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Zuwanderung und Produktivitätsentwicklung

Zuwanderung und Produktivitätsentwicklung

Ergänzt die Zuwanderung den Mix an beruflichen Qualifikationen, der sich auf dem hiesigen Arbeitsmarkt findet, in zweckmässiger Weise, so dass dies Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität verbessert? Oder werden – wie unter dem seinerzeitigen Saisonnierstatut – wenig qualifizierte ­Arbeitskräfte zugezogen und bindet dies einen produktivitäts­fördernden Branchenwandel zurück? Die vorliegende Studie kommt zum Ergebnis, dass sich die Zunahme der beruflichen ­Qualifikation der neu Zugewanderten mit der Personenfreizügigkeit weiter fortgesetzt hat.

Der theoretische Ansatz für die Beleuchtung des Zusammenhangs zwischen Produktivität und Zuwanderung liegt in der sogenannten Wachstumsbuchhaltung und deren Querbezug zur Literatur rund um die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion. Man geht davon aus, dass der Zuwachs der Arbeitsproduktivität durch einen verstärkten Einsatz qualifizierter Arbeit und einen verstärkten Kapitaleinsatz erklärt wird sowie durch die Nutzung technologischer und organisatorischer Fortschritte. Der Produktionszuwachs, der nicht durch den vermehrten Einsatz und die qualitativen Verbesserungen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklärt werden kann, bildet das sogenannte Solow-Residuum. Dieses «Mass der Ignoranz» möglichst klein zu halten, ist das Ziel der Wachstumstheorie. Erreicht wird dies durch eine verbesserte Einsicht in die produktivitätsbestimmenden Faktoren und entsprechend ausgebaute Modelle. Da in der Schweiz Angaben zur Kapitalintensität der Produktion in den einzelnen Branchen noch fehlen, ist das Solow-Residuum in der nachfolgenden Betrachtung besonders gross. Deshalb widmet sich die Untersuchung umso eingehender der beruflichen Qualifikation der Erwerbstätigen als produktivitätssteigernder Faktor und ihre Entwicklung seit Mitte der 1990er-Jahre.

Einfluss von Bildungsniveau, Berufs­erfahrung und Aufenthaltsstatus auf die Produktivität


Der Einfluss der Zuwanderung auf die Produktivität manifestiert sich auf drei Ebenen: Erstens kann man sich fragen, wie sich die produktivitätsfördernde Komponente «höchster erreichter Bildungsabschluss» bei den einzelnen Arten von Aufenthaltern entwickelt hat, und wie es sich zweitens mit der beruflichen Erfahrung (also dem Alter) 
verhält. Schliesslich können bei gegebener Qualifikationsstruktur bei den vier Auf­enthalterkategorien – Grenzgänger, Jahres- 
und Kurzaufenthalter, Niedergelassene und Schweizer – Verschiebungen der Anteile dieser vier Aufenthalterkategorien an der Gesamtbeschäftigung einen Einfluss auf den Indikator der Qualifikation der Erwerbstätigen haben, der auf gesamtwirtschaftlicher Ebene errechnet wird. Eine Zerlegung des Zuwachses des Indikators für die berufliche Qualifikation in diese drei Komponenten zeigt, dass die gut 8% Zuwachs bei diesem Indikator zwischen 1996 bis 2010 zu gut 6% auf einen verbesserten Bildungsabschluss der Erwerbstätigen und zu gut 2% auf die gewachsene Erfahrung im Beruf – d.h. das Alter – zurückgehen. Da diese beiden Komponenten schon quasi die zu erklärenden 8% ergeben, bleiben Veränderungen bei den Anteilen der einzelnen Aufenthalterkategorien an der Gesamtbeschäftigung bei der Erklärung des Zuwachses der beruflichen Qualifikation der Erwerbsbevölkerung zweitrangig.
Die Berechnungen lassen unbeachtet, dass die Zugewanderten mit längerem Aufenthalt in der Schweiz den Aufenthaltsstatus wechseln; andernfalls wären unter den Niedergelassenen zunehmend hier geborene Ausländer («Secondos») ohne schweizerische Staatsbürgerschaft. Solche Bereinigungen sind u.a. wegen der zahllosen Branchenwechsel nicht zu bewerkstelligen. Dieses etwas überraschende Ergebnis ist auf kompensierende Effekte zurückzuführen.
Die Steigerung bei den Niedergelassenen kompensiert die gedämpfte Entwicklung bei den Grenzgängern und die starke Qualifikationsverbesserung bei den Jahres- und Kurzaufenthaltern hebt die Entwicklung bei diesen drei Kategorien zusammen auf jene der Schweizer. Neben dem genauen Ausmass der Verschiebung der Anteile der einzelnen Aufenthalterkategorien am Beschäftigungstotal ist aber auch das Anfangsniveau, von dem die in der Grafik ausgehenden Zuwachsraten ausgehen, wichtig; es wirkt über den Gewichtungsfaktor des Lohnsummenanteils. Wie Grafik 1 zeigt, fällt der Zuwachs des Indikators für die berufliche Qualifikation bei den vier Aufenthalterkategorien unterschiedlich hoch aus.

Zunehmende Einwanderung von ­Hochqualifizierten


Die Grafik lässt den Wandel bei der Qualifikation der neu Zugewanderten klar hervortreten. Die Kategorie, die aus Jahres- und Kurzaufenthaltern gebildet wird, kennt den stärksten Zuwachs der beruflichen Qualifikation. Dieser setzt sich seit 1996 ungebrochen fort, auch nach dem Wirksamwerden der Personenfreizügigkeit. Die bessere Qualifikation der Kurz- und Jahresaufenthalter wirkt sich wegen der Statuswechsel zunehmend auch auf die Qualifikation der Niedergelassenen aus. Einen Knick beim Zuwachs der beruflichen Qualifikation kennen nur die Grenzgänger. Auch gemäss Grenzgängerstatistik des Bundesamtes für Statistik (BFS) fiel der Zuwachs von Hilfsarbeitskräften bei Grenzgängern seit Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit stärker aus als bei den zugewanderten Arbeitskräften, was auf eine schwächere Zunahme der durchschnittlichen Qualifikation hindeutet. Allerdings war die Entwicklung bei Grenzgängern jener von Schweizern über den ganzen Zeitraum sehr ähnlich, was auf andere mögliche Ursachen als die Personenfreizügigkeit hinweist (z.B. Altersaufbau und Erschöpfung des regionalen Angebots bei gewissen Qualifikationen). Wenn man überhaupt auf eine Kausalität zwischen Personenfreizügigkeit und beruf­licher Qualifikation schliessen will, kann man nach dieser Grafik höchstens sagen, dass die Steigerung der beruflichen Qualifikation in der Erwerbsbevölkerung auch unter der Personenfreizügigkeit anhielt.

Eine bessere Qualifikation strahlt auf die Einkommen aus


In der Schweiz folgen die Reallöhne eng der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Soweit die Verbesserung der beruflichen Qualifikation produktivitätssteigernd wirkt, ist sie auch einkommensfördernd. Wie sehr sich für den Einzelnen eine Verbesserung der beruflichen Qualifikation auszahlt, hängt u.a. davon ab, ob ein erweitertes Angebot an bestimmten Qualifikationen auf eine entsprechende Nachfrage trifft. Allerdings ist nicht allein die Zahl der Bewerber mit gleicher Qualifikation massgebend; zu beachten sind auch die indirekten Effekte. Ein idealer Mix der beruflichen Qualifikationen trägt schon in einer statischen Betrachtung zu einem besseren Produktionsergebnis aller Branchenangehörigen bei. Hinzu kommen dynamische Effekte, lassen sich bei einem idealen Mix der Qualifikationen lukrative Geschäftsmöglichkeiten doch rascher und besser erschliessen. Bei freier Zuwanderung ist dieser Mix indessen eher veränderbar und daher leichter der idealen Situation anzunähern.Im Sinne einer ersten weiterführenden Analyse haben wir uns deshalb gefragt, ob der nicht durch den Branchenindikator der beruflichen Qualifikation erklärte Teil des Zuwachses des Produktionsergebnisses in einer Branche (d.h. das Solow-Residuum) mit der Qualifikationsentwicklung bei einzelnen Aufenthalterkategorien in dieser Branche korreliert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in Branchen wie beispielsweise der Chemie- und Pharmabranche, die einen überdurchschnittlichen Zuwachs der Qualifikation der Niedergelassenen aufweisen, das Solow-Residuum besonders hoch ausfällt. Personen, die in zwei Kulturkreisen verankert sind, könnten somit eher Geschäftsmöglichkeiten finden, in denen sich die Pro­duktionsfaktoren wirtschaftlich besonders ertragreich einsetzen lassen.
Dass gerade qualifizierte Niedergelassene überdurchschnittlich kapitalintensive Arbeitsplätze belegen und dass deshalb die Kapitalintensität bei den Niedergelassenen den Einfluss auf das Solow-Residuum erklärt, ist wenig wahrscheinlich, lässt sich aber nicht ausschliessen.

Zuwanderung kann die Exportfähigkeit positiv beeinflussen


Dass Personen aus verschiedenen Kulturkreisen in den einzelnen Branchen unterschiedlich produktiv sind, war auch das Ergebnis einer älteren, vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) veranlassten Studie.
Vgl. Yves Fluckiger, José Ramirez, Joseph Deutsch, Jacques Silber: Inégalité des revenus et ouverture au commerce extérieur, Reihe Strukturberichterstattung des Seco Nr. 15, Juli 2002. Während sich in binnenorientierten Sektoren bei sonst gleichen Qualifikationen Einheimische etwas besser produktiv einbringen können, haben Zugewanderte gegenüber Einheimischen in Exporttätigkeiten ihren komparativen Vorteil. Denkt man an den technischen Fortschritt, ginge es um die raschere Übernahme neuer Technologien und deren Adaption an die lokalen Gegebenheiten; denkt man an organisatorische Fortschritte, wäre vor allem die besonders ertragreiche Nutzung der internationalen Arbeitsteilung zu nennen. Stichworte wären schlagkräftigere Exportabteilungen und kostengünstigerer Einkauf dank kultureller Affinität zum Ziel- resp. Herkunftsland der Güter und Dienstleistungen, aber auch allgemeine kulturelle Offenheit und Veränderungsbereitschaft. Erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeiten mit Migrationshintergrund – von Charles Brown und Walter Boveri bis Nicolas Hayek
Charles Eugene Lancelot Brown, der mit Walter Boveri 1891 die BBC gründete, wuchs in Winterthur auf. Sein Vater war aber vom Giessereibesitzer Johann Jakob Sulzer-Hirzel als Ingenieur aus dem technisch führenden England nach Winterthur berufen worden. Walter Boveri wurde in Bamberg geboren, besuchte die königliche Maschinenbauschule in Nürnberg, wurde nach dem Abschluss 1885 zunächst Volontär und wenig später Montageleiter für elektrische Anlagen bei der Maschinenfabrik Oerlikon, wo er sich 1891 mit Brown zur Gründung der BBC zusammentat. Nicolas Hayek zog 1949 mit 21 Jahren mit seiner Familie aus Beirut in die Schweiz und profilierte sich in der Reorganisation der Uhrenindustrie und durch das globale Marketing eines neuen Sortiments an Uhren. – wären die Illustration für diese Korrelation.

Grafik 1: «Entwicklung des beruflichen Qualifikation nach Aufenthaltsstatus, 1996–2010»

Kasten 1: Methodik

Methodik


Ermittelt wird ein Indikator für die berufliche Qualifikation der Erwerbstätigen für vier Kategorien von Erwerbstätigen nach Aufenthaltsstatus: Schweizer, Niedergelassene, Jahres- und Kurzaufenthalter sowie Grenzgänger. Unterschieden werden sechs Stufen der formalen Bildung: Universitätsabschluss, Fachhochschulabschluss, Matura, Lehre, obligatorische Schule, kein formaler Bildungsabschluss. Als Approximation für die erworbene berufliche Erfahrung unterscheiden wir sechs Altersklassen (15–24, 25–36 usw.). Betrachtet wird die Beschäftigung in privaten Unternehmen aus 33 marktbestimmten Branchen.a

Die Beschäftigung in staatlichen Unternehmen – insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung – bleibt dem hier gewählten Messziel folgend unbeachtet. Die Branchenzuteilung, die Kodierung als staatliches/privates Unternehmen und die Berechnung der Vollzeit-äquivalenten Beschäftigung erfolgen entsprechend der Lohnstrukturerhebung (LSE). Damit erhalten wir ab 1996 alle zwei Jahre eine Beobachtung, zuletzt für 2010. Zur Berechnung des Zuwachses des Indikators für die Qualifikation der Erwerbstätigen im Total werden die Zuwächse bei der Zahl der vollzeitäquivalenten Stellen in den betrachteten 4752 Zellen mit dem Anteil dieser Zellen an der Gesamtlohnsumme gewichtet und so ein Kettenindex errechnet.b

a Gemäss Beschäftigtenzahl Handel, unternehmensbezogene Dienstleistungen, Bau, Gesundheit, Gastgewerbe, Präzisionsinstrumente, Maschinenbau, Chemie, Transport und Lebensmittelindustrie, sowie Steine und Erden, Textil und Bekleidung, Leder und Schuhe, Papier, grafisches Gewerbe, Metallerzeugung, Herstellung elektrischer Geräte, Holz und Möbel, Schmucksteine usw., Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Dienstleistungen für den Transportsektor, Post und Telekommunikation, Immobilienwesen, Informatik, Forschung und Entwicklung, Bildung, Entsorgung, Kultur und Freizeit, persönliche Dienstleistungen.
b Andere Vorstellungen zur gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion, aber auch zum Funktionieren des Arbeitsmarktes (z.B. diskriminierende Lohnsetzung) würden andere Gewichtungsfaktoren nahelegen. Sensibilitätsanalysen zu diesem Punkt sind im Gang.

Zitiervorschlag: Marc Surchat (2013). Zuwanderung und Produktivitätsentwicklung. Die Volkswirtschaft, 01. Juni.