. Das Raumkonzept ist evolutionär und nicht revolu­tionär.

Gestaltungsanspruch auf allen Ebenen


Das Raumkonzept Schweiz muss auf verschiedenen Ebenen konkretisiert, präzisiert und auch hinterfragt werden: Kantone, Regionen, funktionale Räume, Agglomerationen, Städte, Gemeinden und Quartiere. Es braucht auf allen Ebenen Bilder und Konzepte zur Lenkung der räumlichen Entwicklung. Ein wesentlicher Aspekt ist die Verbindung von Landschaft und Siedlung als eine symbiotische Beziehung. Auf jeder Ebene geht es darum, den aus den Spielregeln der Landschaft entwickelten äusseren Rahmen für die Siedlungsentwicklung zu definieren wie auch die Freiraumstrukturen, welche die Siedlung gliedern, nachhaltig zu sichern. Auf der Ebene von Agglomeration, Stadt, Dorf und Quartier kommen das Netz des öffentlichen Raumes (Strassen, Plätze, Wege) und die städtebaulichen Spielregeln für die Bebauung dazu. Gesamthaft ergibt sich ein räumliches Regelwerk, das den Rahmen für die bauliche Entwicklung umschreibt und in Bandbreiten auch Spielräume für die architektonische Interpretation öffnet.

Verbindung von Tradition und Innovation


Vor dem Hintergrund der globalen und lokalen Herausforderungen bezüglich Klima, Ressourcen und Umwelt sowie eines sich verschärfenden Wettbewerbes bezüglich Standortqualitäten und Effizienz sind für die überwiegend urbane Bevölkerung der Schweiz kompakte Siedlungsstrukturen erforderlich. Die Erfüllung der technischen und funktionalen Anforderungen allein genügen nicht mehr, ebenso wenig wie allein die wirtschaftliche, technische und architektonische Optimierung. Die Siedlungserneuerung und das Wachstum nach innen müssen vermehrt auf die sinnlichen und emotionalen Bedürfnisse der Menschen abgestimmt werden; dabei sind Identität, Geschichte der Orte und der menschliche Massstab einzubeziehen. Der Raum ist und bleibt lokal und spezifisch – wie auch der Anspruch des Menschen, der in einem bestimmten Raum lebt.

Öffentliches Interesse gewinnt an ­Bedeutung


Bauherrschaften sind nicht mehr vorwiegend Einzelpersonen oder Kleinunternehmer, sondern Firmen, die spezialisiert sind auf die Entwicklung von Arealen in komplexen Gegebenheiten. Der zunehmende Grad der Anonymisierung der Bauträgerschaft, der Arealentwickler und der Investoren ruft nach neuen Formen von Entwicklungsprozessen. Private Selbstregulierung führt nicht zwingend zu Qualität. Heute sind die Bauherrschaften, Arealentwickler und Investoren eher abstrakte Grössen und wechseln unter Umständen. Tendenziell wird daher eine Maximierung der Nutzungsansprüche angestrebt, die im Widerspruch zu einer nachhaltigen Entwicklung und zum öffentlichen Interesse stehen können. Den professionell und effizient auftretenden neuen Bauherrschaften, die sich oft die Leistungen namhafter Architekten einkaufen, muss in den Gesamtrahmen des Ganzen – vertreten durch die Gemeinden und Kantone – eingebettet werden.Gerade die Stadt Zürich hat in den vergangenen Jahrzehnten kooperative und partizipative Verfahren entwickelt, um die In­teressen von Bauwilligen mit jenen der betroffenen und interessierten Bevölkerung in Einklang zu bringen und das öffentliche Interesse in Form von Zielen, Konzepten und Planungen wahrnehmen zu können. Die Synergien aus öffentlichen und privaten Interessen werden jeweils zugunsten eines ausgewogenen Ganzen entwickelt.

Beispiele aus der eigenen Praxis


Es ist ein besonderes Verdienst der Verfasser des Raumkonzeptes Schweiz, dass die Aussagen auch auf die einzelnen Handlungsräume umgelegt werden. Die Beispiele wurden so ausgewählt, dass verschiedene Ebenen in unterschiedlichen Handlungsräumen beleuchtet werden können. Ein Beispiel für die Planungsebene des Stadtteils bzw. Quartiers ist Malley in Lausanne und Renens (siehe Eintrittsbild).Mit dem «Räumlichen Entwicklungskonzept für die Region Bern – Mittelland» konnten griffige Aussagen zum Kernbereich der Hauptstadtregion formuliert werden (siehe Grafik 1). Sie dienten als Basis für das im Auftrag des Kantons Bern ausgearbeitete «Regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzept RGSK». Ein eng vernetztes System von Zentren und Siedlungsräumen ist auf zwei Entwicklungsachsen organisiert. Ein «grünes Band» begrenzt die innere Agglomeration gegen aussen. Auch der verdichtete Siedlungskörper von Bern ist durch innere Grünstrukturen gegliedert.Das «Räumliche Entwicklungskonzept für die Stadt Sursee» ist ein aktuelles Beispiel im klein- und mittelstädtisch geprägten Handlungsraum Luzern (siehe Grafik 2). Grünsystem und öffentlicher Raum definieren den Rahmen für eine qualitätsvolle, nach innen gelenkte Siedlungsentwicklung, dies bei einer beabsichtigten Zunahme der Einwohnerzahl um 20 % bis zum Jahr 2030.

Grafik 1: «Regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte Bern-Mittelland»

Grafik 2: «Räumliches Entwicklungskonzept für die Stadt Sursee»

Zitiervorschlag: Matthias Wehrlin (2013). Lebensraum Schweiz heute – Ordnung und Chaos. Die Volkswirtschaft, 01. April.