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Fragilität in Nordafrika erschwert die Hilfe durch die Schweiz

Die Schweiz hat ihr Engagement in Nordafrika nach dem Arabischen Frühling beträchtlich verstärkt. Mit der Verabschiedung des Nordafrika-Programms brachte der Bundesrat seine Absicht zum Ausdruck, den Übergangsprozess zur Demokratie in der Region zu unterstützen. ­Tunesien und Ägypten sind zwei Schwerpunktländer des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), das sich dort namentlich auf ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und die Schaffung von ­Arbeitsplätzen konzentriert. ­Diese Tätigkeit findet jedoch in einem sehr spezifischen, fragilen Kontext statt.



Vor dem Arabischen Frühling galten die Länder in dieser Region nicht als fragil. Einzig die Lage in Jemen wurde als kritisch betrachtet, wie dies der letzte Bericht des Development Assistance Committee (DAC) über fragile Staaten festhielt.
Das DAC gehört zur Organisation für wirtschaftliche ­Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Quelle: DAC/OECD, Fragile States 2013: Resource Flows and Trends in a Shifting World, Paris, 2012, S.36. Tunesien hingegen musste in Sachen Stabilität den Vergleich mit Brasilien nicht scheuen und erntete Lob für seine Regierungsführung und seine allgemeine Wirtschaftspolitik.Die Umwälzungen in Tunesien, Ägypten und einem grossen Teil der übrigen arabischen Welt haben uns vor Augen geführt, dass Fragilität ein komplexes Problem ist, dem nur ein multidimensionaler Lösungs­ansatz gerecht wird. Die Unruhen veranschaulichen insbesondere, dass autokratische ­Regimes besonders anfällig sind, wenn sie wirtschaftlich einen mittleren Entwicklungsstand erreichen. Die herkömmlichen Indikatoren zur Gouvernanz reichen hier anscheinend nicht aus. Eine wichtige Rolle spielt das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung. Zu berücksichtigen sind zudem die Verletzlichkeit eines Landes und die Anpassungs­fähigkeit an strukturelle Veränderungen in ­Bereichen wie Bevölkerungsentwicklung, Technologie und Klimawandel.

Die neue Fragilität von Tunesien und Ägypten


Nachdem die Revolutionen in Tunesien die Defizite offenbarten, die in der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung in diesen Diktaturen bestanden, weisen die beiden Länder heute – zwei Jahre nach der Absetzung der geächteten Herrscher – Eigenschaften auf, die eindeutig als Fragilität zu werten sind. Der Transitionsprozess erfordert Veränderungen in allen Bereichen des politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Doch dieser Übergang ist geprägt von Unsicherheiten: Die Arbeiten für die neuen Verfassungen verzögern sich, die Wahltermine werden immer weiter hinausgeschoben, viele Regierungsstrategien sind noch in Bearbeitung, der Aufstieg extremistischer religiöser Gruppen führt zu Spannungen und die Sicherheitslage verschlechtert sich. Die meisten Wirtschaftsindikatoren zeigen nach unten und nähren die Frustration der Bevölkerung, die vergeblich darauf wartet, dass sich ihre Lebensumstände verbessern. Derzeit existiert weder in Ägypten noch in Tunesien eine Strategie für einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise. In Tunesien zieht zwar die Konjunktur wieder an, nachdem es im Anschluss an die Revolution zu einer empfindlichen Verlangsamung gekommen war. Mit einem Wachstum von 2,7% im ersten Quartal 2013 verläuft der Aufschwung aber zögerlich, weshalb längst nicht alle Personen, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, eine Stelle finden.
Zur Deckung der zusätzlichen Nachfrage nach Arbeitsplätzen wäre gemäss Schätzungen ein BIP-Wachstum von mindestens 7% erforderlich (Elyes Jouini, Vizepräsident von Paris Dauphine, anlässlich einer Konferenz zum Zustand der Wirtschaft Tunesiens am 7. Mai 2013 in Tunis) Die Investitionen aus dem In- und Ausland haben einen Tiefpunkt erreicht, das Budgetdefizit nimmt weiter zu, die Inflation bewegt sich im zweistelligen Bereich und die Arbeitslosenquote liegt bei 19%, wobei zu zwei Dritteln unter 30-Jährige und zu einem Drittel Personen mit abgeschlossener Ausbildung betroffen sind. In Ägypten hat die Revolution dem Tourismus geschadet, gleichzeitig sind die Industrieproduktion und die Direktinvestitionen stark geschrumpft. Das Wirtschaftswachstum belief sich 2012 auf 2,2%
Gegenüber 6,7% im Zeitraum 2009–2010. und erreichte im ersten Quartal 2013 lediglich 2,6%. Die schätzungsweise 700 000 Personen, die jährlich neu auf den Arbeitsmarkt kommen, müssen sich 200 000 Stellen teilen. Die Arbeitslosigkeit steigt deshalb stetig und erreichte im ersten Quartal 2013 gemäss offiziellen Quellen 13%.
Inoffizielle Quellen sprechen von deutlich höheren Werten. Trotz Krediten von Ländern wie Katar und Libyen ist das Budgetdefizit substanziell, während das Land auf den Abschluss der Vereinbarung mit dem IWF wartet.

Schleichende Destabilisierung


Symptomatisch ist, dass die Verwaltungen der beiden Länder, die in der Anfangsphase der Revolution ihre Funktionen aufrechterhielten und als Stabilisator wirkten, nun langsam die Motivation verlieren. Gründe dafür sind vielfältig: Viele höhere Führungskräfte wurden willkürlich ersetzt. Die Überarbeitung der Sektorstrategien kommt nicht voran, und allgemein schwindet die Hoffnung auf eine erfolgreiche Transition. Die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung muss dringend neu definiert werden.Hinzu kommen strukturelle Trends, die ebenfalls destabilisierend wirken. So werden in Tunesien und Ägypten aufgrund der Bevölkerungsentwicklung in den nächsten 15 Jahren sehr viele Jugendliche auf den Arbeitsmarkt drängen.
In Tunesien versuchen jedes Jahr 50000 junge ­Erwachsene, in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Beide Länder leiden an Wasserknappheit – ein Problem, das sich mit dem Klimawandel verschärfen wird.
Vgl. Signet Institute, Water Scarcity: Low Levels of ­Natural Water Resources Poses Challenge to Region’s Growth, Kairo, 2013, S. 1–2.

Das Nordafrika-Programm des ­Bundesrates


Das Schweizer Engagement in Nordafrika steht im Zeichen des Arabischen Frühlings und der Unterstützung bei der demokratischen Transition. Der Bundesrat reagierte rasch auf die Revolutionen in Tunesien und Ägypten und verabschiedete am 11. März 2011 das Nordafrika-Programm.
Vgl. http://www.deza.admin.ch, Länder, Nordafrika. In dessen Rahmen beschloss der Bundesrat, das Engagement der Schweiz in dieser Region mittelfristig substanziell auszubauen.
Das Nordafrika-Programm schliesst auch Marokko und Libyen mit ein. Die Aktivitäten des Seco konzen­trieren sich aber auf die zwei Schwerpunktländer ­Tunesien und Ägypten. Das Programm sieht drei Schwerpunktbereiche vor:

  • Übergang zur Demokratie: Ziel ist die Schaffung transparenter, partizipativer, rechtsstaatlicher Strukturen. Beispiele sind die Unterstützung bei der Organisation von Wahlen oder die Stärkung der Medien.
  • Wirtschaftliche Entwicklung: Hier geht es um die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere durch verbesserte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Förderung des Unternehmertums und der Arbeitsmarktfähigkeit von Jugendlichen sowie eine verbesserte Basisinfrastruktur.
  • Migration und Schutz: Eine nachhaltige Migrationsstrategie soll insbesondere die Rückkehr und Wiedereingliederung von Migranten gewährleisten und einen stärkeren Einbezug der im Ausland lebenden Staatsangehörigen (Diaspora) in die Wirtschaftsentwicklung des Landes ermöglichen.
  • An der Umsetzung des Nordafrika-Programms sind drei Departemente beteiligt: das WBF (Seco), das EDA (Politische Direktion, Direktion für Völkerrecht, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) und das EJPD (Bundesamt für Migration). Diese gehen koordiniert, kohärent und komplementär (3K)
    Vgl. 3C Conference Report, 3C Roadmap (Coherence, ­Coordination and Complementarity), Genf, 2009. vor und orientieren sich an Grundsätzen, die in einem fragilen Umfeld besonders wichtig sind:
  • Partnerschaftlicher Ansatz: Die Projektvorschläge werden immer in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden und Partnern erarbeitet.
  • Relevanz: Das Engagement der Schweiz soll zur Bewältigung prioritärer Herausforderungen durch innovative Programme beitragen, die einen echten Mehrwert bringen.
  • Komplementarität (Whole of Government Approach): Die am Nordafrika-Programm beteiligten Bundesämter sprechen sich systematisch ab und suchen konsequent nach Synergien mit ihren eigenen Aktivitäten in der Region.
  • Von kurz- zu längerfristigen Zielen: Die Programme sollen kurzfristig Ergebnisse zeigen und dringliche Bedürfnisse decken, aber auch langfristige, nachhaltige Wirkungen erzielen.
  • Koordination: Die Programmtätigkeit wird systematisch auf eine gute Koordination und mögliche Synergien mit den Aktivitäten der Behörden und anderer Geldgeber und Organisationen ausgerichtet.
  • Schadensvermeidung: Das Prinzip des «Do no harm» ist eine Mindestanforderung für alle Programme.

Das Seco in Tunesien und Ägypten: Unsicherheiten berücksichtigen


Sowohl auf Programmebene als auch für die Umsetzung berücksichtigt das Seco in den Strategien 2013–2016 für Tunesien und Ägypten
Vgl. http://www.seco-cooperation.admin.ch, Länder, Länderstrategie Tunesien 2013–2016; Länderstrategie Ägypten 2013–2016. die besonderen Umstände, die sich aus dem fragilen Zustand der Länder ergeben. Die Strategien beachten insbesondere die für diesen Fall festgelegten Prinzipien (siehe Kasten 1

Prinzipien für ein Engagement in fragilen Staaten und Situationen:
Die Fälle Tunesien und Ägypten


Den Kontext als Ausgangspunkt nehmen. Alle Projekte werden auf der Grundlage von Sondierungseinsätzen im Land ausgearbeitet. Während dieser Einsätze werden Gespräche sowohl mit den nationalen und lokalen Behörden als auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und des Privatsektors sowie mit andern im Land tätigen Geldgebern geführt. Mit Werkzeugen wie dem Monitoring, Evaluating, Reporting and Verifying (Merv) finden vor Ort regelmässig Überprüfungen des Kontexts für das gesamte Portefeuille an Aktivitäten statt.

Schaden vermeiden. Für alle Aktivitäten gilt der Grundsatz, dass sie keine unbeabsichtigten nachteiligen Auswirkungen auf die Begünstigten der Projekte haben dürfen. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse sowohl des nationalen als auch des lokalen Umfelds.

Die Staatsbildung als zentrales Ziel betrachten. Die meisten Programme beinhalten einen politischen Dialog, die Unterstützung von Reformen und einen Kapazitätsaufbau. Eine der Stossrichtungen des Seco in Tunesien und Ägypten besteht darin, die wirtschaftliche Gouvernanz durch geeignete finanz- und wirtschaftspolitische Strategien zu stärken.

Der Prävention den Vorrang geben. Bei allen Programmen liegt der Schwerpunkt auf partizipativen Ansätzen und einem Kapazitätsaufbau bei den lokalen Akteuren, um die tieferen Ursachen der Fragilität bekämpfen zu können. Wenn die Programme nicht landesweit durchgeführt werden, konzentrieren sie sich auf die am stärksten benachteiligten Regionen (siehe weiter unten: Ausgrenzung vermeiden).

Die Zusammenhänge zwischen Politik-, Sicherheits- und Entwicklungszielen erkennen. Die Schweiz ist sich bewusst, dass Tunesien und Ägypten vor sehr vielfältigen Herausforderungen stehen. Deshalb sind die Aktivitäten des Seco Bestandteil eines Engagements, das sich auf die ganze Bundesverwaltung erstreckt und Massnahmen in den Bereichen Menschenrechte, Wirtschaftsentwicklung und Migration beinhaltet.

Nichtdiskriminierung als Basis für inklusive und stabile Gesellschaften fördern. Ein besonderes Augenmerk gilt bei allen Programmen und während der gesamten Umsetzung der Projekte der Partizipation der Frauen. In Tunesien unterstützt das Projekt zur Stärkung der Wertschöpfungskette für Landwirtschaftserzeugnisse und andere lokale Produkte insbesondere die Gründung von Produzentinnenvereinigungen. In Ägypten soll ein Projekt dazu beitragen, die gesamte Wertschöpfungskette von Medizinal- und Aromapflanzen weiterzuentwickeln und zu unterstützen. Ziel des Projekts ist es, die Qualität entlang der gesamten Kette von den Bauern über die Verarbeitungsbetriebe bis zu den Exporteuren auf den Stand der internationalen Normen zu bringen und einen Mehrwert zu schaffen, der den Marktzugang erleichtert.

Lokale Prioritäten je nach Kontext unterschiedlich berücksichtigen. Aktuell werden zahlreiche Sektorstrategien überarbeitet. Ein regelmässiger Austausch mit den lokalen Partnern stellt sicher, dass die Programme relevant sind, indem sie auf die Prioritäten der Empfänger ausgerichtet und nur auf deren Wunsch durchgeführt werden. In Tunesien und Ägypten kommt eine breite Palette von Instrumenten zum Einsatz, sowohl auf multilateraler Ebene (Programmansatz, Kofinanzierung und Beteiligung an Regionalfonds mit teilweise mehreren Geldgebern) als auch auf bilateraler Ebene.

Konkrete Koordinationsmechanismen zwischen internationalen Akteuren vereinbaren: In Tunesien nehmen die Behörden ihre Koordinationsaufgabe noch zu wenig wahr. Die Schweiz präsidiert gemeinsam mit der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (Unido) eine Plattform von Geldgebern, die in der wirtschaftlichen Entwicklung und der Schaffung von Arbeitsplätzen aktiv sind. Sie sucht den Dialog mit den Behörden, um deren Rolle in diesen Bereichen zu stärken. In Ägypten koordiniert die Development Partners Group, die gemeinsam vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und der Schweiz präsidiert wird, erfolgreich die Aktivitäten der Geldgeber und die Beziehungen zwischen dieser Gruppe und den betroffenen ägyptischen Ministerien.Schnell handeln – und lange genug engagiert bleiben, damit sich Erfolge einstellen können. Die Schweiz reagierte rasch auf die Ereignisse in der Region, indem sie das Nordafrika-Programm anpasste und Instrumente der humanitären Hilfe einsetzte. Der Wille zu einem längerfristigen Engagement kommt darin zum Ausdruck, dass Tunesien seit 2013 ebenso wie Ägypten zu den Schwerpunktländern des Seco zählt. Entsprechend wurden für 2013–2016 neue Strategien für Tunesien und Ägypten ausgearbeitet.

Ausgrenzung vermeiden. Programme, die nicht das ganze Land abdecken, legen den Fokus auf besonders benachteiligte Regionen (in Tunesien Kasserine, Medenine, Le Kef, Sidi Bouzid; in Ägypten Oberägypten, besonders bedürftige Regionen im Delta, Sinai). Ein solcher Ansatz fördert eine ausgewogene Entwicklung.

Quelle: DAC/OECD, Prinzipien für ein internationales ­Engagement in fragilen Staaten und Situationen, April 2007, http://www.oecd.org/dac/incaf

).

Umsetzung in Etappen


Auf Programmebene sind die Aktivitäten des Seco in Ägypten Bestandteil eines Whole of Government Approach, der alle Verwaltungsbereiche einbezieht. Dies äussert sich darin, dass Koordinationssitzungen mit den Vertretern aller am Nordafrika-Programm beteiligten Bundesämter stattfinden. Hinzu kommen regelmässige informelle Treffen mit den Programmbeauftragten der verschiedenen Ämter, um Synergien auszumachen und Doppelspurigkeiten sehr früh im Programmzyklus zu vermeiden. Vor Ort wird das Programm des Seco durch eigene Mitarbeitende umgesetzt, die auch für die wirtschaftlichen Entwicklungsprogramme der Deza zuständig sind. In den Strukturen sind jeweils mehrere Ämter vertreten.Die Länderstrategien 2013–2016 für Tunesien und Ägypten halten eindeutig fest: Aufgrund der unsicheren Entwicklung in den kommenden Jahren setzt das Seco sein Programm in Etappen um. In einer Vorbereitungsphase, die bis Ende 2013 dauert, kommt ein vorsichtiger Ansatz zur Anwendung. Bei der Auswahl der Projekte und Programme wird auf einen optimalen Umsetzungszeitraum und Ausstiegsmöglichkeiten bei gravierenden Schwierigkeiten geachtet. Falls sich die politische Lage im Land günstig entwickelt, können die Aktivitäten entsprechend ausgebaut werden. Dieses Vorgehen erlaubt es, Unsicherheitsfaktoren zu berücksichtigen, welche die langfristige strategische Ausrichtung erschweren. In beiden Ländern zeichnen sich Regierungswechsel ab, und es ist nicht sicher, ob die eingegangenen Verpflichtungen noch gültig sind, wenn die neuen Kräfte an die Macht kommen. Deshalb wird der Einsatz von Instrumenten wie der allgemeinen Budgethilfe als verfrüht erachtet, da sie häufig auf mehrere Jahre hinaus Mittel zur Unterstützung von Wirtschaftsreformen gewähren. Stattdessen erhalten an­dere Hilfsmassnahmen den Vorzug, die ­begrenzter und sektorspezifischer sind, beispielsweise Unterstützung für Wertschöpfungsketten und die Verbesserung der Basisinfrastruktur mit zweiteiligen Programmen. In Tunesien zum Beispiel ist für das Programm zur Unterstützung des Marktzugangs für Landwirtschaftserzeugnisse und andere lokale Produkte (Pampat), das die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (Unido) mit der Finanzierung des Seco durchführt, Ende 2014 eine Evaluation vorgesehen. Sie wird darüber entscheiden, ob das Programm 2015–2016 weitergeführt wird.

Operative Fragilität einbeziehen


Ausser auf die Wahl der operativen Instrumente hat die mit dem Transitionsprozess einhergehende Fragilität verschiedene weitere Auswirkungen. Einerseits ist mit politischer Instabilität und wechselnden Partnern zu rechnen. In Tunesien wurden Fortschritte bei den Projekten seit Dezember 2012 – zum Beispiel die Aushandlung von Programmabkommen mit den Behörden – durch die Ankündigung gebremst, dass das Ministerium umstrukturiert werde, was aber schliesslich erst im März 2013 der Fall war. Nach zahlreichen Wechseln in der höheren Verwaltung müssen zudem die Diskussionen über die Projekte nochmals mit neuen Gesprächspartnern geführt werden. Dasselbe gilt für Ägypten: Zahlreiche Partnerwechsel auf Regierungsebene führten dazu, dass sich die Ratifizierung eines Rahmenabkommens für die Zusammenarbeit zwischen Ägypten und der Schweiz sowie die Unterzeichnung verschiedener Projektvereinbarungen verzögerten. Gleichzeitig sind viele wichtige Entscheidungen ausstehend. Das ganze Land wartet auf die Parlamentswahlen, die mehrmals verschoben wurden und nun für das letzte Quartal 2013 angekündigt sind. Die Projektplanung muss diesen Aspekten Rechnung tragen, da sie eine langsamere Umsetzung zur Folge haben.Auch die Unsicherheit nimmt zu. In Tunesien und Ägypten verschlechtert sich die ­Sicherheitslage mit gewaltsamen Demonstrationen, Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften und dem Aufstieg extremistischer Bewegungen. Gewisse Programme sind von diesen Problemen besonders betroffen, etwa der Bau von Infrastruktur. Feldeinsätze sind manchmal aus Sicherheitsgründen untersagt. Dies bremst das Vorankommen der Projekte. Zudem müssen die erstellten Einrichtungen auch geschützt werden. Partizipative Ansätze, Information und Kommunikation sind unabdingbar, um die Übernahme durch die lokalen Partner zu gewährleisten und die Gefahr von Sachbeschädigungen zu verringern. Programme im Tourismussektor sind ebenfalls besonders exponiert: Die Wahl der Region, die Etappenaufteilung der Programme und die Planung der Aktivitäten – zum Beispiel durch eine Stärkung der Kapazitäten, von der auch lokale Akteure in anderen Sektoren profitieren – wollen gut überlegt sein.Das Konfliktpotenzial ist hoch. Die Frustrationen, die den Arabischen Frühling auslösten, sind nicht verschwunden, sondern intensivieren sich eher noch. Die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft, öffentlichem Sektor und Privatwirtschaft sind angespannt. In dieser Lage gilt es, keine falschen Hoffnungen zu wecken. Eine enge Zusammenarbeit mit den lokalen Akteuren stellt die Eigenverantwortung der Hilfsempfänger für die Ziele der Projekte bereits in einer sehr frühen Phase sicher. Beispiele dafür sind die Schaffung der Plattform der Tourismusakteure im Rahmen der DMO
Destination-Management-Organisation. Tourismus, die derzeit in Tunesien entwickelt wird, oder die Planung eines Projekts zur Unterstützung für junge Arbeitslose in Oberägypten in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden und Nichtregierungsorganisationen. Allgemein ist es wichtig, alle beteiligten Parteien und potenziellen Konfliktquellen zu identifizieren und die Wahl der Methodik auf diese abzustimmen.

Lernprozess für alle Beteiligten


Die aktuelle Transition in Nordafrika stellt die Entwicklungsakteure vor neuartige Herausforderungen. Die Werkzeuge, die im Rahmen der Erfahrungen in anderen fragilen Staaten entwickelt wurden, sind zwar nützlich. Wichtig ist jedoch, die aktuellen Entwicklungen als Lernprozess zu verstehen, aus dem alle Beteiligten ihre Lehren ziehen müssen.

Kasten 1: Prinzipien für ein Engagement in fragilen Staaten und Situationen:
Die Fälle Tunesien und Ägypten

Prinzipien für ein Engagement in fragilen Staaten und Situationen:
Die Fälle Tunesien und Ägypten


Den Kontext als Ausgangspunkt nehmen. Alle Projekte werden auf der Grundlage von Sondierungseinsätzen im Land ausgearbeitet. Während dieser Einsätze werden Gespräche sowohl mit den nationalen und lokalen Behörden als auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und des Privatsektors sowie mit andern im Land tätigen Geldgebern geführt. Mit Werkzeugen wie dem Monitoring, Evaluating, Reporting and Verifying (Merv) finden vor Ort regelmässig Überprüfungen des Kontexts für das gesamte Portefeuille an Aktivitäten statt.

Schaden vermeiden. Für alle Aktivitäten gilt der Grundsatz, dass sie keine unbeabsichtigten nachteiligen Auswirkungen auf die Begünstigten der Projekte haben dürfen. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse sowohl des nationalen als auch des lokalen Umfelds.

Die Staatsbildung als zentrales Ziel betrachten. Die meisten Programme beinhalten einen politischen Dialog, die Unterstützung von Reformen und einen Kapazitätsaufbau. Eine der Stossrichtungen des Seco in Tunesien und Ägypten besteht darin, die wirtschaftliche Gouvernanz durch geeignete finanz- und wirtschaftspolitische Strategien zu stärken.

Der Prävention den Vorrang geben. Bei allen Programmen liegt der Schwerpunkt auf partizipativen Ansätzen und einem Kapazitätsaufbau bei den lokalen Akteuren, um die tieferen Ursachen der Fragilität bekämpfen zu können. Wenn die Programme nicht landesweit durchgeführt werden, konzentrieren sie sich auf die am stärksten benachteiligten Regionen (siehe weiter unten: Ausgrenzung vermeiden).

Die Zusammenhänge zwischen Politik-, Sicherheits- und Entwicklungszielen erkennen. Die Schweiz ist sich bewusst, dass Tunesien und Ägypten vor sehr vielfältigen Herausforderungen stehen. Deshalb sind die Aktivitäten des Seco Bestandteil eines Engagements, das sich auf die ganze Bundesverwaltung erstreckt und Massnahmen in den Bereichen Menschenrechte, Wirtschaftsentwicklung und Migration beinhaltet.

Nichtdiskriminierung als Basis für inklusive und stabile Gesellschaften fördern. Ein besonderes Augenmerk gilt bei allen Programmen und während der gesamten Umsetzung der Projekte der Partizipation der Frauen. In Tunesien unterstützt das Projekt zur Stärkung der Wertschöpfungskette für Landwirtschaftserzeugnisse und andere lokale Produkte insbesondere die Gründung von Produzentinnenvereinigungen. In Ägypten soll ein Projekt dazu beitragen, die gesamte Wertschöpfungskette von Medizinal- und Aromapflanzen weiterzuentwickeln und zu unterstützen. Ziel des Projekts ist es, die Qualität entlang der gesamten Kette von den Bauern über die Verarbeitungsbetriebe bis zu den Exporteuren auf den Stand der internationalen Normen zu bringen und einen Mehrwert zu schaffen, der den Marktzugang erleichtert.

Lokale Prioritäten je nach Kontext unterschiedlich berücksichtigen. Aktuell werden zahlreiche Sektorstrategien überarbeitet. Ein regelmässiger Austausch mit den lokalen Partnern stellt sicher, dass die Programme relevant sind, indem sie auf die Prioritäten der Empfänger ausgerichtet und nur auf deren Wunsch durchgeführt werden. In Tunesien und Ägypten kommt eine breite Palette von Instrumenten zum Einsatz, sowohl auf multilateraler Ebene (Programmansatz, Kofinanzierung und Beteiligung an Regionalfonds mit teilweise mehreren Geldgebern) als auch auf bilateraler Ebene.

Konkrete Koordinationsmechanismen zwischen internationalen Akteuren vereinbaren: In Tunesien nehmen die Behörden ihre Koordinationsaufgabe noch zu wenig wahr. Die Schweiz präsidiert gemeinsam mit der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (Unido) eine Plattform von Geldgebern, die in der wirtschaftlichen Entwicklung und der Schaffung von Arbeitsplätzen aktiv sind. Sie sucht den Dialog mit den Behörden, um deren Rolle in diesen Bereichen zu stärken. In Ägypten koordiniert die Development Partners Group, die gemeinsam vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und der Schweiz präsidiert wird, erfolgreich die Aktivitäten der Geldgeber und die Beziehungen zwischen dieser Gruppe und den betroffenen ägyptischen Ministerien.Schnell handeln – und lange genug engagiert bleiben, damit sich Erfolge einstellen können. Die Schweiz reagierte rasch auf die Ereignisse in der Region, indem sie das Nordafrika-Programm anpasste und Instrumente der humanitären Hilfe einsetzte. Der Wille zu einem längerfristigen Engagement kommt darin zum Ausdruck, dass Tunesien seit 2013 ebenso wie Ägypten zu den Schwerpunktländern des Seco zählt. Entsprechend wurden für 2013–2016 neue Strategien für Tunesien und Ägypten ausgearbeitet.

Ausgrenzung vermeiden. Programme, die nicht das ganze Land abdecken, legen den Fokus auf besonders benachteiligte Regionen (in Tunesien Kasserine, Medenine, Le Kef, Sidi Bouzid; in Ägypten Oberägypten, besonders bedürftige Regionen im Delta, Sinai). Ein solcher Ansatz fördert eine ausgewogene Entwicklung.

Quelle: DAC/OECD, Prinzipien für ein internationales ­Engagement in fragilen Staaten und Situationen, April 2007, http://www.oecd.org/dac/incaf

Kasten 2: Fakten und Zahlen zur Strategie des Seco in Tunesien

Fakten und Zahlen zur Strategie des Seco in Tunesien


Die Strategie 2013–2016 des Seco für Tunesien soll das Wachstum stimulieren und Arbeitsplätze schaffen. Dabei werden drei Stossrichtungen verfolgt:

  • Stärkung der wirtschaftlichen Gouvernanz durch geeignete finanz- und wirtschaftspolitische Strategien;
  • Förderung des Privatsektors, der Wettbewerbsfähigkeit und der Schaffung von Arbeitsplätzen;
  • Wirtschaftliche Entwicklung und nachhaltige Nutzung der Ressourcen durch bessere Basisinfrastrukturen.


Diese drei Ziele nehmen jeweils 35%, 30% und 35% der für den gesamten Zeitraum verfügbaren 85 Mio. Franken in Anspruch.

Beispiele für Programme und Projekte:

  • Kapazitätsaufbau in der Zentralbank von Tunesien, insbesondere in den Bereichen Analyse und Umsetzung der Geldpolitik, Finanzmärkte und Finanzstabilität sowie Aufsicht und Reglementierung des Bankensektors (Bilateral Assistance and Capacity Building Program for Central Banks).
  • Verbesserung des Investitionsklimas in Tunesien durch eine Vereinfachung der administrativen Abläufe und Revisionen der Wettbewerbsgesetze sowie der Investitionsvorschriften 
(Tunisia Investment Climate Program).
  • Verbesserter Marktzugang für Landwirtschaftserzeugnisse und andere lokale Produkte. Das Projekt ist sowohl auf die nationalen Märkte als auch auf den Export ausgerichtet und berücksichtigt die sozioökonomischen Bedingungen der Beteiligten von den Produzenten bis zu den Exporteuren im Rahmen dreier Wertschöpfungsketten in drei benachteiligten Regionen Tunesiens (Harissa-Gewürzpaste, Djebba-Feige und Kaktusfeige).
  • Bau von zwei Abwasserreinigungsanlagen in Thala und Feriana (im Gouvernorat Kasserine). Die Bevölkerung dieser beiden Städte wird an ein Abwasserreinigungssystem angeschlossen, was die wirtschaftliche Attraktivität der Region erhöhen wird.


Kasten 3: Fakten und Zahlen zur Strategie des Seco in Ägypten

Fakten und Zahlen zur Strategie des Seco in Ägypten


In Ägypten verfolgt das Seco mit seiner wirtschaftlichen Zusammenarbeit drei Hauptziele:

  • Förderung der Beschäftigung durch eine Stärkung des Handels und Verbesserungen im Geschäftsumfeld der KMU;
  • Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Widerstandskraft durch die Unterstützung der Reformen im Bereich der öffentlichen Finanzen und den Abbau der finanzpolitischen Risiken;
  • Unterstützung beim Aufbau einer umweltverträglichen Basisinfrastruktur in (potenziell) Bereichen: Wasserversorgung, Abwasserbehandlung, Abfallentsorgung, erneuerbare Energien und Energieeffizienz, nachhaltige Stadtentwicklung.


Diese drei Ziele nehmen jeweils 30%, 10% und 60% der für den gesamten Zeitraum verfügbaren 70 Mio. Franken in Anspruch.

Beispiele für Programme und Projekte:

  • Entwicklung und Unterstützung der gesamten Wertschöpfungskette im Sektor Medizinal- und Aromapflanzen. Das Projekt verfolgt das Ziel, in Landwirtschafts-, Verarbeitungs- und Exportbetrieben die Qualität der Produktion auf den internationalen Stand zu bringen und die Wertschöpfung zu steigern, um den Marktzugang zu erleichtern.
  • Einführung der Wirtschaftsmediation in Ägypten, um Konflikte rascher und günstiger zu lösen und so das Geschäftsklima zu verbessern (Alternative Dispute Resolution Program).
  • Stärkung der Kapazitäten im Bereich des Schuldenmanagements, Beitrag an stabile öffentliche Finanzen und Verbesserung der makroökonomischen Stabilität (Debt Management and Financial Analysis System).
  • Beteiligung an einem Projekt für den Bau von Abwasserreinigungsanlagen und Abwassersystemen in drei Provinzen im Nil-Delta. Gleichzeitig ist ein Pilotprojekt geplant für den Bau innovativer Abwasserreinigungssysteme in Partnerschaft mit der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag).

Zitiervorschlag: Danielle Meuwly Monteleone, Benjamin Frey, (2013). Fragilität in Nordafrika erschwert die Hilfe durch die Schweiz. Die Volkswirtschaft, 01. Juli.