Suche

Abo

Personenfreizügigkeit – theoretisch unschädlich, praktisch unsäglich

Die Personenfreizügigkeit erhöht die Zuwanderung und damit das Wachstum der Bevölkerung und des gesamten Volksein­kommens. Sie bringt jedoch kein höheres Pro-Kopf-Einkommen, ­dafür aber zunehmende Knappheit von ­Boden und Infrastruktur. ­Zusammen mit den flankierenden ­Massnahmen droht sie die Schweiz ins wirtschaftliche ­Abseits zu führen. Vorsicht: Das Gesagte folgt nicht aus einer politisch korrekten, sondern aus einer ökonomisch richtigen Analyse.

Das offizielle Bild der Personenfreizügigkeit ist viel zu positiv. Es beruht unter anderem auf folgenden Fehleinschätzungen: «Die Schweiz ist auf die Zuwanderer an­gewiesen». Das stimmt nur für wenige Bereiche, etwa an Universitäten oder in der Altenpflege. In den meisten Berufen werden die Schweizer aber gerade durch die Zuwanderung noch knapper. In manchen Bereichen sind sie heute aus ganz natürlichen Gründen weit übervertreten – etwa bei den Anwälten, hohen Verwaltungsstellen, der Polizei oder der Kleinkinderziehung. Folglich müssen 
sie in den anderen Bereichen untervertreten sein. Je mehr die Zuwanderung die Gesamtwirtschaft – und damit auch die Nachfrage nach Schweizern – in den «Schweizer­branchen» wachsen lässt, desto mehr muss ihr Anteil in den anderen Branchen schrumpfen. «Die Zuwanderung füllt Lücken im Arbeitsmarkt». Falsch: Zwar erlaubt es die Zuwanderung, viele Lücken einfacher oder billiger zu füllen. Dadurch wird jedoch der Standort Schweiz attraktiver, was neue Investitionen und Firmen anzieht. Das schafft neue Arbeitsplätze, aber damit gleich wieder neue Lücken. Genau so schafft die Zuwanderung auch neue Nachfrage, was wiederum Lücken und damit «Bedarf» nach neuer Zuwanderung schafft. «Die Zuwanderung reguliert sich von selbst. Zuwanderer kommen nur, solange neue Stellen geschaffen werden». Falsch: Die Zahl offener Stellen wird weit weniger durch den Zuwachs von Arbeitsplätzen als durch die natürliche Fluktuation infolge Jobwechsel und Pensionierungen geprägt. So sind auch in schlechten Zeiten jährlich 400 000 Stellen neu zu besetzen. «Die Zuwanderer sind höher qualifiziert als die Schweizer». Falsch: Die Zuwanderer stammen wieder vermehrt aus den EU-Südländern, wo eher der formale als der reale Bildungsstand beeindruckt. Weil die formale Bildung dauernd zunimmt, sollten die Zuwanderer mit gleichaltrigen Schweizern verglichen werden. Dann erscheint ihre Bildung noch weniger eindrücklich. Zudem haben die wirklich hochqualifizierten Zuwanderer eine besonders kurze Verweildauer in der Schweiz. Deshalb ist die Nettozuwanderung weit weniger gut qualifiziert als die Bruttozuwanderung.«Die Zuwanderer bringen einen fiskalischen Überschuss. Sie zahlen mehr Steuern und Abgaben als sie den Staat kosten». Das stimmt nur unter sehr speziellen Bedingungen. Zuwanderer mit Kindern, die öffentliche Schulen besuchen, bringen nur einen fiskalischen Überschuss, wenn sie sehr gut verdienen und sehr lange bleiben – länger als sie es heute tun.«Die Nachfrage der Wirtschaft nach Zuwanderern kann gesenkt werden, indem die Frauen und Alten besser in den Arbeitsmarkt integriert werden». Falsch: Die verstärkte Arbeitsmarktintegration der Frauen und Alten reisst da neue Lücken, wo diese Personen bisher gewirkt haben. So muss dann die Kinderbetreuung vermehrt marktlich organisiert werden, wozu es wiederum zusätzliche Arbeitskräfte und damit Zuwanderer braucht. Zudem bringt die Mehrarbeit den Frauen und Alten Mehreinkommen, was wiederum Mehrausgaben, zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften und damit zusätzliche Zuwanderung bringt.«Die Personenfreizügigkeit ist wenigstens nicht schädlich». Was die Personenfreizügigkeit schlussendlich bringt, hängt von der schweizerischen Politik ab. In Kombination mit den geplanten flankierenden Massnahmen ist sie volkswirtschaftlich enorm schädlich. All die Eingriffe auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zum Schutz der bisherigen Einwohner zerstören zwei bisherige Hauptstärken der Schweiz, nämlich die relative Flexibilität des Arbeits- und des Wohnraummarktes. Gleichzeitig entstehen riesige Kosten, wenn die Politik versucht, den Energieverbrauch oder die Treibhausgasemissionen trotz Zuwanderung zu limitieren und sogar zu senken. Was heisst das nun für die zukünftige Politik der Schweiz? Trotz allem bringt heute die Personenfreizügigkeit den Europäern insgesamt grosse Vorteile, genau so wie bei der Gründung der modernen Schweiz 1848 die Einführung der Niederlassungsfreiheit den Schweizern insgesamt grosse Vorteile brachte. Für die Schweiz stellt sich deshalb vor allem die Frage, wie die Wanderungsgewinne stärker zugunsten der bisherigen Bewohner der Schweiz umverteilt werden können.

Zitiervorschlag: Reiner Eichenberger (2013). Personenfreizügigkeit – theoretisch unschädlich, praktisch unsäglich. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.